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Schöne Welt, böse Leut

Claus Gatterers Südtirol-Klassiker "Schöne Welt, böse Leut" wurde 2015 im Folio-Verlag neu herausgegeben. Der "Schelmenbericht" erzählt eine Kindheit in Südtirol.

Wir bedanken uns beim Folio Verlag, der uns auch heuer wieder einige Texte aus seinem Verlagssortiment zur Verfügung gestellt hat. Den Anfang macht Claus Gatterers "Schöne Welt, böse Leut" in einer Neuauflage, hier ein Kapitel über das einfache Leben und Weihnachten.

 

Über das einfache Leben und manches seither Abgekommene

Wir Kinder waren damals noch eingesponnen in eine Welt, die, denke ich heute dran, nicht von dieser Welt schien. Es war alles einfach, bescheiden, wohlgeordnet. Jedes Ding hatte seinen Sinn, jeder Tag seinen Gang und jede Woche ihre Ordnung, jahraus, jahrein. Es wäre schwer zu sagen, ob der Ablauf der Wochen und Monate mehr von der jahrhundertealten Übung bestimmt war oder ob die Unerbittlichkeit der Jahreszeiten ihn vorschrieb, die als das letzte Gesetz mit Sonne und Regen, Schnee und Eis über allem waltete. Bebte in den Menschen etwas von jener inneren Unrast, ohne die nichts sich verändern kann und alles ewig so bleiben müsste, wie Gott es einmal gerügt und die Stumpfheit der Generationen es erhalten hat? Unrast gab es genug, auch Zorn, Hass, Habsucht, Feindschaft, Neid und Streit, aber alles doch nur um einen Grenzbaum, um einen Markstein auf dem Feld, um einen Zaun, einen Weg oder ein zweifelhaftes Servitutsrecht; das Wesen der Dinge durfte durch nichts in Frage gestellt werden. Vielleicht hütete man dieses Letzte, das aus so vielen Kleinigkeiten des täglichen Lebens und aus hunderterlei Nichtwahrnehmbarem gefügt war, auch deshalb so eifersüchtig, weil das Neue sich allenthalben bedrohlich breitmachte. Vielleicht stritt und prozessierte man auch deshalb um jeden Stein, jeden Strauch und jede Klafterbreit Weges, weil man das Bedürfnis nach Bewegung und nach öffentlicher Betätigung empfand, aber einerseits am Überbrachten nichts zu bewegen wagte, anderseits von jeder sinnvollen öffentlichen Betätigung ausgeschlossen war. War auch die Welt aus den Fugen geraten, waren Falschheit, Meineid und Betrug im Bauerndorf heimisch geworden, innerhalb der Zäune, die unser Haus, mehr symbolisch als wirklich, gegen die Welt und das Neue abschirmten, durfte nichts verrückt werden.

Wir aßen am Sonntag Knödel, am Montag Polenta, am Dienstag Knödel, am Mittwoch Polenta, am Donnerstag Knödel, am Freitag Polenta, am Samstag irgendetwas Besonderes (Schlutzkrapfen, Erd- äpfelnudeln, Mus, geröstete Nockerln oder Gebackenes wie „Niegelen“, Hasenohren oder Buchteln) und am Sonntag wieder Knödel. Am Morgen gab es jeden Tag Milch oder Kaffee: Die Milch war gut und rahmig, aus unserem Stall, der Kaffee hingegen war ein Gebräu aus gerösteter Gerste und gebratenen Feigen. Zum Neuner kam Einbrennsuppe auf den Tisch, zur Marende Kaffee, wie am Morgen mit frischem oder hartem Bauernbrot, und das Abendessen schließlich bestand fünfmal in der Woche aus Fleischgerste (Gerstensuppe mit geselchten Schweinsrippen oder -haxen und Speckschwarten), nur am Mittwoch und Freitag wurde Fastengerste gekocht: Gerstensuppe mit großen braunen Bohnen. Diese eherne Küchenordnung wurde nur von den Feiertagen umgestoßen, die aber genauso ihre Ordnung hatten. Vor Weihnachten und Ostern wurde geschlachtet, jeweils ein Schwein, alle zwei Jahre auch eine Kuh; die halbe Kuh gab man einem Nachbarn weiter, der einem dafür im nächsten Jahr, wenn man selbst kein Rind schlachtete, eine halbe Kuh überließ, sodass man stets Rindernes zum Einsuren und Selchen hatte. War geschlachtet worden, aß man wochenlang Polenta und Knödel mit gulyasartig zubereiteten Schweinsrippen: „Totsche“ hieß das Gericht, dessen Name schon die Verwandtschaft mit den jenseits des Kreuzberges, bei den Italienern, üblichen Kochsitten verriet. Dort nannte man das Zeug „Tocio“ (und von dort stammte auch unser „Mungge“: Polenta, mit heißer Milch übergossen, viel Käse darauf, das Ganze mit kochendem Butterschmalz eingeschmalzen und mit Schnittlauch bestreut). In den Tagen und Wochen nach dem Schlachten wurden Schweiß oder Blutknödel gekocht, mit großen Brocken frischen, weißen Specks darin, und Leberknödel. Nur das Hirn des geschlachteten Tieres blieb für den ins Haus kommenden Metzger und für die Eltern reserviert. Wir Kinder durften nie davon kosten: „Das tut euch im Kopf nicht gut!“, sagten die Großen.

Die umfängliche, nur durch das Zahlen der Konsumsteuer getrübte Zeremonie des Schlachtens fand ihre Fortsetzung im Suren und Selchen des Speckes und der Henkel sowie im Würstemachen. Für die Würste hatte die Mutter ein besonderes, ererbtes Misch- und Würzrezept, das sie bis auf den heutigen Tag als Geheimnis hütet. Da auch die Selchkunst bei uns mit jener Gewissenhaftigkeit und Geduld betrieben wurde, die sie erfordert – besonders hinsichtlich der Auswahl des Holzes und der Abstufung der Wärme –, waren unser Speck und unsere Würste im ganzen Tal und weit darüber hinaus berühmt. Am Heiligen Abend, wenn man mit einer alten Pfanne voller Glut und wohlriechendem Weihrauch, betend und Weihwasser sprengend durch alle Dielen des Futterhauses und alle Kammern des Feuerhauses zog, erwartete uns eine Speise, die dieses schönsten Festes wahrhaftig würdig war. In einer großen Schüssel war zuunterst eine Lage gekochtes, gut mit Knoblauch gewürztes Sauerkraut, darüber eine dünne Lage gerösteter Erdäpfel, darüber eine stärkere Schicht gekochtes, schweinernes Surfleisch, darüber wieder Kraut, und so weiter – neun, zehn Schichten hoch, und die stärksten davon die fleischernen. Am Abend des Karsamstags aßen wir geweihtes Fleisch: gekochten jungen Schinken, Schweinsbraten, Rindszunge, Würste, kaum angeselcht, die am Nachmittag in der Kirche die traditionelle Weihe erhalten hatten, mit den Ostereiern und dem Kren, der in unserem Kräutergarten hinter dem Futterhaus wuchs. Wenn Ostern richtig fiel, nicht zu früh und nicht zu spät im Jahr, dann war dies auch die große Zeit der Frösche. Da waren die Nächte erfüllt von lärmendem Gequake und wenn man von unserem Söller in einer Mondnacht zum Teich unter unserem Haus blickte, sah man dort das gespenstische Phosphoreszieren von Hunderten feuchten Froschrücken. Die Leute draußen im Tal vermochten nicht zu begreifen, dass Froschhaxen Leckerbissen sind, sie schimpften uns Walsche, weil wir Frösche fingen und aßen. Wenn wir sehr viele gefangen hatten, kochte die Mutter am Karfreitag Froschsuppe, reich mit Zwiebeln und anderen Zutaten gewürzt.

Und da pfiffen wir erst recht auf alle „draußigen“ Sitten. Sitten sind ja immer nur dadurch geheiligt, dass andere sie heilig halten und einem vorschreiben wollen. Wer von diesen großen und kleinen Schlachtfreuden liest, könnte am Ende den Eindruck gewinnen, wir hätten damals Fraß und Völlerei betrieben. Außer an den erwähnten Feiertagen und den Kirchtagen, deren es drei gab (den kleinen zu Sankt Veit, den großen zu Peter und Paul und den Mooser Kirchtag zu Josephi), änderte sich an den Hauptspeisen nichts, es wechselten nur die Zuspeisen, es blieb bei Knödeln, Polenta, Knödeln, Fleischgerste und Fastengerste, denn die bäuerliche Philosophie teilt dem Essen und allem Essbaren nur eine Aufgabe zu, nämlich die, Leib und Seele zusammenzuhalten. Ein anderer Maßstab gilt nicht. Dieses unumstößliche Gesetz der Zweckmäßigkeit wird auch durch die Rangordnung beim Essen bestätigt. Zu der Zeit, da die Großeltern noch lebten, waren bei uns Teller nur beim Knödelessen und für kleine Kinder im Gebrauch; sonst kamen Pfanne oder Schüssel mitten auf den Tisch, und jedermann löffelte daraus. Nach dem infolge des Hungers stets schlampigen und beinahe gierigen Tischgebet wurde der Löffelreigen von den „Arbeitsleuten“ eröffnet. Der erste, der mit dem Löffel in die Pfanne oder die Schüssel fahren durfte, war der Vater; nach ihm kamen der Knecht und die Dirn an die Reihe; wenn Fuhrleute, Handwerker oder Taglöhner im Haus waren, hatten die Männer Vorrang vor der Dirn, die Frauen dagegen mussten warten, bis die Dirn den ersten Löffel zum Mund geführt hatte. Und wenn die Leute alle ihren Rhythmus schon gefunden hatten, fügten sich die Kinder in den Löffeltanz ein: Sie stellten sich unter der Bank auf die Zehen, hoben das Gesäß und beugten sich nach vorne, um mit den Löffeln überhaupt die Pfanne zu erreichen, doch hielten sie dann bei dem sich rasch entwickelnden vergnügten Wettessen tüchtig mit. Wenn der Vater mit einem satten „Ich hab’ genug!“, den Löffel aus der Hand legte, hatten die Kinder dem Beispiel zu folgen. Nur Arbeitsleute aßen weiter, bis Schüssel und Pfanne leer waren. Das Recht, die in der Gerstensuppe gekochten Schweinsknochen abzunagen, wurde, wenn die Großen darauf verzichteten, bald an dieses, bald an jenes Kind abgetreten, je nach den Meriten des Tages.

„Das Fleisch vom Bein und das Gras vom Stein ist das Beste!“ lehrt eine Bauernregel, die uns Kindern bestimmt ebenso einging wie den diebischen Ziegen vom „Göd“. Wenn Sie mich nun fragen wollten, wann und wo die Mutter zu essen pflegte, ich wüsste darauf nicht zu antworten. Sie aß unsichtbar, während der Arbeit, zuweilen am Herd sitzend und einige Bissen lang sich ausruhend. Das eigentlich Feierliche an einem feiertäglichen Essen war, dass auch die Mutter ihren Platz am Familientisch einnahm, dass sie sich die Zeit dafür stahl; dafür musste eines von uns Kindern darauf achten, dass Hennen- und Schweinefutter auf dem Herd rechtzeitig gar wurden. Warum ich diese Essensgeschichten so ausführlich dargelegt habe? Man wird es begreifen, wenn man weiß, dass hier, an der Essensfront, wenn man so sagen kann, das Fremde zunächst in unser Leben einbrach und dass mancher unserer Essensbräuche von den anderen, den Italienern, übernommen wurde. Das erste, was Finanzer und Carabinieri bei uns lernten, war nicht „Grüß Gott“ oder „Helf Gott“, sondern „Speck“ und „Wurst“. Die Männer der Forstmiliz teilten sich das Anzeichnen der zum Schlagen bewilligten Bäume so ein, dass sie zum Neuner und zur Marende bei Bauern waren, deren Selchküchen sichere Gewähr für guten Speck boten. Und manche der neuen Beamten trieben ihre Liebe zu den fleischgewordenen, verbotenen weißroten Landesfarben von einst so weit, dass sie jedem Petenten, ehe sie sich seinen Fall überhaupt anhörten, den in Zeitungspapier verpackten Bestechungsspeck mit kundiger Nase aus dem Rucksack rochen. Erst wenn das schmierige Paket aus der Nähe berochen, aufs Gewicht hin taxiert und in einer Lade verstaut war, holten sie aus einer anderen den Akt. Auf der anderen Seite der nationalen Barriere verhielt es sich nicht anders. In den Dreißigerjahren zogen nach und nach Makkaroni, Spaghetti, Paradeisersugo, Parmesankäse, Risotto und bunte Minestroni in die Bauernküchen ein. In den Kräutergärten wurden bis dahin unbekannte Gemüsesorten gepflanzt; und jedes Mal wenn ein Franziskaner vom Innichner Kloster bei uns einkehrte, gab ihm die Mutter ein Brieflein an den Bruder Gärtner mit, in dem sie diesen fürs kommende Frühjahr um bestimmte Pflänzchen und Samen bat. Der Durchbruch an der Küchenfront warf alle traditionellen Essensordnungen über den Haufen; wir aßen Pasta asciutta oder Risotto statt Polenta und Mus, die Minestroni ersetzten die Gerstensuppe, nur die Speckknödel retteten sich, ja, diese schier vollkommene, runde Speise – angefertigt aus dem besten Mehl, dem besten Speck, aus Würsten, Rindsgeselchtem, Milch und Eiern – schlug ihrerseits Breschen in die italienische Küchenmauer; sogar beim Gemeindediener aß man gelegentlich Knödel, wiewohl diesem in unserer Gemeinde die Erfüllung einer besonders delikaten Mission der Italianität aufgetragen war. Der alte Herr Staudinger, der „Mondschein“-Wirt, gab, halb im Ernst, halb im Spaß, den Weiberleuten die Schuld am Zerfall der alten Ordnung. Die Frauen, sagte er, seien das schwächste Glied in jeder Gemeinschaft, neugierig und nach allem Neuen gelüstend. Nur der Bauer weigere sich mannhaft, zu essen, was er nicht kenne, bis das Weib ihn mit appetitlichen Düften umgarne und durch systematisches Aushungern unters Makkaroni-Joch zwinge. Beim Kochen und Essen habe es angefangen und nun könne niemand sagen, was die Flut des Neuen alles noch fortspülen werde. Jene Bauern, die alles Überlieferte rein erhalten wollten, müssten fortan die Küchenfenster verrammeln und alles Weibliche entweder aus dem Haus jagen oder mit Ketten an die Herdstange schließen. Während er solche Ratschläge zum Besten gab, feixte der Herr Staudinger boshaft zu den Bauern hinüber, die in den Fensternischen karteten, und strich sich vergnügt über den silbergrauen Spitzbart. Gewiss war, was er sagte, nur Spaß. Aber reiner Spaß war’s doch nicht.

Während nämlich das neue Küchenzeug ins Haus kam, flog das altmodische Bettzeug (Strohsäcke, buntkarierte Tuchent- und Polsterüberzüge, vor allem aber die rupfenen Leintücher aus selbstgesponnenem, bäuerlich gewebtem Alpenflachs) aus dem Haus. Man hörte auch damit auf, Flachs anzubauen: Immer seltener sah man im Sommer in einer Ecke eines Korn- oder Erdäpfelackers den blauen Traum des blühenden kleinen Flachsfeldes und im Frühling die weiße Pracht der von den Bäuerinnen in die Sonne gelegten, jung gewebten Linnenbahnen. Der ölhaltige Flachs- oder Leinsamen wurde fürderhin beim Müller gekauft: Wie hätte man ohne Leinsamen Kälber aufziehen und allerlei Wunden bei Mensch und Tier häuslich heilen können? Das rupfene Tuch aber wurde durch baumwollenes Zeug aus der Fabrik ersetzt. Manche erblickten darin ein Indiz für die zunehmende Verweichlichung unserer Leute; der Taufpate beispielsweise wurde nicht müde, für alles Rupfene zu kämpfen, freilich nur platonisch, denn daheim hatte auch er sich schon dem Weiberregiment gefügt. Und wirklich meinte man, wenn man vom einem „gekauften Leintuch“ auf ein hausgemachtes, rupfenes übersiedelte, aus einem milden Ölbad auf ein quälendes Reibeisen geraten zu sein. Indessen hätten die Bauersleute das Stechen, Beißen und Kratzen der rupfenen Leintücher und Hemden sicherlich weiterhin auf sich genommen, zumal sie ja nie zuvor die sanfte Weichheit des gekauften Tuches am eigenen Leib erfahren hatten, wenn nicht letzten Endes wirtschaftliche Erwägungen gegen die Fortsetzung des Flachsanbaus gesprochen hätten. Die Verweichlichung könnte mithin, sofern sie überhaupt vorlag, nur Folge, nicht Ursache der hier dargestellten Entwicklung gewesen sein. Trotzdem wurde – und dies erscheint mir wesentlich – mit dem Rückgang des Flachsanbaus ein Stück der alten dörflichen Gemeinschaft zerstört. Wenn die Samenkapseln vom abgeernteten Flachs entfernt waren, wurden die Flachsstämmchen zunächst an einer sonnseitigen Leite zum Garwerden ausgebreitet: Regen, Tau und milde Herbstsonne zersetzten nach und nach die harte äußere Hülle der Stämmchen. War dies geschehen, so kam der große Tag des Brechelns: In einer großen gemauerten Grube am Waldrand wurde Feuer gemacht; über der Grube lag ein Rost aus dicken Holzstangen. Auf diesem Rost wurde der Flachs leicht angeröstet, ehe er in die Hände der Brechler und Brechlerinnen geriet. Die Brecheln waren tischhohe Holzgestelle, deren oberer Teil eine harte Scheide bildete, in welche die am einen Ende festsitzende hölzerne „Klinge“ hineingepresst wurde, damit einem Taschenmesser nicht unähnlich. Die letzten Reste der äußeren, wertlosen Hülle des Flachses wurden so entfernt und die blonde Flachsfaser befreit. Während sich die Körbe mit dem langen schönen „Haar“ füllten, dröhnte das emsige Schlagen der Brecheln durchs herbstliche graue Tal. Jeder Bauer brauchte zum Brecheln ein Dutzend und mehr Taglöhner, auch Nachbarn kamen zum Aushelfen: Es war ein emsiges Getratsche und Gerede, alles wurde da, indes die Brecheln sich lärmend hoben und senkten, besprochen und durchgehechelt, vom ledigen Kind bis zum Viehpreis, vom alten Vorsteher bis zum neuen Podestà. Der eigentliche Höhepunkt des Tages war jedoch das gemeinsame Mittagessen, zu dem das Brechelmus, ein köstliches Gericht aus Erdäpfeln und Rahm, aufgetischt wurde. Die Flachs-Röstgruben sind längst zerfallen. Die Kinder von heute wissen, wenn sie ein solches Loch sehen, nichts mehr damit anzufangen. Sei’s drum. Worauf es aber ankam, war, dass der Bauer, als er aufhörte, Flachs zu bauen, auch eine der wenigen Gelegenheiten im Jahr verlor, Menschen um sich zu scharen, Nachbarn zur Arbeit zu gewinnen, wofür auch er sich wieder von den Nachbarn gewinnen ließ. Das Ergebnis war nicht nur ein einsamer Tag mehr im Jahr, sondern auch der Verlust jener zwischenmenschlichen Dimension, die allein ums Brechelfeuer herum sich Jahr für Jahr erneuert hatte, wenn die finsteren Schwärme der Krähen über den Äckern den Winter verhießen und die feuerroten Beerendolden der Eberesche im fahlen Licht der Nebeltage leuchteten.

Solang die Krise währte und die Bürgschaften uns böse krächzend wie gefräßige Dohlen umflatterten, hielt man bei uns zu Haus am guten Brauch der Stör fest. Der Schuhmacher und der Schneider kamen je eine Woche oder auch zehn Tage zu uns ins Haus, um alles Alte zu flicken und zu erneuern und neue Gewänder, Mäntel, Hosen, Joppen und Schuhe anzufertigen. Die Meister und ihre Gesellen aßen für sich allein am Stubentisch; die Mutter kochte auch eigens für sie, und zum Neuner und zur Marende wurden Speck und Wurst aufgeschnitten. Der Schuhmacher, ein großer Mann mit vielen Kindern, der allzu früh an Schwindsucht starb, ließ stets ein wenig Speck und Wurst auf dem Teller übrig; das sei für die Kinder, sagte er zur Mutter. Er wusste, dass wir Speck und Wurst nur in den Knödeln zu essen bekamen. Da er ein so gutes Herz für uns hatte, mochte ich ihn gern, obgleich die Schuhe aus seiner Meisterhand vorne zwickten und hinten Blasen und Hautflecken bewirkten.

Der Schneider war ein Mann voller Schnurren und, wiewohl nur Bauernschneider, nicht ohne ästhetisches Gefühl: Er und ich versuchten gemeinsam – und stets erfolglos – der Mutter einzureden, dass meine kurzen Hosen ein wenig kürzer sein sollten, nicht ganz so kurz wie die Hosen der Buben der besseren Leute natürlich, dies wäre mir vermessen erschienen, aber doch annähernd so kurz und nicht bis zum halben Knie reichend. Der Schneidermeister füllte im Übrigen unsere Köpfe dermaßen mit Geistergeschichten und erdichteten Kriegsabenteuern (so wollte er in Galizien zwei aufs Bajonett gespießte Kosaken an dem geschulterten Gewehr einen Tagmarsch weit getragen und eine Medaille dafür bekommen haben), dass wir vor lauter Aufregung Schulbücher und Hausaufgaben vergaßen. Diese Handwerker halfen uns sparen. Häufig fügte es sich auch, dass die Schuhe, die sie für uns Kinder gemacht, und die Mäntel oder Hosen, die sie für uns geschneidert hatten, nach dem Ende der Störwoche einfach verschwanden. Fragten wir danach, so sagte die Mutter scheinheilig: „Die muss das Christkind mitgenommen und versteckt haben.“ Und wirklich waren die verschwundenen Sachen zu Weihnachten oder früher schon, zu Nikolaus, wieder da, und wir freuten uns über die Geschenke, als sähen wir sie zum ersten Mal. Auch nachdem wir aus den rupfenen Hemden geschlüpft waren, die auf der Haut gezwickt und gebissen hatten wie ein Heer von Ameisen, lebten wir altmodisch und genügsam wie eh und je. Die Holzhändler knauserten weiter mit dem Geld. Das Milchgeld blieb in der Sparkasse für die Bürgschaften, oder es musste zum Kaufmann getragen werden, weil wir Schulden hatten. Vielleicht waren wir sogar arm, obwohl wir Haus und Hof, Feld und Wald besaßen. Doch merkte außer uns niemand etwas davon. Ist im Dorf Besitzosigkeit schon eine Schande, so gilt Armut als ein abscheulicher Zwitter aus Strafe Gottes und Liederlichkeit, mag sie noch so unverschuldet sein. Der größte Schimpf, den man einem antun kann, ist, ihn Hungerleider zu nennen. Und jene Armut, die sich ihre Würde bewahrt hat, rächt sich dafür, indem sie die Reichen, die Besitzenden Hungerleider schimpft – einmal um die eigene asketische Verachtung für die irdischen Güter kundzutun (lieber arm und satt, als mir Geld und Gut zusammenhungern!), zum anderen, um die selbstgefällige Nächstenliebe der Besitzenden zu bestrafen, die die Wohltat als Bestätigung der Wohlhabenheit benötigt. Nie hätten meine Eltern damals zugegeben, dass es ihnen vorn und hinten nicht zusammenging. Im Gegenteil: je wohlhabender der Besuch, der ins Haus geschneit kam, desto mehr und Besseres tischte die Mutter auf, Speck und Wurst und Sennereikäse und Wein und Weizenbrot, und wenn der Gast höflich abwehrte, ohnehin nur pro forma, weil es sich so gehörte, dann drängte sie ihn, tüchtig zuzugreifen.

„Wir haben’s ja. Uns fehlt’s an nichts. Wir haben das jeden Tag. Wir lassen uns nichts abgehen, müsst ihr wissen. Jeden Tag haben wir das.“ Natürlich ging all das, was der Gast verzehrte, den Hausleuten ab. Nur fiele es einem Bauern oder einer Bäuerin nie ein, sich das einzugestehen. Eher bedauert man die einem wirklich Armen erwiesene Wohltat als das dem Wohlhabenden, dem Vermögenden vorgesetzte reiche Mahl. Das Bewusstsein, diesem den Reichtum der Speisekammer vor Augen geführt zu haben, vermag sogar den schalsten Gerstenkaffee in ein betörendes Getränk zu verwandeln. Nein, wir waren nicht arm. Wir hatten genug zum Leben und zum Sterben. Wir waren nur bescheiden, wenngleich diese Bescheidenheit genau dem entsprach, was die Mittel erlaubten und somit gar keine war. Doch wer wollte Bescheidenheit ertragen, wenn er sie sich nicht als Tugend anrechnen dürfte?

Claus Gatterer, Schöne Welt, böse Leut, Kindheit in Südtirol

Mit einer Nachbemerkung von Arno Dusini

Folio Verlag, Halbleinen, farbiger Vorsatz

439 S., 13,5 x 21 cm

ISBN 978-3-85256-672-6