Gesellschaft | INTERVIEW

„Dickpics gehören ins Museum!“

Ein Videobeitrag über Sexismus rüttelt Millionen Zuschauer auf. Anna Heiss über „Männerwelten“, #metoo, Gewalt an Frauen und was FeministInnen fordern.
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Foto: Foto: Arno Dejaco

„Männerwelten“ – Eine Ausstellung bestehend aus einer Galerie von Penisfotos, die Frauen unverlangt zugeschickt werden, beleidigenden Kommentaren aus dem Internet, respektlosen Sprüchen auf der Straße, ekligen Chatverläufen und Outfits, die Frauen trugen, als sie vergewaltigt wurden.

Die Moderatoren Joko und Klaas hatten 15 Fernsehminuten auf dem Sender Pro7 zur freien Verfügung und übergaben an die Autorin Sophie Passmann, die durch die fiktive Ausstellung führte. Neben viel Lob, gab es auch Kritik: People of Color, Transsexuellen, Intersexuellen und Menschen mit Behinderung wurde (fast) keine Stimme gegeben.

Die Theatermacherin und Feministin Anna Heiss spricht über den Aufklärungswert des Videos, sexuellen Übergriffen, Gewalt an Frauen, Gleichberechtigung in Corona-Zeiten und was die Südtiroler*innen besonders beschäftigt.

salto.bz: Der Beitrag „Männerwelten“ von Joko und Klaas ging vorige Woche viral und rief tiefe Erschütterung hervor. Das Video wurde als „bemerkenswert“, „hat Aufklärungswert“ und „Pflichtprogramm“ bezeichnet. Wie findest du das Video?

Anna Heiss: Wenn Frau Passmann und Frau Rojinski sich zusammentun und das Mikrofon an sich reißen, dann ist ihnen meine Aufmerksamkeit sicher. Die Schnörkellosigkeit, die Direktheit, die gebotene Härte, der Witz – genial! Ein Museum von Dickpicks – Amen, Schwestern! Der geniale Kniff war das Themenspektrum Sexismus aufzugreifen, zu verhandeln und durch das Design zugleich zu musealisieren. Dickpics gehören ins Museum! Nicht als besonders schöne Ausstellungsstücke, sondern als Zeugen einer vergangenen Zeit. Margarete Stokowski spricht von den „letzten Tagen des Patriarchats“. Sind wir am Ende des Patriarchats? Oh nein! Aber wir müssen das so lange so formulieren, für passé erklären, bis wir es überwunden haben.

Sind die Reaktionen auf das Video nicht ebenso schockierend wie der Inhalt des Beitrags?

Ja, das sind sie! Ich muss den Salto Leser*innen ja nichts über Filterblasen und Echokammern erzählen. Mit unserer Arbeit um Aufklärung, Feminismus und Political Correctness speisen wir oft nur die, die eh so denken wie wir. Das Video hat die Bubble zum Sprengen gebracht, weil es auf dem Sender Pro7 ausgestrahlt worden ist.

Was das Video geschafft hat, ist sexuellen Missbrauch spürbar zu machen.

Die Informationen des Beitrags sind weder neu noch unbekannt. Warum hat plötzlich ein Video wie „Männerwelten“ das Potenzial so vielen Menschen die Augen zu öffnen?

#metoo und andere Sensibilisierungskampagnen haben Dinge aufgedeckt, zur Sprache und medial viel ins Rollen gebracht. Was das Video geschafft hat, ist sexuellen Missbrauch spürbar zu machen. Die Gewalt der Täter auf der Einen-, die Angst, die Wut, das Gefühl von Ausgeliefert-Sein, die Sprachlosigkeit der Opfer auf der anderen Seite, haben sie durch das Skript, die Bildsprache, das Licht haptisch gemacht. Das ging so unter die Haut! Zugleich ist es den Macherinnen gelungen die Opfer nicht vorzuführen. Wie oft sehen wir in Kampagnen gegen sexuelle Gewalt Bilder von Frauen, die verängstigt in einer Ecke kauern, mit Mariengesicht in die Kamera blicken … Hier ist die Würde der Opfer gewahrt und sie zeigen selbstbewusst Gesicht, haben selber die Hoheit über ihre Geschichte.

Joko und Klaas haben in der Primetime auf Pro7 auf Sexismus aufmerksam gemacht. Auf dem selben Sender wird Heidi Klums Show „Germanys Next Topmodel“ ausgestrahlt. Wie passt das zusammen?

Das passt insofern zusammen, als das Joko und Klaas Parasiten sind. Die nehmen sich die Diskurse, die grad en vogue sind, Hauptsache Reichweite. In einem Zeit-Essay ist beschrieben wie die Beiden sich noch vor acht Jahren gegenseitig in ihrer Show herausgefordert haben Frauen ungefragt auf die Brüste zu fassen. Das lass ich Mal so stehen.

Sind sexuelle Übergriffe und Akte sexualisierter Gewalt weniger geworden? Wir wissen es nicht.

Also waren die Beiden nicht immer die "Guten"?

Die Beiden haben maßgeblich ein machistisches Narrativ befüttert und tun es weiterhin. Die Beiden geben seit ich-weiß-nicht-wie-vielen Jahren die gealterten Klassenclowns, machen die Männerfreundschaft zur zentralen Seins-Form unserer Gesellschaft und schmücken sich mit schönen Frauen. Erinnerst du dich an ihre erste Sendung auf MTV? Rojinski durfte zwischen den Szenen ein bissl sexy tanzen, das war’s! Sprechen oder mit den Jungs in zur Mancave (Anmerkung: ein Rückzugsort für Männer, ausgestattet mit "männertypischen" Gegenständen) umgebauten Studio auf dem Sofa sitzen und Labern war nicht vorgesehen. Das ist die Normalität mit der eine ganze Generation aufgewachsen ist. „Männerwelten“ ist genial, ja. Kann es so viel gut machen, wie Joko und Klaas durch ihre toxische Männlichkeit kaputt gemacht haben? Ne, bestimmt nicht. Und – wie du sagst – die Nähe zu „Germanys Next Topmodel“ ist nicht außer Acht zu lassen: Dieser Sender hat seine Jungsformate: Zwei Burschen, die sich gegenseitig weh tun und Pornotitel vorlesen und dabei laut lachen und das Mädchenformat: Mädchen, die sich fürs männliche Auge hochpolieren lassen und sich gegenseitig fertig machen. Das ist die Leitkultur mit der Menschen konfrontiert sind.

 

Wobei schauen die Menschen überhaupt noch Fern?

Menschen schauen Fern, auch wenn das Fernsehen oft als tot erklärt wird! Ja, wir in der linken Blase sehen gerne die politisch korrekten Serien auf Netflix und Co, aber ganz viele Menschen sehen sich lieber das an, was ihr Sender des Vertrauens ihnen eben bietet. Weil sie’s so kennen, weil sie müde sind nach der Arbeit, weil ihnen die 15€ Netflix-Abo jeden Monat zu viel sind, weil ihnen neue Formate zu abgehoben sind. Der Impact des Fernsehens ist auch 2020 nicht zu unterschätzen.

Im Video werden sexuelle Übergriffe thematisiert (verbal, physisch, im Internet und realen Leben). 2017 machte bereits die Bewegung #metoo auf sexuelle Belästigung und Übergriffe aufmerksam. Hat sich seitdem was verändert? 

Hunderte Männer wurden wegen Sexual Misconduct verurteilt und wären es nicht geworden, wenn diese Sensibilisierungsarbeit nicht geleistet worden wäre. Das Problemfeld hat sich erst Mal in der Unterhaltungsindustrie gestellt. Das finde ich einen super Ausgangspunkt, weil das die Industrie ist, die die Narrative bereitstellt, nach denen wir leben. Zur Wahrnehmung der Bedrohung in seiner ganzen Tragweite hat #metoo sehr beigetragen. Sind sexuelle Übergriffe und Akte sexualisierter Gewalt weniger geworden? Wir wissen es nicht. Ich spreche mit jungen Frauen und sie erzählen mir, dass die Türsteher nicht einschreiten, wenn ihnen in der Brixner Disco Männer ungefragt an den Arsch fassen. Wenn ich diese Berichte höre, glaube ich wir haben gar nichts erreicht. Jeder Schritt, jeder Hashtag, jede Kampagne in Richtung Abbau von Gewalt ist jedenfalls zu unterstützen.

Die Scham von der Gewaltopfer berichten ist grenzenlos. 

Alle 72 Stunden passiert in Italien ein Frauenmord, jede dritte Frau erlebt in ihrem Leben Gewalt. Warum wird trotz allem Gewalt gegen Frauen oft noch als privates Problem betrachtet, statt als strukturelles Phänomen?

Scham ist ein wichtiges Schlagwort. Die Scham von der Gewaltopfer berichten ist grenzenlos. Sie hindert sie daran die Täter anzuklagen und verhindert letztlich Sichtbarkeit.

Mord aus Leidenschaft: Über das Narrativ kommen wir einfach nicht hinweg. Gewalt wird mit Liebe gleichgesetzt und miteinander verwechselt – ständig.

Biologismus und die apologetische Haltung, die Männern entgegengebracht wird: Unter der fadenscheinigen Erklärung Männer hätten nun Mal mehr Testosteron wird ihnen so viel Gewalt im Allgemeinen und sexualisierter Gewalt im Speziellen eingeräumt. Besteht ein Zusammenhang zwischen Hormonhaushalt und Gewaltbereitschaft? Fließt in Cis-Männern (Anmerkung: Cisgender bezeichnet Menschen, deren Geschlechtsidentität mit dem körperlichen Geschlecht übereinstimmt) wirklich dieses böse Gift, das sie zum Hulk werden lässt? Ich weiß es nicht! Es ist mir auch egal! Wir sind soziale Wesen! Keine Biologie entschuldigt irgendeinen Gewaltakt, aber das Narrativ reduziert sexualisierte Gewalt immer wieder auf eine unumstößliche Tatsache.

Und dann natürlich das Recht! Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1976 in Italien verboten. Das sind keine zwei Generationen. Bis 1981 war „gekränkte Ehre“ juristisch noch Mordmotiv. Aber es geht da schon was weiter: 2013 hat Italien als eines der ersten Länder die Istanbul-Konvention des Europarats ratifiziert. ("Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt"). Ob das reicht ein kulturell so tief verwurzeltes – ich nenn es Mal milde - „Problem“ zu beseitigen?

Wissen wir erst seit jetzt, dass Frauen für die gleiche Arbeit weniger verdienen? Nein!!

Die Corona-Krise wird als Rückschlag für die Gleichberechtigung wahrgenommen. Frauen sind durch Homeschooling und Home-Office doppelt belastet, während im Krisenmanagement fast nur Männer sichtbar sind. Werden durch die Folgen der Pandemie Frauen in alte Rollenbilder zurückgedrängt?

Na klar! Ich weiß nicht mehr, wer das so schön gesagt hat: Die Krise bringt die gesellschaftlichen Schieflagen ans Tageslicht, die mehr oder weniger latent schon immer da sind. Ist es eine Neuigkeit, dass Frauen den Großteil der Fürsorge-Arbeit machen? Nein! Ist es eine Neuigkeit, dass wir einen massiven Betreuungsnotstand haben? Heftiges Kopfschütteln. Wissen wir erst seit jetzt, dass Frauen für die gleiche Arbeit weniger verdienen? Nein!! Und wir sagen auch schon ganz lange, dass Frauen öfter ihren Arbeitsplatz für die Familie aufgeben, weil sie eben weniger verdienen. Und wir sagen schon ganz lange, dass es Zeit wird ein System zu kreieren, das Arbeitsunterbrechung durch Mutterschaft oder Ähnliches nicht zum ersten Schritt in Richtung Arbeitslosigkeit macht.

Sind wir am Ende des Patriarchats? Oh nein! 

2020 gibt es noch immer keine Gleichberechtigung. Für was kämpfen FeministInnen heutzutage?

Körperliche Unversehrtheit, Bildungschancen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt, Umverteilung von Kapital, gendergerechte medizinische Forschung und Betreuung … und das für die Frauen auf der ganzen Welt!

Was beschäftigt die Südtiroler*innen besonders?

Der Betreuungsnotstand. Es kann nicht sein, dass ein reiches Land wie unseres es nicht hinbekommt Betreuungsangebote zu schaffen, die mit den Arbeitsrealitäten vereinbar sind! Als großes Thema empfinde ich die soziale Kontrolle: Richtiges und falsches Frau-Sein wird immer wieder in die Waagschale gelegt, schafft total Druck und verhindert letztlich Solidarität. Und dann natürlich die grotesk niedrigen Löhne in den Sozial-, Service-, Lehr- und Pflege-Berufen, die vor allem von Frauen besetzt sind und die immer höheren Lebenserhaltungskosten. Um nur drei zu nennen.