Der Prophet
Der Beruf des Propheten wird häufig mißverstanden. Der Prophet ist lediglich für die Prophezeiung verantwortlich, nicht für deren Eintreffen. Dafür ist der Eintreffist zuständig. Es ergibt sich daraus häufig eine schwierige Situation, weil leider immer noch die Kooperation zwischen Propheten und Eintreffisten zu wünschen übrig läßt. Der Versuch des Propheten Dr. Martin Morasti, die Fusion der Propheten-Gewerkschaft mit der Vereinigung der Eintreffisten für Dienstag den 27. Mai 2008 vorherzusagen, scheiterte an derHaltung der Eintreffisten, die sich weigerten, das Ereignis am 27.Mai 2008 eintreffen zu lassen.
„Am 26. Mai – ja – oder am 28. Mai, aber nicht am 27.“, verkündete Prof. Treumund Reckenriegel, der Sprecher der Vereinigung der Eintreffisten. Dr.Morasti bekameinenWeinkrampf und schluchzte: „Wie steh’ ich dann da!“ Der tückische Reckenriegel verstieg sich nun dazu zu sagen: „Ich prophezeie“ (man höre! er, der Eintreffist prophezeit), „daß sein Weinkrampf spätestens dann aufhört, wenn er abends beim Bier sitzt.“ Erstaunlicherweise traf diese Prophezeiung ein.
Es gibt ganz unterschiedliche Arten von Prophezeiungen. Da ist einmal die Kurzfrist-Prophezeiung. Ein Beispiel: Der Prophet Anselm Brotmergl prophezeite seiner Frau im Auto: „Wir sind zu spät dran. Ich prophezeie dir, daß der Hummer vom Buffet von den anderen schon weggegessen ist.“ Die Prophezeiung traf zu hundert Prozent zu.
Eine Sonderform ist die sogenannte Abgesicherte Prophezeiung. Auch hierfür ein Beispiel: Der Hauptprophet der Regierung von Unterfranken, Benedikt Ursinus Gähkofler M.A. prophezeite am 17. Juni 2001: „Entweder wird morgen schönes Wetter oder es regnet weiter.“ Auch diese Prophezeiung ging zu hundert Prozent in Erfüllung. Ein geniales Beispiel Abgesicherter Prophezeiung gelang dem Oberbürgermeister Christian Ude von München, als er nach dem vermutlichen Ausgang der nächsten Wahl gefragt wurde und sagte: „Ich prophezeie, daß die SPD bei dieser Wahl hervorgehen wird.“
Zum Schwierigsten gehört die langfristige Prophezeiung. Dem baden-württembergischen Propheten Paul-Helmuth Napfhäble gelang die epochemachende Prophezeiung: „Der Bodensee trocknet aus!“ Auf die entsetzte Frage: „Wann?“ antwortete er gefaßt: „In ferner Zukunft.“
Die seltenste Form der Prophezeiung ist die Sich-selbst-erfüllende solche. Zum Beispiel: Wenn Sie, geehrte Leserin, geehrter Leser, dieses Kapitel des „Bilderbuchs der Unberufe“ gelesen haben, haben Sie zehnmal das Wort „Prophet(en)“* gelesen.
* – einschließlich dieses.
Aus:
Herbert Rosendorfer / Kay Voigtmann: Der Gnadenbrotbäcker. Das Bilderbuch der Unberufe, Folio Verlag (Wien / Bozen)