Kultur | Gastbeitrag

75 Jahre Option 1939 erinnert und nichts gelernt?

Die Innsbrucker Historikerin Eva Pfanzelter schreibt über die Erinnerung an die Option und dass jetzt vor allem banalisierende Interpretationen ein Revival erleben.

Vor 75 Jahren tobte in Südtirol ein bis dahin ungekannter Propagandakampf, der mit dem Enddatum der Abstimmung für oder gegen eine Umsiedlung ins Deutsche Reich, dem 31. Dezember 1939, einen ersten bitteren Höhepunkt erreichte. Der „Riss“ ging durch Dorfgemeinschaften, durch Familien und durch alle sozialen Lager. In den folgenden Jahren manifestierten sich alle Formen der Täterschaft und des Mitläufertums in der Südtiroler Gesellschaft, ebenso wie sich Opferrollen zu formen begannen. Die Auseinandersetzungen in der Optionszeit und die Erinnerung daran sollten diese nachhaltig prägen. Dabei lässt sich die Erinnerung an die Umsiedlung von 1939 grob in drei Zyklen einteilen: Die Phase unmittelbar nach Kriegsende bis in die 1970er Jahre, eine Phase des gesellschaftlichen Aufbruchs bis Ende der 1990er Jahre und eine dritte Phase seit den frühen 1990er Jahren.

In den 1950er und 1960er Jahren kam es zu einer Vereinheitlichung der Erinnerung an die Zeit der beiden Faschismen. Aufgrund politischer, medialer und wirtschaftlicher Notwendigkeit wurde das deutschsprachige Südtirol zum Opfer von sowohl Faschismus als auch Nationalsozialismus erklärt. Unter dieser Prämisse war eine Thematisierung der psychischen und physischen Gewalt an den Mitmenschen in Dorf und Stadt, an Italienerinnen und Italienern, den jüdischen Mitmenschen, politisch Unerwünschten, „rassisch“ Verfolgten, „Asozialen“, Behinderten und Alten sowie Desserteuren und Andersdenkenden nicht erwünscht und nicht möglich. Im Gegenteil, über die Zwischenkriegs- und Optionszeit wurde geschwiegen, die Opferrolle danach konsequent politisch instrumentalisiert bzw. zelebriert. Dieselben Mechanismen wirkten im Übrigen auch in der italiensprachigen Bevölkerung, die Zeit des Faschismus wurde ausgeblendet und die Resistenza zum gesamtgesellschaftlichen Widerstand gegen die Diktatur stilisiert. Danach stand für alle Ethnien an der Tagesordnung, die jeweils andere braune respektive schwarze Vergangenheit anzuzeigen, die eigene aber zu vergessen.

Thematisierung der Zeitgeschichte in den 1970er und 1980er Jahren

Bis in die 1970er wurde diese bereinigte, politisch instrumentalisierte Meistererzählung den Nachkommenden tradiert. Erst durch die rigorose Kritik einer jungen Generation an diese Geschichtsbilder der Wehrmachtsjahrgänge im Laufe der 1970er und in den 1980er Jahren, kam es zu einem nachhaltigen Wandel im kollektiven Gedächtnis. Es folgten Jahre der gesellschaftlichen Thematisierung von Zeitgeschichte, medial ausgetragener Kontroversen und wissenschaftlicher Aufarbeitungen. In diesen Jahrzehnten finden sich daher nicht umsonst die Namen vieler prominenter Protagonistinnen und Protagonisten: Journalist und Zeithistoriker Claus Gatterer wies 1969 mit „Schöne Welt, Böse Leut“ ungeschönt auf den ethnischen Nationalismus der Deutschsprachigen. Leopold Steurer forderte 1976 in seiner Dissertation und 1980 in seinem Buch „Südtirol zwischen Rom und Berlin 1919–1939“ die Verantwortung des deutschsprachigen Südtirol für die eigene braune Vergangenheit ebenso ein, wie jene der im Lande lebenden Italienerinnen und Italiener. Reinhold Iblacker zerstörte 1979 das Apolitische an der Figur Josef Mayr-Nussers.

Die Aktionen und die Beiträge einiger kritischer Journalistinnen und Journalisten im RAI-Sender Bozen wurden zu entscheidenden Triebkräften der Wende: Mit Gerd Stafflers filmischem Beitrag „Sie sagten nein!“ von 1980 wurden erstmals (Mit-)Täterschaft und Mitläuferrolle und vor allem der Widerstand thematisiert. In mehreren Dokumentarfilmen setzte sich die RAI auch in der Folge mit der Südtiroler Zeitgeschichte auseinander. Zu den meistgesehenen und meistkommentierten Sendungen gehört wohl ein im Jänner 1982 zum Thema „Heimattreue? Heimatverrat?“ ausgestrahltes Fernsehgespräch zwischen Extrembergsteiger Reinhold Messner, dem Dolomiten-Chefredakteur und Angehörigen der Wehrmachtsgeneration Josef Rampold und dem Dableiber und KZ-Häftling Friedl Volgger, der in seinen Publikationen Verständnis und Unterstützung für eine neue Betrachtung der Zwischenkriegs- und Kriegszeit zeigte. Journalist Gerhard Mumelter wiederum stellte durch die Verbindung von Fiktion und Journalismus die bis dahin tabuisierten Themen Option, „Bombennächte“ und Kollaboration zur Diskussion. Martha Verdorfer, Alessandra Zendron und Piero Agostini gaben durch ihre Oral History-Projekte ganz normalen Menschen eine Stimme im Optionsgeschehen. Auch in der Literatur wurde die Optionszeit in den 1980er-Jahren langsam zum „Modethema“. In zahlreichen (Auto-)Biografien, Theaterstücken und Romanen kamen zunächst die Dableiberinnen und Dableiber sowie danach die Optantinnen und Optanten zu Wort. Erst relativ spät allerdings äußerte sich mit Franz Thaler ein Deserteur, dessen Schrift „Unvergessen“ bis heute als Akt der Zivilcourage angesehen werden muss

Gerd Staffler, Gerhard Mumelter, Martha Verdorfer, Alessandra Zendron, Piero Agostini, Reinhold Messner, Friedl Volgger, Franz Thaler

Der Höhepunkt des „Aufarbeitungsjahrzehnts“ war sicherlich das Jahr 1989, in dem sich die Option zum 50. Mal jährte. Obwohl der Vorschlag der grün-alternativen Liste, das Jahr zum Gedenkjahr zu erheben, abgelehnt wurde, finanzierte die Südtiroler Landesregierung die Ausstellung „Option – Heimat – Opzioni“, die der Tiroler Geschichtsverein in Bozen organisierte und die schließlich von rund 30.000 Personen besucht wurde. Mit der über die Maßen erfolgreichen Ausstellung und mit Felix Mitterers Film „Verkaufte Heimat. Eine Südtiroler Familiensaga“, der unter der Regie von Karin Brandauer als Co-Produktion von ORF, NDR, BR und RAI entstand und ebenfalls 1989 erstmals ausgestrahlt wurde, verließ die Option definitiv den wissenschaftlichen Beschäftigungsrahmen und wurde Teil des Gesellschaftsdiskurses.

Historikerinnen und Historiker beurteilen die zwei Jahrzehnte intensiver Auseinandersetzungen mit der Zwischenkriegs- und Kriegszeit durchgängig als Jahre des kritischen Diskurses, in denen letztlich das historische Bewusstsein der Südtiroler Gesellschaft entscheidend verändert wurde und somit auch die kollektive Erinnerung eine tiefe Prägung erfuhr. Jedenfalls lässt sich festhalten: Wenn die unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnte die Zeit des Vergessens waren, so waren die 1970er- und 1980er die Zeit des Erinnerns. Es folgte die Zeit der Historisierung und Banalisierung, die dritte Phase des Erinnerungsdiskurses.

1989 ein Wendejahr für die Aufarbeitung zur Option

Die Umbrüche des Jahres 1989 entfernten zwar die jahrzehntealten Tabus gegenüber der Kriegserinnerung, doch gleichzeitig entstanden neue Mythen und (Miss-)Interpretationen, diesmal vornehmlich über die Zeit nach 1945 (Festigung der Opferthese, der Rückgriff auf traditionelle Entschuldungsdiskurse bei der Beschäftigung mit den „Bombenjahren“, die Erinnerungskriege an den faschistischen Denkmälern etc.). Tatsächlich hält das wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Interesse an der Option auch nach 1989 an: Es ist eine Flut an Aufarbeitungsliteratur zu verzeichnen. 1989 ist daher vielmehr als Wendejahr, denn als Höhepunkt des Erinnerungsdiskurses einzustufen. In den nachfolgenden Jahrzehnten wurden unzählige regionalhistorische Aspekte der faschistischen und nationalsozialistischen Ära aufgearbeitet. Dennoch ist unbestreitbar, dass sich das Interesse wieder zunehmend in den akademischen, literarischen und künstlerischen Bereich verlagert hat.

Die Option hat eine Historisierung erfahren, doch so ganz wollen die Brüche bis heute nicht verheilen. Die im Rahmen eines am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck (http://www.optionunderinnerung.org) in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Bühnen Bozen 2013–2014 durchgeführten Interviewprojektes geführten Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen belegen eindrucksvoll, dass die Verwerfungen der Vergangenheit – abhängig von der persönlichen Betroffenheit – immer noch da sind. Aber zu einem großen Teil blicken Zeitzeuginnen und Zeitzeugen heute relativ objektiv und sachlich auf die Ereignisse der damaligen Zeit zurück. Dagegen zeigen die Interviews aber ebenso, dass die Opferthese gesellschaftlich überlebt hat. Auch ist der öffentliche Umgang mit der faschistischen bzw. NS-Vergangenheit bis heute keineswegs ein vorbehaltloser und kritischer. Die ewig gleichen – unnötigen – Praktiken der Vertuschung, Umdeutung und Verharmlosung blieben gesellschaftlich an der Tagesordnung, wie jüngst erst die Diskussionen um die Aufarbeitung der Geschichte der Traditionsvereine (von Musikkapellen über Trachtenvereinen bis zu Schützenkompanien) zeigen. Diese unsauberen Methoden des Umgangs mit der Vergangenheit ermöglich(t)en, rechtem Gedankengut – im Südtiroler Jargon wird es gern liebevoll „ultrapatriotisch“ genannt – eine Rückkehr (auch in Form sehr starker politischer Parteien). Und sie bewirken Banalisierungen, wie sie in den letzten Jahren vor allem in Fernsehen (Birgit Mosser Schuöcker 2009 „Südtirol: Überlebenskampf zwischen Faschismus und Option“) und Internet (siehe etwa Wikipedia-Artikel zur Südtiroler Option) zu finden sind.

Vor wenigen Tagen erreichte mich eine E-Mail eines jungen Südtiroler BWL-Studenten an der Universität Innsbruck. Er fragte unhöflich und provokant „Was ist das Schöhne an der Zeitgeschichte?“ (Schreibweise im Original), um daraufhin in weiteren drei Zeilen, gespickt mit Rechtschreib- und Grammatikfehlern, von mir eine Erklärung über die Selbstbestimmung für Südtirol einzufordern. Nachdrücklich drängten sich mir Gesprächsfetzen mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Option auf, in denen sich die Erlebnisgeneration von 1939 daran erinnerte, dass die Optantinnen und Optanten 1940 schnell in Deutschkurse gedrängt wurden, damit sie zumindest ein wenig jener Sprache erlernten und etwas von jener Kultur wussten, nach der sie sich zwei Jahrzehnte lang gesehnt hatten, sollten sie schließlich über den Brenner ins Deutsche Reich auswandern. Die Identifizierung mit dem, was die Auswandernden jenseits der Grenze schließlich vorfanden, gelang selten, doch blieb das „Deutsche“ – wo immer es auch sein mag – offensichtlich bis heute eine „Sehnsuchtsheimat“ vieler Südtirolerinnen und Südtiroler.

Überwindung der Opferthese und das Eingestehen der braunen bzw. schwarzen Vergangenheit der Südtiroler Vorfahren

Dass dies oft zu unkritischen Wiedergaben und zur Wiederbelebung althergebrachter Geschichtsinterpretationen dient, zeigt auch die geplante Plakataktion des Südtiroler Schützenbundes. So wohlgemeint das Ansinnen, mittels dieser Bilder die Erinnerung an 1939 wachzurütteln, auch erscheinen mag, so ist die bewusst fehlende Kontextualisierung doch als bedenklich einzustufen: Mindestens drei der Bilder sind Propagandabilder, gemacht von und instrumentalisiert durch die Nationalsozialisten 1940, um für die Option 1940 Stimmung zu machen. Eines der Bilder, nämlich jenes der essenden Mutter mit den drei kleinen Kindern, ist hier gänzlich falsch zugeordnet: Es handelt sich nachweislich um das Bild einer italienischen Zwangsarbeiterfamilie auf ihrem Rücktransport von Deutschland nach Italien im Innsbrucker Lager Reichenau (einsehbar im Katalog der National Archives in Washington DC).

Sind wir wirklich wieder dabei, die letzten vier Jahrzehnte der Aufarbeitung beiseite zu wischen und aus Unwissenheit und Desinteresse auf Geschichtsbilder zurückzugreifen, die längst begraben schienen? Es geht hier nicht um eine Abrechnung mit den Schuldigen, die ist – fast – erledigt, so der deutsche Kulturwissenschaftler Christian Meier. Es geht vielmehr darum, dass sich ganze Gesellschaften das Ausmaß der eigenen Handlungen permanent vor Augen halten und dazu gehören auch die endgültige Überwindung der Opferthese und das Eingestehen der braunen bzw. schwarzen Vergangenheit der Südtiroler Vorfahren. Oder wie Imre Kertész in seiner einzigartigen Holocaust-Darstellung meinte: „… alles was es brauchte, war, es zuzugeben, widerspruchslos, schlicht, bloß als eine Sache der Vernunft, eine Ehrensache …“. Die nachfolgenden Generationen in Südtirol werden wohl darüber entscheiden, ob wir das getan haben.

Wir haben bis jetzt - nach all den Jahren, in denen wir uns mit "unserer" Option befassen, sie auch zu Markte tragen, wir haben vergessen, das Wort Option zu hinterfragen, denn wenn wir z.B. im Saarland das Wort verwenden, stossen wir auf Unverständnis, und die Saarländer mussten öfter abstimmen, "optieren" zu wem sie gehören wollten. Ich plädiere dafür, unsere "Option" rein von der Wortqualität neu zu denken bzw. auszudenken

Do., 23.10.2014 - 17:09 Permalink