Kultur | Buchveröffentlichung

Codewort: Tiroler

Die geheime Gästekartei eines ehemaligen Schweizer Grandhotels gewährt Einblicke in eine düstere Zeit und die Sitten eines Tourismus früherer Tage.
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Foto: Romedo Guler

Yvonne R., eine Dame aus New York „spinnt auf Hochtouren!“, „ihre Spinnitis macht galoppierende Fortschritte.“ Von Fräulein Schuchhalter heißt es, sie sei eine „Intrigantin“, eine „buckelige, alte Hexe“. Ein Fabrikant aus Nizza sehe hingegen aus wie ein „Zigeunerbaron“, sei aber ein „fideler und lustiger Mann“. Es sind solche und andere, weit brisantere Beschreibungen der kosmopolitischen Gästeschaft, die sich auf Karteikarten des ehrwürdigen Schweizer Grand Hotels Waldhaus in Vulpera, im bündnerischen Unterengadin finden.

Was auf den ersten Blick unscheinbar wirken mag, birgt einen kulturhistorischen Schatz, der ein schemenhaftes und doch so detailliertes Bild eines turbulenten halben Jahrhunderts und des Tourismus jener Zeit offenbart. Einen Bestand von rund 20.000 Karteikarten, die bis zu 100 Jahre zurückdatieren; von den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre, lange gehütet vom letzten Direktor des Hauses, der diesen von seinem Vorgänger vererbt bekommen hatte.

 

In einem Nebengebäude gelagert, entgingen die Karteikarten den verheerenden Flammen des Jahres 1989, die das geschichtsträchtige Kurhotel vollständig niederbrennen ließen. Rolf Zollinger, der als letzter die Geschicke des Hotels leitete, verwahrte die verschriftlichten Überbleibsel, wohlwissend um deren immensen Wert und historische Brisanz. In dessen Obhut wären diese wohl auch verblieben, vor jeglicher Öffentlichkeit wohlverborgen.

Mit dem Band „Keine Ostergrüsse mehr!“ gelang es nun gerade einem Tiroler Fotografen und profunden Kenner des alpinen Massentourismus wie Lois Hechenblaikner, Zollinger nach jahrelangen Bemühungen, von einer Herausgabe der Karten in Form eines Buches zu überzeugen: „Ich habe ein allumfassendes Interesse für dieses Genre, den kultursoziologischen Blick weit über das Bild hinaus. Vom Campingplatz bis zum 5-Sterne-Hotel: Überall wo sich Tourismus abspielt, wo Menschen sind, entstehen Geschichten. Und es gibt wahrscheinlich nichts, was allzu menschliche und unmenschliche Geschichten hervorbringt, als so ein Hotel.“ 

 

Karteikarte als Machtinstrument

 

Die Karteikarten des Grand Hotel Waldhaus erzählen vielfältige Geschichten, zusammengetragen von Zimmermädchen und Kellnern, von Rezeptionisten und Concierges mit Schreibmaschine dokumentiert, bisweilen handschriftlich ergänzt. Im Mittelpunkt stehen der Gast, seine Vorlieben und Makel, sein Benehmen, Auftreten und sein Abtritt. Vom Italiener, der über die Küche schimpft, von Schlafwandlern und „blöden Gänsen“, über mal diskrete, mal weniger diskrete Liebschaften bis zu jenen netten, aber „billigen“ Gästen oder Journalisten, die sich mit dem Versprechen einer wohlwollenden Berichterstattung Rabatte zu ergaunern erhofften, lassen die rechteckigen Kärtchen kaum eine Facette des Menschen aus.

„Sie erlauben so viele Perspektiven. Auf die Gäste, auf die Personen, die sie geschrieben haben, auf die Zeitumstände, in denen Sie geschrieben wurden und dieses ganze Beziehungsgeflecht“, gibt sich die Kulturwissenschaftlerin und Mitherausgeberin Andrea Kühbacher fasziniert. Im Waldhaus verkehrten und residierten Großindustrielle, Barone und Bankiers, Diplomaten, Künstler und Schriftsteller. Hochrangige Namen zieren die Gästekarten des „großbürgerlichen Palastes“; Bosch, Siemens, Thyssen, Dürrenmatt. Namen und Adressen aus aller Herren Ländern. Die Karteikarten berichten laut Lois Hechenblaikner von der Begegnungskultur des Menschen und zeigen die vielen Gesichter der Tourismuswirtschaft: „Bei der Anreise bringt der Gast nicht nur seinen Koffer mit, sondern sowohl seine menschlichen Qualitäten, als auch Teile seiner seelischen Mülldeponie. Ein Hotel ist ein 24-Stunden-Betrieb, der Menschen abbildet in der wunderbarsten Form, aber auch in den schlimmsten Verwerfungen.“

 

„Was auf diesen Karten geschrieben steht, ist essentiell, ein Destillat, sind intimste Eintragungen dessen, was zwischen Reisendem und Bereistem, zwischen Gast und Gastgeber abläuft.“

 

Die Aufzeichnungen sind gleichzeitig auch das Machtinstrument der vermeintlich sozioökonomisch Schwächeren, sie sind die stillen Waffen der Belegschaft im Umgang mit einer reisenden Gesellschaft, deren Launen und Sitten man allzu oft wehrlos ausgeliefert zu sein schien. Wer durch abschätziges Gebaren auffiel, sich die Missgunst der Angestellten einhandelte, der bekam eine „Watschn, festgehalten auf diesen Karteikarten“, schildert Hechenblaikner, der erstmals vor zehn Jahren von der Existenz der Sammlung Wind bekam. Die letzte Instanz des „geschäftlichen Liebesentzugs“ stellten schließlich die ausbleibenden Ostergrüße dar. Süffisant vermerkt nebst teils amüsant ehrlichen, teils aber unverblümt rassistischen und antisemitischen Zeilen.

 

Die Fratzen des Hotels

 

Nicht alle Karteikartenfunde erheitern, regen zum Schmunzeln an, sondern zeugen von den schlimmsten Fratzen jener Zeit. Viele Aussagen berichten von einer Stimmung, wie sie in der Zwischenkriegszeit der 1920er und 1930er Jahren auch in der Schweiz breit fußgefasst haben dürfte. Wurden Karten jüdischer Gäste zunächst noch mit Kennzeichnungen wie „jüdisch, aber nett“ versehen, finden sich zehn Jahre später schon Vermerke wie „unausstehlicher, frecher Jude“, „Saujude“ oder „das schönste Exemplar seiner Rasse“, erzählt Andrea Kühbacher, die nach zahlreichen biographischen Details zu den Gästen forschte: „Mich hat es berührt, zu sehen, wie so ein Antisemitismus plötzlich salonfähig wurde.“ Man dürfe aber nicht den Fehlschluss aufstellen, es wäre einzig ein Nazi an der Rezeption gesessen, der alles aufgeschrieben habe, beteuert Kühbacher. „Das dürfte vielmehr eine Stimmung gewesen sein, etwas, das in der Luft gelegen ist und was man dann eben niedergeschrieben hat.“

 

„Die Rezeption war der Kristallisationspunkt, wo man alles zusammengesammelt hat, was einem zugetragen worden ist, was man beobachtet hat, was getratscht worden ist.“

 

Im Hotel tummelten sich zur selben Zeit ranghohe Nazis, sowie Jüdinnen und Juden aus aller Welt. Die Karteikarten berichten von deklarierten Judenfeinden, die andere Häuser aufsuchten, weil im Waldhaus „zu viele Juden“ nächtigten. Viele jüdische Gäste blieben dem Kurhotel mit verstreichen der 1930er Jahre zusehends fern. Versandte Ostergrüße seien 1939 stapelweise zurückgekommen, wie Kühbacher auf den Eintragungen feststellen konnte. Als „gruselig“ beschreibt sie es, wenn auf den Karteikarten unzählige Male „verzogen“ steht, obwohl diese stumm von Flucht, Deportation und Tötung berichten.  

 

Juden im Gewand des „tüchtigen Tirolers“

 

Während die Rezeptionisten und Concierges ihre Kategorisierungen zumeist unverhohlen verschriftlichen, wurden jüdische Gäste bisweilen auch subtiler gebrandmarkt. „Wir waren irritiert, Karteikarten von Gästen aus Berlin mit vollkommen untirolerischen Namen vorzufinden“, erzählt Andrea Kühbacher. Dennoch stieß man bei eben jenen Karten auf die Bezeichnung „Tiroler“ oder „Tirolerer“. Andere Karteikarten enthielten das Kürzel „p“ – auch mehrfach. Einem Team von Kriminologen gleich, so Hechenblaikner, habe man eifrig an der Dechiffrierung der mysteriösen Brocken gearbeitet, bis man schließlich herausfand, dass es sich um verdeckte Codes für Juden handelte.

 

„Es wurde ein Analogieschluss von der Geschäftstüchtigkeit der Zillertaler und Tiroler auf die Juden gezogen“, erklärt Kühbacher. Zum Teil heute noch würden jüdische Gäste im Tourismus als Tiroler bezeichnet. Laut Lois Hechenblaikner ist dies eine glatte „Draufgabe, zu all den medialen Tirol-Tsunamis, die binnen eines Jahres über das Land hinweggefegt waren.“

Die Bezeichnung „Tiroler“ dürfte keine Unterengadiner Seltenheit gewesen sein, das Kürzel „p“ aber war wohl ein Unikat des Grand Hotel Waldhaus, das insbesondere nach 1945 Verwendung fand. Abgeleitet von Palästina stand es ebenso für jüdische Gäste. „Es wurde schnell klar“, bestätigt Kühbacher, „umso mehr p auf der Karteikarte, desto negativer die Sichtweise auf die Gäste.“

 

Anstoß für weitere Forschung

 

Kulturwissenschaftlerin Andrea Kühbacher und Fotograf Lois Hechenblaikner hoffen, dass mit dem Erscheinen des Werkes ein Stein ins Rollen gebracht wird, der weitere Forschung in diese Richtung auf den Plan ruft. „Wir haben die Spur gelegt für eine neue Betrachtung und kulturmorphologische Untersuchung des Hotels, an einem Bestand, der einmalig ist.“ Geht es nach Lois Hechenblaikner, dann auch über die eidgenössischen Grenzen hinaus. „Ich hoffe, dass sich auch Südtirol Gedanken macht und eine Innenschau in die Dunkelzonen der eigenen Seele unternimmt." Mit einem ausführlichen Beitrag zur Geschichte des Grand Hotels Waldhaus, verfasst von keinem geringeren als Hans Heiss, trägt das Werk zumindest auch partiell eine Südtiroler Handschrift.   

 

Ob es nun eine kritische Debatte geben wird, hänge davon ab, wie die Schweiz diese Funde einschätze, findet Andrea Kühbacher. „Sagt man, das war nur eine Marotte von zwei oder drei Leuten an der Rezeption oder setzt man sich damit auseinander, dass es eben auch in der Schweiz sehr wohl einen ganz klaren und massiven Antisemitismus gegeben hat?“ Die Meinung aus dem Buch heraus scheint eindeutig, Antisemitismus in der Schweiz sei „mehr als nur ein Oberflächen-Phänomen“ gewesen. Für Lois Hechenblaikner ist indes klar: „Das Buch wird heftigste Reaktionen in der jüdischen Welt auslösen.“

Geht es nach den Herausgebern, bieten die Funde nicht zuletzt einmaligen Stoff für eine Verfilmung oder ein Theaterstück. „Ein Bühnenautor könnte mit einer Handvoll Karteikarten sowohl eine Komödie, als auch eine Tragödie schreiben", meint Andrea Kühbacher. Der große Schweizer Schriftsteller und Dramatiker, Friedrich Dürrenmatt, ehemals selbst Gast des Waldhaus Vulpera, hätte wohl seine Freude an dem Material gehabt.