Kultur | Salto Afternoon
Über allen Gipfeln
Foto: Trailer Youtube
Der letzte Sohn des durch Abwanderung fast aufgelösten Bergdorfs Graines im Aostatal, Bruno, trifft auf Pietro, einen Jungen aus Turin, der den Sommer mit seiner Mutter im Ort verbringt. Dem belgischen Regieduo Felix Van Groeningen und Charlotte Vandermeersch gelingt eine klare Übersetzung der Buchseiten von Paolo Cognetti (u. a. 2017 mit dem Premio Strega ausgezeichnet) auf die Leinwand (Preis der Jury in Cannes ex aequo mit „Eo“). Hier nimmt man sich mit 147 Minuten die Zeit, die es braucht um zwei halbe Leben zu erzählen. Zeit nimmt man sich auch um schöne Bergbilder in 1,37 zu 1 (Academy Ratio) einzufangen. Auch diese - zum Teil per Drohne aus der Vogelperspektive, zum Teil von Gipfeln auf geschossenen - sind Teil des besonderen Reiz des Films.
Da die Einleitung im Jahr 1984 zwei zwölf, später dreizehnjährige Jungen sieht, ist zu erwähnen, dass den beiden italienischen Nachwuchsdarstellern eine solide, unaufdringliche Darbietung gelingt. Ihre Aufgabe ist es vor allem, die Kernerinnerungen zum Leben zu erwecken, auf welche sich Luca Marinelli (Pietro) und Alessandro Borghi (Bruno) im späteren Verlauf rückbesinnen. Hier, zu Beginn, mag etwa der Soundtrack des Norwegischen Indie-Interpreten Daniel Norgren in der alpinen Landschaft noch etwas befremdlich klingen, wird aber zusehends zur emotionalen Stimme des Streifens, passt besser in Konzept als sich auch die Handlung des Filmes über das Aostatal hin ausweitet.
Aus für die beiden Kinder im Jetzt der Handlung unverständlichen Gründen kommt es durch deren Eltern zu einem Bruch in der Freundschaft, zu einem richtigen Wiedersehen welches mehr ist als ein Kopfnicken in einer Bar kommt es erst durch den Tod von Pietros Vater Giovanni (Filippo Timi), als beide bereits 30-jährig sind. Gerade an dieser Szene offenbart sich der Charakter der Freundschaft, die nichts fordert, verzeiht und in Momenten in denen man sich, das Bild teilt, immer wieder aufkeimt, zum Teil mit weiteren Jahren der Distanz, die auf- und abgearbeitet werden. Neben der Liebe zu den Bergen schweißt die beide eine komplexe Beziehung zum jeweiligen Vater zusammen - diese wird im Falle Pietros aktiv über den Film hinweg aufgearbeitet, bei Bruno in ihrer Unversöhnlichkeit erzählt.
Auch sonst unterscheidet die beiden jungen Männer mit Vollbart eine Gegenüberstellung zwischen Statik und Veränderung, variabel über den Film hinweg. Später kommt gerade der Bart als Markier eben hierfür zum Einsatz: Während Brunos Gesichtsbehaarung verwildert, trennt sich Pietro von seiner, in einem Moment, in welchem sich die Protagonisten voneinander entfernen. Der mittlerweile erwachsene Stadtjunge (sein Leben beschreibt er selbst in einem Voiceover als halb jenes eines Jungen, halb jenes eines Mannes) zieht aus um die Welt und den Nebenschauplatz Nepal zu erkunden. Das Dorfkind, dessen Kindheit mit 13 endete, bleibt für die Dauer der Erzählung fast gänzlich ortstreu. Nach einer Heimkehr von vielen erklärt sich auch der Titel des Films, spät, aber in einer berührenden Szene. Die individuelle Abwendung von der Vaterfigur gestaltet sich verschieden: Wird Pietro, der im Roman als Stand-In für Cognetti selbst steht, nach langem Suchen zum Schriftsteller, so greift Bruno die Familientradition der Käseproduktion und des Bergnbauern-Lebens wieder auf, welche sein Vater - im Film abwesend - zuvor aufgegeben hatte.
Pietro, der für den Kinogänger als personale Erzählstimme greifbarer wird als der Freund mit Einsiedlerzügen , entwickelt sich zu einer komplexen Figur. Gerade die Vater-Sohn-Zerwürfnisse von ersterem werden in vielleicht kitschiger, aber emotional resonanter Art und Weise posthum aufgearbeitet. Es handelt sich aber nur um die zweitwichtigste Beziehung des Films. Die enge Männerfreundschaft wischen Pietro und Bruno (neudeutsch wäre man versucht von einer „Bromance“ zu sprechen) übersteigt, auch durch einfühlsames Schauspiel, diese und auch die Liebe zum Berg. Ein Film, der, wenn die Rahmenbedingungen günstiger wären in die Berge locken würde und einen auf eine emotionale Berg- und Talfahrten mitnimmt: Taschentücher sind für den Kinobesuch empfohlen.
„Le otto montagne“ ist in fast allen Kinos des Landes zu sehen.
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