Kultur | Salto Weekend

303

Wenn zwei eine Reise tun: Das intensive Schwadronieren über die wichtigen Themen des Lebens wird zur großen Überraschung des deutschsprachigen Kinos.
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Foto: Alamode Film

Zugegeben, ich als Gute-Laune-Harmonie-Allergiker bin mit großer Voreingenommenheit in diesen Film gegangen. Der Trailer ließ bereits Schlimmes erahnen, nämlich eine seichte, bereits hunderte Male durchgekaute Geschichte, in der sich zwei junge Menschen treffen und sich im Rahmen eines Roadtrips verlieben. Dazu noch kitschigen Indie-Pop, und die Zutaten zur ultimativen Hipster- Überdosis sind beisammen. Nun, manchmal müssen aber auch die größten Skeptiker lernen, dass sie sich irren können, und dass Liebe auf den ersten Blick ein romantisiertes Stück Lüge aus dem Herzen des Kinos ist. „303“ ist der neue Film von Hans Weingartner, der vor allem durch seinen Überraschungserfolg „Die fetten Jahre sind vorbei“ bekannt wurde. Im Mittelpunkt seiner Erzählung stehen zwei Menschen, wie sie generischer nicht sein könnten. Jule, gespielt von Mala Emde, und Jan, verkörpert von Anton Spieker, wirken auf den ersten Blick wie Stereotypen, und auch auf den zweiten fällt es schwer, diesen Eindruck loszuwerden. Doch wie die Figuren muss auch der Zuschauer sich auf sie einlassen. Die beiden Studenten, vierundzwanzigjährig, haben ähnliche Pläne. Jule fährt mit ihrem charmant altmodischen Camper nach Portugal zu ihrem Freund, Jan möchte nach Spanien, um dort seinen wahren Vater zu treffen. Als er jedoch an einer Tankstelle im Niemandsland irgendwo in Deutschland hängen bleibt, scheinen Jule und ihr Camper eine günstige Mitfahrgelegenheit. Nach anfänglichen, zwischenmenschlichen Schwierigkeiten lernen sich die beiden näher kennen und vielleicht – möglicherweise – ohne etwas vorwegzunehmen – entsteht mehr als nur eine Freundschaft. Ja, das klingt generisch, eventuell ausreichend für manch einen Zuschauer, der einfach nur schöne Unterhaltung erleben möchte, doch dieser Film lief auf der Berlinale und wurde dort hochgelobt.

„303“ hebt sich deutlich von seinen Genrekollegen ab und nimmt das Thema Liebe ernst.

Was hebt „303“ nun also vom Einheitsbrei der Indie-Schnulzen ab? Es ist das Genre. Und damit soll nicht das Roadmovie in „303“ gemeint sein. Zwar steht die Reise durch Deutschland, Frankreich, Spanien bis nach Portugal immer im Zentrum der charakterlichen Motivation, doch hält sie sich zurück und lässt Platz für andere Dinge. Strenggenommen haben wir es hier mit einem Dialogfilm erster Güte zu tun. Mehr als gereist und melancholisch in die Ferne gestarrt wird geredet. Viel geredet. Wer ein Problem mit zweieinhalb Stunden Zwiegespräch zwischen zwei jungen Erwachsenen hat, der sollte diesen Film meiden. Wer sich allerdings darauf einlässt, wird mit einigen der besten Dialoge des deutschen Films belohnt. Hier wird über die bösen Absichten des Kapitalismus diskutiert, über die Auswirkungen und die Aktualität von Darwins Evolutionstheorie, über die biologischen Zusammenhänge beim Verlieben, über Sexualität und Selbstmord. Denn ja, „303“ scheut sich nicht, auch dunkle Themen anzusprechen, Jule und Jan sind keine Figuren, die mit beiden Füßen im Leben stehen und dieses einfach nur genießen. Je mehr das Publikum sie kennenlernt, desto mehr versteht es ihre Sorgen, ihre Gedanken, die mitunter recht unterschiedlich und gegensätzlich sind (aber ziehen sich Gegensätze nicht an?). Während Jule erwartungsgemäß sehr idealistisch veranlagt ist und nur das beste im Menschen sehen will, vertritt Jan auch schon mal konservativere Positionen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie der Mensch weiter kommt: Durch Kooperation oder Konkurrenz? In wunderbar authentischen und aus dem Leben gegriffenen Dialogen werden diese Themen erörtert, und sie werden von zwei Schauspielern gesprochen, die nicht nur hervorragend besetzt sind, sondern ihre Figuren so echt und lebendig erscheinen lassen, wie in solchen Filmen selten gesehen. Weingartner nimmt seine Charaktere ernst, auch wenn er nicht verhindern kann, dass die ein oder andere Dialogpassage oder darauffolgende Handlungen arg plakativ und im Vergleich zu den erstklassigen Dialogen gar plump wirken. Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto intimer werden die Unterhaltungen. Es wird viel über Liebe gesprochen, über das Verlieben und über Treue. Themen, die Jule und Jan beschäftigen.

303 Trailer German Deutsch (2018) / Quelle: Youtube

Natürlich wird auch gefahren, viel sogar, immerhin muss eine gewaltige Strecke zurückgelegt werden. Die Landschaften, die an den beiden vorüberziehen, und in denen ihre Gespräche stattfinden, sind schön anzusehen, nehmen aber nie zu viel Platz ein. Untermalt wird das Geschehen von einem bunten Potpourri verschiedener Pop- und Akustiksongs, die nicht selten an der Grenze zum Kitsch stehen und die ansonsten reife, ernsthafte Atmosphäre etwas stören. Doch besonders das Stück „Magnet Balls“ fügt sich perfekt in die Stimmung des Films ein und erinnert nicht zuletzt an das melancholisch-traurige „Mystery of Love“ aus dem diesjährigen „Call Me By Your Name“.

Ob „303“ letztendlich gefällt, hängt ganz davon ab, wen man fragt. Besonders die Zuschauerschaft zwischen 20 und 30 wird sich mit den Charakteren besonders gut identifizieren können, und selbst wenn man sich nicht in einem Aspekt ihrer Persönlichkeiten wiederfindet, versteht man dennoch ihre Probleme und Gedanken. Ältere Semester könnten angesichts der idealistischen Lebenssicht der beiden möglicherweise das ein oder andere Mal mit den Augen rollen. Doch lohnt sich der Kinobesuch allemal, „303“ hebt sich deutlich von seinen Genrekollegen ab und nimmt das Thema Liebe ernst. Er nimmt sich die Zeit, die er braucht, um zwei einsame Seelen auf die trockenen Straßen Südeuropas zu schicken und zu sehen was passiert. Und wenn es passiert, dann ist das so schön, wie kaum eine zwischenmenschliche Beziehung im Kino der Gegenwart. Dann fühlt es sich echt an, dann ist es das Ziel einer Reise, ein zugegeben vorhersehbares, aber Folge eines langen Aufbaus. Eben nicht Liebe auf den ersten Blick. Eben so wie bei mir und „303“.