Eine ausdrucksvolle poetische Stimme
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„Mein Blatt hielt lange stand: am Arm des Nussbaums zwischen Tanz und Kampf" (Seite 9) Ein Vergleich aus der Naturwelt steht im Zentrum der ersten Stophe im Gedicht ‚Kapitulation’: das zitternde Blatt an einem Baum im Herbst, das sich dem Wind (noch) widersetzt. Das Wort ‚standhalten’, getrennt ich ein Enjambement, verdeutlicht den lange andauernden Widerstand, den das lyrische Ich gegen den Fall zu leisten versucht. Letztendlich muss es in diesem Gedicht aufgeben, was durch die Zeitform des Präteritum angedeutet ist, und im Titel sowie in der letzten Strophe zur Sprache kommt: „das Blatt ein Fall/für die Erde" (Seite 9).
Gegensatzpaare wie Tanz/Kampf, Frieden/Krieg, die in diesem Gedicht verwendet werden, finden sich in weiteren Gedichten des soeben im laurin-Verlag erschienenen Gedichtbandes Aria der Autorin Anne Marie Pircher. Das Buch ist der 2023 verstorbenen Mutter gewidmet; dem Gedichtband vorangestellt ist das Motto der amerikanischen Nobelpreisträgerin für Literatur (2020) Luoise Glück, „Just think/the sun was there, in that bare place“. -
Bilder aus der Natur, mit denen menschliche Gefühle und Erfahrungsweisen durch die Stimme eines lyrischen Ichs nachgezeichnet werden, sind bestimmend für Pirchers Lyrikband. Wiederholt wird der Akt des Standhaltens thematisiert, einmal in Verbindung mit dem Schatten des lyrischen Ichs, „der standhielt/während du fortgingst/ins blaue Kalt der Welt" (Seite 14), oder in Verbindung mit einem „Bild, ein [em] Wort/das standhält" (Seite 21), ,,ein[em] Herz/das standhält" (Seite 22) oder „jenes zarte, flüsternde/Ich, das standhält" (Seite 45). Dieses zarte lyrische Ich nimmt die innere und äußere Welt mit einer ausgesprochenen Aufmerksamkeit für Details und mit einer großen Sensibilität für kleinste Veränderungen und feine Nuancen wahr. Gefühle, Gedanken und Erinnerungen, sinnliche Wahrnehmungen und Bilder, Veränderungen in der Natur, Eindrücke und Sichtweisen aus der Um- und Mitwelt werden in eine Sprache übertragen, die von Stille und poetischem Reichtum geprägt ist. Das Verdichten der erfahrbaren Welt durch Sprache ist in diesem Gedichtband ein wesentliches Thema. Das lyrische Ich setzt seine Wörter gegen die „Schlagwörter" (Seite 37) der Medien und führt zuweilen einen „Kampf um Wörter" (Seite 68), wenn „uns die Propaganda/an die Wand" (Seite 68) fährt. Die Suche nach den Wörtern bleibt das einzig Wichtige für das lyrische Ich. Die Sprache bietet ihm ein Refugium, auch wenn sie zuweilen ohnmachtlos zu sein scheint- „kein Wort taugt/für die
Verheerung" (Seite 41) - und manchmal kann das Schweigen „tröstlicher [sein]/als jedes Wort" (Seite 60). Das lyrische Ich spürt dem schwierigen Prozess der poetischen Wortfindung und der Erschaffung der Sprachwelten nach. Es gibt jedoch keine Alternative, denn es lebt in der Sprache und durch die Sprache und sucht letztendlich Halt und Sicherheit in „einem Wort/ das mich pflückt" (Seite 88).
Eine besondere Stille durchzieht den Gedichtband. Manchmal ist sie gewollt, manchmal verbirgt sich dahinter ein unheimliches Schweigen, das nach einer Stimme, einem Ausdruck und einem Ausweg sucht, bevor der lyrischen Stimme die Luft ausgeht:„Ich verlieh meine Stimme
in unterschiedlichen Tonlagen
der Farbe des Windes
summte und summte
in mich hinein, aus mir
hinaus: Aria"
(Seite 53)Das Unheimliche rührt aus der Kindheit und den frühen kindlichen Erfahrungen, die zum Teil unbewusst sind und kaum erinnert werden können, denn „es gab wenig/zu erinnern: ein Geruch/ein Geräusch, zweifelsohne/zweideutig: Liebe und Haft/Liebhaft" (Seite 59). Diese kindliche, ambivalente Erfahrung der Liebe und Haft wird dem lyrischen Ich zum Gefängnis, aus dem es sich mit allen Kräften zu befreien versucht. Es gibt eine Tat, einen „Täter und [ein] Opfer" (Seite 12), „einen Punkt/der Rechenschaft verlangt" (Seite 45). Die Kindheitsbilder, oft trüb, schwer deutbar und kaum übersetzbar, aber immer tiefgehend, begleiten die lyrische Stimme und machen sein Wesen zu dem, was es ist, auch dann, wenn die Stimmen des Alttags, nicht selten die Stimmen, die von Kriegen sprechen, sie zu übertönen scheinen. Immer wieder kehrt die lyrische Stimme an den Anfang zurück, „blickt von oben/auf das kleine Ich" (Seite 53), versucht unbewusste Schichten herauszuschälen und die Bilder in konkrete, nachvollziehbare Welten zu übertragen. Diese nie vollendete Arbeit und der nie vollzogene Prozess - eine „Wunde/ die nicht schließt" (Seite 59) - machen es dem lyrischen Ich unmöglich, sich vom Erlebten zu lösen. Die „Häutung" (Seite 44) wird als ein Bild eingesetzt, das mit dem Vergleich zur Schlange aus der Tierwelt hereingeholt wird. Sie ist Zeichen für das unaufhörliche Streben nach einer schmerzhaften Befreiung, die eine „Geburt, Wende" (Seite 48), eine „zweite/Geburt" (Seite 53) des lyrischen Ichs möglich machen würde, entgegen dem Widerstand aller „Finger/[die] irgendwohin zeigen" (Seite 45) und das lyrische Ich kränken. Körperteile wie der Hinterkopf, die Glieder, die Stirn, und immer wieder das Gesicht, das Auge und die Hand durchlaufen die Gedichte, daneben findet auch die Welt der Farben, immer wieder in der Form der Komposita - das Himmelsblau, das Fensterblau, das Lichtgrau -, Eingang in Pirchers Poesie.
In vielen Gedichten dieses Bandes ist die Natur sehr präsent; oft sind es die Pflanzen und die Bäume - der Efeu, die Chrysantheme, die Hyazinthe, der Lorbeer -, oft die Tiere, - der Wurm, die Schlange, die Eidechse, die Schildkröte, die Libelle oder der Maulwurf –, und daneben auch das Wasser und die Flüsse, denen sich das lyrische Ich anvertraut. Jahres- und Tageszeiten flechten sich in die Gedichte ein und bilden oft dessen Vordergrunds- oder dessen Hintergrundsstimmung. Die Gedichte sind reimlos, haben unterschiedliche Versen- und Strophenlängen und folgen einer ihnen ganz eigenen Musik. Durch die zahlreichen Enjambements schaffen sie Pausen, Raum für Polyvalenzen und Zeit zum Nachdenken. Sie führen rhythmisch auf ein Ende hin, das vorerst einen Schluss verspricht. Oft spielen die Gedichte mit den Sprachen, tragen kurze englische, italienische oder deutsche Titel, wenige darunter sind ohne Titel. Auch in den Verszeilen gibt es Mehrsprachigkeit und das Wort ‚translation’ wird mehrmals im übertragenen Sinne genutzt. Die eingesetzten Metaphern und Vergleiche sind eindrucksvoll und vermitteln eine Atmosphäre, die von Melancholie und Trauer getragen ist. In der poetischen Sprache, in der die Autorin diese Atmosphäre verdichtet, liegt eine schlichte Schönheit.
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