Kultur | Aus dem Blog von Gerhard Mumelter

Abschied von der Serenissima

Waltraud Mittichs neuer Roman ist eine Spurensuche, in der Straßen das Schicksal der Menschen prägen.

Straßen sind nicht nur Asfaltbänder. Sie dienen Reisenden und Truppentransporten, verbinden Kulturen, verlieren sich im Horizont, sind Schauplätze menschlicher Schicksale. In Waltraud Mittichs vielschichtigem Roman "Abschied von der Serenissma" prägen Straßen und ihre wechselvolle Geschichte das Leben der meist weiblichen Hauptfiguren.

Die Autorin begibt sich im Text auf eine mühsame und schmerzliche Spurensuche nach ihrer Mutter, die "alles, was ihr widerfahren ist, mit grenzenloser Passivität ertragen hat".  Zwei kleine Schwarzweißbilder führen sie zunächst nach Alassio, dem vornehmen Urlaubsort an der ligurischen Küste, wo sie "im weißen Leinenkostüm unter einer Palme steht". Als Dienstmädchen einer  wohlhabenden Familien erlebt sie dort "die faschistische Transformation der italienischen Gesellschaft." Doch je intensiver die Autorin sucht - sie fördert bei ihren Nachforschungen nur Bruchstücke zutage, Fragmente "einer ramponierten, nicht einmal zur Hälfte ausgefüllten Biographie". 

Doch je intensiver die Autorin sucht - sie fördert bei ihren Nachforschungen nur Bruchstücke zutage, Fragmente "einer ramponierten, nicht einmal zur Hälfte ausgefüllten Biographie". 

Ein weiteres Bild zeigt die Mutter mit weißer Schürze als Kaffeköchin im Weißen Rössl am Wolfgangsee. Spuren führen nach Innsbruck, Bad Goisern, Konstanz - lösen "Erschrecken aus darüber, daß ich nicht weiß, vielleicht nie wissen werde, wo ich meine ersten drei Lebensjahre verbracht habe." Es ist ein "Hinabsteigen in das Bergwerk der Erinnerung", in die Wirrnisse der Nachkriegsjahre, wo sich die Begegnung mit jenem russischen Gefangenen im Dunklen verliert, der ihr Vater war. Einprägsam und berührend das Ausleuchten der Vergangenheit im kargen Toblach der frühen 50-er Jahre.  Im Pustertal ist auch die zweite Episode angesiedelt: die Geschichte der Schulfreundin Rosina, "Tochter einer Kleinhäuslerfamilie mit tiefschwarzem Haar, wie eine Zigeunerin." 

"Erschrecken darüber, daß ich nicht weiß, vielleicht nie wissen werde, wo ich meine ersten drei Lebensjahre verbracht habe." Es ist ein "Hinabsteigen in das Bergwerk der Erinnerung"

Eindrücklich die Schilderung aus Jahren,  in denen "Worte wie BH nur geflüstert" wurden und "in einer Mooshütte versteckt wurde, was niemand sehen sollte, Lippenstifte und Nagellacke, entwendet in der Trafik, auch Zigaretten und rote Farbe für die Wangen, die wir nun wirklich nicht brauchten." Die "Erinnerung an Straßen und Wege, die sie mit Rosina abgeklappert hatte" erwacht auf dem Jakobsweg entlang der Drau, an der sie als "Mädchen sein linkes Ohr ins Wasser gelegt hatte, um zu hören, was es zu erzählen hatte." Irgendwann verschwindet Rosina im Postbus über jene Via Alemagna, deren Geschichte als bildhafter Erzählstrang in den Text gewoben wird: der Bau der Straße unter der Habsburger Monarchie, das erste Hotel in Cortina, die Villen der venezianischen Patrizier - eine Welt, von der Rosina als Prostituierte an der Autobahnausfahrt Welten entfernt war - "auf dem Straßenstrich, wo die Huren an kalten Novembertagen Autoreifen anzünden".

Ariadne, die dritte weibliche Hauptperson, ist in Genf geboren und lebt in Brüssel. Ihre ebenfalls aus Toblach stammende Mutter Tina hat sie zur Adoption freigegeben. "Als das Kind über seine Herkunft aufgeklärt wird, reagierte es hart und wurde bockig, lehnte sich dagegen auf." Ariadne "will nichts zu tun haben mit diesem Stöbern in der Vergangenheit". Doch auch sie findet den Weg zu einer "langsamen, qualvollen Annäherung an das Land meiner Mutter".  Dabei ist ihr Moia behilflich, eine  Jugendfreundin ihrer Mutter, der sie  in Bozen bei der Alexander Langer-Stiftung begegnet.

Ariadne "will nichts zu tun haben mit diesem Stöbern in der Vergangenheit".

Der EU-Parlamentarier und Friedensaktivist, der bereits in den sechziger Jahren den Wert von Mehrsprachigkeit und Multikulturalität erkannt hatte, wird zum imaginären Gesprächspartner der beiden Frauen und Ariadne entdeckt ihn als eine Art geistige Vaterfigur:" Je öfter ich in das Land meiner leiblichen Mutter zurückkomme, desto mehr habe ich das Gefühl amputiert zu sein, kein ganzer Mensch".  Amputation, Entwurzelung, Sprachlosigkeit, äußere und innere Grenzen, Spurensuche und Identitätsfindung sind Kernthemen, die sich in Waltraud Mittichs ansprechendem Buch kreuzen - ganz so wie das Gewirr der Straßen, auf denen sich  seine Akteure bewegen.