Kultur | Raetia Verlag

Der verlorene Sohn

Zu Weihnachten veröffentlicht salto.bz Geschichten, die von dieser stillsten und rauhesten Zeit des Jahres handeln. So wie diese von Christian Ferdigg.

Der verlorene Sohn - aus dem Buch "Weißt du was Schnee ist/frisch gefallener?" herausgegeben von Nina Schröder im Raetia Verlag


Weihnachten ist die Geburt. Sagte Philipp. Und war müde. Und wie gewöhnlich
von der Arbeit nach Hause gekommen. Es wartete Thea auf ihn.
Jeden Abend. In ihrem Wohnzimmer auf ihrem Sofa und schaute fern. Und
sie wusste, dass Philipp dieses Glotzen in den Fernseher nicht mochte. Während
Weihnachten noch nicht da war. Philipp freute sich, auf das Geschenk,
auf das Essen, freute sich auf die Geburt seines Sohnes.
Auch Thea. Sie wartete. Bis Philipp nicht mehr kam. Eines Abends.
Er saß und starrte das Mädchen an, das hinter der Theke die Gläser mit
Wein aufgoss. Und es war kein Mensch da, der ihn fragte, woher kommst
du. Was treibst du den ganzen Tag so.
Er saß alleine. Dachte. Endlich, dachte er, hätte er in Ruhe denken können.
Endlich. Glaubte er, alleine zu sein. Und schon stand Barbara da. Dieses
Mädchen. Und es war noch nicht Weihnachten.
Lotte, sagte Thea. Und sie setzten sich, um Trost zu finden. Und es gab
Worte, es fielen Sätze. Nichts änderte sich. Philipp war nicht. Und Thea, sie
hatte Angst, sie ließ nicht los. Auch Weihnachten ließ nicht los. Mit Freude,
mit Sehnsucht.
Es gab Verwirrung. Philipp ging den alten Weg nicht mehr. Hatte sich losgelöst,
vom Alltäglichen. Vom Alltag. Hatte alles, sozusagen, aufs Spiel gesetzt.
Das Leben. Auch Weihnachten, aufgehoben.
Das Leben im Wohnzimmer. Es war mühsam. Von Morgen zu Morgen. Das
Ticken der Wanduhr, bis keine Zeit mehr war, auch nicht die Wand, zwischen
Angst. Und Hoffnung. Es war Alltag. Alltäglicher Alltag. Und noch
nicht Weihnachten.
Auch der Schnee wollte nicht. Vom Himmel. Und draußen spielten die Kinder.
Oder liefen wie verrückt übers Feld. Und das Feld war weit. Und verlor
sich. In Theas Augen, in Theas Blick. Verlor sich, wenn sie durchs Fenster
guckte, nach Zukunft, während Philipp das Bett teilte, im Neuen.
Barbara. War auf ihn zugegangen, nach dem Weinaufschenken, mitten im
Denken, mitten im Feld, in dem es nach Zukunft, nach Weihnachten roch.
Es war die Hölle. Zwischen Philipp. Und ihr. Es gab Bewegungen. Zuckungen.
Und es fiel Schnee in den Feldern, auf denen er Fußball gespielt hatte,
als er noch Kind war. Früher.
Und er vermisste jetzt Thea, wiederum, die jetzt ihr Gesicht sah. In der
Suppe gespiegelt. Und es fiel ihr Weihnachten ein. Vor Jahren. Als sie ein
Kind kriegte, geschenkt. Das später dann starb. Sie hatte geweint. Thea.
Und war zurückgeblieben, in ihrem Leben. Ohne Leben.
Jetzt aber, war Weihnachten da, für Thea. Und sie wartete. Auf das Kind.
Und wartete. Auf Philipp, der nicht kam. Er wartete auch. Auf Thea, die
nicht zurückfand, zu ihm. Ins Feld. Zurück.
Und ihr Gesicht stach heraus, aus der Suppe. Und es war Weihnachten, als
Philipp erwachte. Er schaute hinaus, aufs Feld, und sah die Kinder, die spielten.
Er sah die Mutter. Und war alleine, mit Barbara. Er hatte Sehnsucht.
Nach außen. Nach Thea.
Das Neue. Es war die Sehnsucht nach Thea. Nach ihrem Kind. Und hätte
da sein müssen. Sagte Thea, immer noch. Und dachte zurück. Sie war alleine
gewesen, in ihrem Leben.
Und jetzt war das Kind da. Plötzlich, es war Weihnachten.
Es war Weihnachten.
Und die Welt suchte nach Philipp, der sie noch zum letzten Mal küsste. Und
er verließ das Zimmer. Es schmerzte. Er wollte nicht. Und wollte trotzdem
nicht das Fest verpassen. Es war ein Kind, das auf ihn wartete. Und er nahm
Abschied und es wuchs Leben. Zwischen ihnen. Liebe. Und sie liebten sich
noch, zum Letzten, in ihrer Begegnung. In ihrem Abschied.
Und das Feld wechselte seine Farben und es wurde Frühling und Sommer.
Und es gab den Herbst und Weihnachten wieder.
Und Thea träumte und erinnerte.
Und Philipp vermisste. Vermisste die Sehnsucht. Das Warten.
Ja, tatsächlich, es war ihm das Leben geschenkt.
Tatsächlich, er war geboren. Irgendwann.