Vorfahrt für die Lehre!
Wie dieser Ausbildungsweg aussieht und wer sich dafür entscheidet erklärt der Arbeitspsychologe Tobias Hölbling vom AFI | Arbeitsförderungsinstitut.
salto.bz: Wie gestaltet sich das Lehrlingswesen in Südtirol?
Tobias Hölbling: Das Lehrlingswesen in Südtirol kennzeichnet sich dadurch, dass die Autonome Provinz Bozen die primäre Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Berufsausbildung hat. Wir halten uns eng an das deutsch/österreichische Modell der dualen Ausbildung. Das bedeutet eine Kombination aus „Lernen im Betrieb“ und „Lernen in der Berufsschule“. Theoretische Kompetenzen erwirbt der Jugendliche in der Schule und praktische Kompetenzen erlernt er im Betrieb.
Auf welche Traditionen beruft sich dieses Ausbildungsmodell?
Dieses System reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück und hat im Laufe der Zeit dafür gesorgt, dass es im deutsch-mitteleuropäischen Raum eine gute und hoch qualifizierte Basis an Arbeitskräften gibt. Wir sprechen also nicht von einem System, in dem es nur einige Spezialisten gibt und der Rest ist schlecht ausgebildet, sondern die Rede ist von einer breiten Masse an Fachkräften.
Inwiefern unterscheiden wir uns hier von anderen Ländern?
In England gab es andere historische Voraussetzungen. Die industrielle Revolution hat dort schon sehr früh eingesetzt. Für die Wartung und Bedienung der Maschinen brauchte man nur wenige Spezialisten. Für die Weiterverarbeitung der Produkte brauchte es dann die Masse. Eine Ausbildung im mitteleuropäischen Sinne war deshalb nicht notwendig und nicht gefragt. Es gibt grundsätzlich drei Traditionslinien. Eine ist an England angelehnt, eine ist die bereits vorhin genannte deutsch-mitteleuropäische Traditionslinie und die dritte ist die eher südeuropäische Traditionslinie, die eher auf theoretische Kompetenzen setzt. Hier ist die humanistische Tradition ganz stark entwickelt und es wird Wert auf eine breite allgemeinbildende Ausbildung gelegt. In Italien streben zum Beispiel ganz viele eine Matura an und relativ viele erlangen einen Universitätsabschluss. In Südtirol können wir sehr froh um die gut funktionierende duale Ausbildung sein. Das ermöglicht den Jugendlichen, die sich mehr fürs Praktische interessieren, eine handfeste Ausbildung, die sie dann in gefragten Berufen unterbringt.
In Südtirol können wir sehr froh um die gut funktionierende duale Ausbildung sein. Das ermöglicht den Jugendlichen, die sich mehr fürs Praktische interessieren, eine handfeste Ausbildung, die sie dann in gefragten Berufen unterbringt.
Ich habe erst kürzlich in einer lokalen Tageszeitung gelesen, dass sich schon vor dem Abschluss eines Jahrgangs Betriebe bei den Schulen und den Schülern melden, um sie anzuwerben. Das bestätigt den hohen Stellenwert der Berufsausbildung in Südtirol und im ganzen mitteleuropäischen Raum, weil sie Theorie und Praxis verbindet und nach Bedarf ausbildet.
Was sind arbeitspsychologische Vorteile der Lehrlinge?
Das Gute an der Lehre ist, dass junge Leute gleich mit der Arbeitswelt in Berührung kommen. Sie verdienen von Beginn an Geld und lernen dadurch früh Stück für Stück auf eigenen Beinen zu stehen. Darauf können sie stolz sein. Auch wenn es zu Beginn nicht viel ist, ist es immer noch mehr im Gegensatz zu einem Schüler oder einem Studenten, der gar nichts während seiner Ausbildungszeit verdient. Eigenes Geld zu verdienen ist ein Erfolgserlebnis. Ebenso wie das Produkt, das mit der eigenen Arbeit geschaffen wird, beispielsweise die zubereitete Speise oder der fertige Tisch. Der Jugendliche sieht das Ergebnis seiner Arbeit und die Zufriedenheit beim Kunden. „Ich erschaffe etwas“ - dieses Selbstwirksamkeitserleben ist ein wichtiger Aspekt. Im Laufe der Ausbildung kommt immer mehr Verantwortung auf den Jugendlichen zu. Das ist wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung. Auch die Sozialkompetenz wird gestärkt. Ein junger Mensch lernt mit Kunden und Arbeitskollegen im Betrieb gemeinsam an einer Sache zu arbeiten. Dabei wird die Teamfähigkeit entwickelt, denn ohne kommt man in einem Handwerksbetrieb oder im Gastgewerbe nicht weit. Bei sämtlichen Handwerksberufen ist Zusammenarbeit gefragt. Diese Kompetenz ist transversal. Das bedeutet sie wird in einem Bereich, hier dem Beruf, entwickelt und kann in einen anderen Bereich, in der Freizeit oder im Verein, genauso miteingebracht werden.
Ein junger Mensch lernt mit Kunden und Arbeitskollegen im Betrieb gemeinsam an einer Sache zu arbeiten. Dabei wird die Teamfähigkeit entwickelt, denn ohne kommt man in einem Handwerksbetrieb oder im Gastgewerbe nicht weit.
Die duale Ausbildung erfreut sich in Südtirol eines guten Rufes. Ist das berechtigt?
Ich finde es persönlich, aber auch aus einem psychologischen Blickwinkel heraus sehr gut, dass Lehrberufe und die duale Ausbildung in Südtirol in der Bevölkerung gut angesehen sind. Jugendliche, denen praktische Tätigkeiten liegen und die nach der Mittelschule nicht mehr Vollzeit zur Schule gehen wollen, haben dadurch eine sozial angesehene Möglichkeit, direkt gefragte Berufe zu erlernen. Überspitzt gesagt, sie müssen sich nicht bis zur Matura quälen, bloß um einen Abschluss zu erlangen, „um etwas wert zu sein“, sie können direkt das machen, was ihnen zusagt.
Oftmals wurde Jugendlichen früher von der Berufsschule abgeraten, damit sie sich alle Türen offenlassen. Ist das ein Argument?
Nein, denn jemand, der mit 15 sagt, er will Tischler werden und mit 18 oder 19 erkennt: Ich will die Matura machen, der hat die Möglichkeit dazu. Ihm stehen mit der umgangssprachlich genannten „Berufsmatura“ genauso alle Studiengänge offen. Das bedeutet, jemand, der einen Lehre beginnt, ist später in keiner Weise eingeschränkt. Es ist keine Weichenstellung fürs Leben, sondern eine durchlässige Ausbildung.
Wie kommt es zu dem Ungleichgewicht zwischen deutschsprachigen und italienischsprachigen Südtirolern und wie stark ist es?
Das soziale Umfeld und auch die Bildungstradition hat hier sehr viel Einfluss. Wie aus dem aktuellen statistischen Jahrbuch des ASTAT ersichtlich ist, werden 91% der traditionellen Lehrlinge an Berufsschulen mit deutscher oder ladinischer Unterrichtssprache unterrichtet, bei den reinen Vollzeitkursen ist das Verhältnis immer noch 73% deutsche bzw. ladinische zu 27% mit italienischer Unterrichtssprache. Dafür besuchen 32% aller Oberschüler eine italienischsprachige Oberschule, was eindeutig mehr ist, als man sich vom Bevölkerungsanteil her erwarten würde. Die Berufsschule ist im deutschsprachigen Umfeld eindeutig beliebter als im italienischsprachigen. Das könnte einerseits dadurch bedingt sein, dass die meisten italienischsprachigen Südtiroler in Städten leben. In jedem städtischen Umfeld europaweit wählen Jugendliche meist andere Bildungswege. Lehrberufe sind im ländlichen deutschsprachigen Raum verbreiteter und daher kennt man auch mehr Menschen, die Lehrberufe ausgewählt haben und diese erfolgreich ausüben, sich eventuell sogar damit selbständig gemacht haben. Zudem fehlt das positive und bejahende Umfeld in Hinblick auf Lehrberufe im städtischen Raum. Es kommt dazu, dass der italienische Kulturkreis mehr Wert auf theoretische Allgemeinbildung legt. Der Stellenwert des Studiums, auch vielleicht als Selbstzweck, ist hier höher. Es herrscht eine andere Bildungstradition vor, die unter anderem auch dafür verantwortlich ist, dass Italiener proportional mehr Universitätsabschlüsse haben.
In welche Richtung wird sich das Lehrlingswesen in Zukunft entwickeln?
Das Interesse an der Lehre nimmt zu, die Zahl der Lehrlinge zwischen 15 und 18 ist in den letzten fünf Jahren sogar um 13% gestiegen. Durch den Fachkräftemangel werden sich mehr Unternehmer als bisher dazu entschließen, minderjährige Jugendliche anzustellen und auszubilden- sie brauchen ja Arbeitskräfte. Das wird auch in Zukunft so sein, nur wird der demografische Wandel es mit sich bringen, dass nicht mehr alle Lehrstellen besetzt werden können, weil einfach weniger Jugendliche nachrücken. Das führt dazu, dass Betriebe um die potenziellen Lehrlinge werben müssen: Wer einen guten Ruf hat, bei wem die Arbeitsbedingungen passen, das Team kollegial ist, der wird sich leichter tun, Jugendliche und ihre Eltern als Ausbildungsort zu überzeugen.