Gesellschaft | Interview

"Langzeitfolgen zeigen sich jetzt"

Donatella Arcangeli erklärt, warum der Druck auf die Kinder- und Jugendpsychiatrie weiter steigt und welche Maßnahmen langfristig gesetzt werden müssen.
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Donatella Arcangeli leitet seit Oktober die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Südtirol. Im Gespräch mit Salto.bz gibt Arcangeli, die selbst auch längere Zeit im Privatsektor als Psychologin tätig war, Einblick in die momentane Situation: Der Druck steigt weiter, die Langzeitfolgen der Pandemie äußern sich erst jetzt.

 

Salto.bz: Die im Psy-Bereich Tätigen schlagen seit zwei Jahren Alarm: Die Covid-Krise schlägt sich maßgeblich auf die psychische Gesundheit, vor allem jene von Kindern und Jugendlichen, nieder. Hat sich die Lage mit den Lockerungen in den letzten Monaten etwas gebessert?

Donatella Arcangeli: Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem sich die Langzeitfolgen der Pandemie erst wirklich zeigen. Wir sehen, wie sehr der radikale Wandel unserer Gewohnheiten und die vielen Lockdowns die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gefährdet haben.

 

Wie drücken sich diese Langzeitfolgen heute aus?

Hier muss zwischen den verschiedenen Altersklassen unterschieden werden: In meiner persönlichen Erfahrung spüren jene, die zu Beginn der Pandemie in der Prä-Pubertät, das heißt, zwischen 12 und 14 Jahre alt waren, die Folgen der Pandemie am stärksten. Sie waren in der Übergangsphase zwischen dem Kindes- und dem Jugendalter, das heißt in jener Phase, in der sie noch keine wirkliche soziale Identität hatten: Man beginnt sich von der Familie zu lösen und sucht nach neuen Anschlusspunkten. Dass sie in dieser Phase zu Hause eingeschlossen und dazu ermutigt wurden, sich digital zu vernetzen, war für viele ein einschneidendes, ein destruktives Erlebnis. Noch vor einigen Jahren wurde von einem ständigen Vernetzt-Sein abgeraten, durch die Covid-Krise wurde es zur offiziellen Empfehlung.

 

Jene, die zu Beginn der Pandemie in der Prä-Pubertät, das heißt, zwischen 12 und 14 Jahre alt waren, spüren die Folgen der Pandemie am stärksten.

 

Das heißt, ein Teil der Langzeitschäden wurde nicht durch die Einschränkungen selbst, sondern durch den Übergang in die ständige digitale Vernetzung verursacht? 

Der Grund ist der radikale Wandel unserer Gewohnheiten. Ein “normaler” 12-jähriger geht zur Schule, experimentiert mit seinem Körper, macht die ersten sexuellen Erfahrungen. Jetzt hatte er zwei Jahre lang kein Gesicht, keinen Geruch, keinen Menschen mehr vor sich, sondern nur die digitale Welt. Vor allem bei jungen Menschen, die schutzbedürftiger sind, deren Familien Schwierigkeiten haben oder die durch die Pandemie besonders betroffen waren - sei es aus wirtschaftlichen, sozialen, gesundheitlichen oder anderen Gründen - drücken sich die psychischen Folgen dieses Wandels jetzt aus. 

Wie manifestieren sich diese Folgen mit Blick auf die Kinder und Jugendpsychiatrie in Südtirol?

Viele pubertierende Menschen tun sich sehr schwer, ihr Gleichgewicht zu finden. Sie sind überstimuliert und übererregt. Sie sind leicht reizbar, lassen sich schnell auf Konflikte ein, haben Wutausbrüche. Das heißt, eine Folge ist die übertriebene Reizbarkeit. Frustrationen können nicht toleriert werden. Eine andere Folge sind Angstzustände, Panikattacken und Depressionen. Hier sind vor allem Kinder und Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren betroffen: Stress, Fernunterricht, familiäre Probleme und keine Möglichkeit, Luft abzulassen. Viele Eltern haben ihre eigenen Ängste auf die Kinder übertragen. Eine dritte Folge sind antisoziale Verhaltensmuster wie der erhöhte Konsum von Alkohol und Drogen, Selbstverletzung… Das heißt, wenn Sie mich fragen, ob sich die Situation gebessert hat, ist die Antwort ein klares nein. Wir sehen seit September eine starke Zunahme von Kindern und Jugendlichen, die psychiatrische Betreuung brauchen. Seit Beginn des Jahres haben wir beinahe 100 psychiatrische Notfälle behandelt. Das entspricht allein bei den Notfällen einem Anstieg von mehr als 30 Prozent.

 

Eine Folge ist die übertriebene Reizbarkeit. Frustrationen können nicht toleriert werden.

 

Was können wir uns unter einem psychiatrischen Notfall vorstellen?

Hier geht es vor allem um Panikattacken oder um das Thema Selbstmord. Das muss nicht immer auf einen Selbstmordversuch hinauslaufen, sondern kann auch bedeuten, dass man sich in einem bestimmten Moment niedergeschlagen und leer fühlt, denkt, dass man sterben möchte oder einen Scheinversuch vollzieht. Die Zahl der Jugendlichen, die aus diesen Gründen zu uns kommen, ist stark gestiegen.

Gibt es genug Kapazität, um sich um all diese Fälle kümmern zu können?

Da das Personal einige Stunden für Notfälle freihalten muss, sind die Wartezeiten für nicht dringende Fälle länger geworden. Wir können einen Notfall nicht einfach untersuchen, behandeln und wieder nach Hause schicken. Es braucht hier eine längerfristige Betreuung, wobei auch die Eltern involviert werden. Es ist also eine sehr komplexe Aufgabe. Mit dem gestiegenen Bedarf, der sich in den nächsten Jahren sicher nicht zurückbilden wird, müssen auch wir neue Modelle entwickeln, um unsere Patient*innen weiter betreuen zu können. Apps und neue Personalschlüssel, aber auch die Einführung neuer Berufsbilder wie beispielsweise speziell ausgebildete Pfleger*innen können hier eine mögliche Lösung darstellen.

Ob sich junge Menschen oder ihre Familien an psychologische Anlaufstellen wenden, hängt auch vom Zugang zu diesen ab. Wie gestaltet sich der Zugang zu Psy-Hilfe in Südtirol?

Ich bin nicht unbedingt die richtige Ansprechpartnerin für diese Frage. Wir kümmern uns in der Kinder und Jugendpsychiatrie vor allem um schwerere Fälle, die einerseits die Entwicklungsstörungen der Kinder -vor allem ADHD, Autismus und kombinierte Lernstörungen -, andererseits um mittlere bis schwere psychiatrische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter betreffen. Diese werden entweder über die Notaufnahme oder aber über andere Dienste an uns verwiesen.

 

Was vor allem versäumt wird, ist die Begleitung all jener Kinder und Jugendlichen, die bereits in jungen Jahren psychische Störungen entwickeln.

 

Glauben Sie, dass sich viele der Kinder und Jugendlichen, die heute über psychiatrischen Einrichtungen und Anlaufstellen betreut werden, zu spät um Psy-Hilfe kümmern?

Ich sehe das Problem eher aus einem anderen Blickwinkel: Was vor allem versäumt wird, ist die Begleitung all jener Kinder und Jugendlichen, die bereits in jungen Jahren psychische Störungen entwickeln. Es werden zwar Zertifikate erstellt, die ADHD oder Autismus belegen, die Kinder werden aber nicht regelmäßig betreut. Dadurch werden Komplikationen, Verhaltensstörungen oder psychische Erkrankungen bei Risikopatienten begünstigt. Das heißt, wir müssen uns vor allem darum bemühen, Kinder, bei denen wir schon wissen, dass sie ein erhöhtes Risiko für psychische Krankheiten in sich tragen, von Anfang an zu begleiten. So wie andere Krankheitsbilder oder Auffälligkeiten im medizinischen auch begleitet werden.

Warum wird das nicht bereits gemacht? Fehlt es an Ressourcen?

Sicherlich spielt auch der Ressourcenmangel eine Rolle. Das Problem muss aber zuallererst erkannt werden. In einem zweiten Moment geht es dann auch darum, die verschiedenen Anlaufstellen, die sich um Kinder mit psychischen Schwierigkeiten kümmern, besser zu vernetzen. Es gibt Fälle, bei denen sich bis zu vier verschiedene Stellen - darunter auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie - um dasselbe Kind kümmern. Hier ist eine Koordinierung sehr schwierig und auch die Familien wissen oft nicht, an wen sie sich wenden können.

Eine Studie der Plattform “Civio” beschreibt den starken Anstieg medikamentöser Behandlungen für psychische Erkrankungen in den letzten 10 Jahren. Einer der angeführten möglichen Gründe dafür ist der Mangel an Fachpersonal. Ist dieser Trend auch im Bereich der Südtiroler Kinder- und Jugendpsychologie zu beobachten?

Nein. Die Verschreibung von Medikamenten ist in den letzten zwei Jahren zwar angestiegen, der Grund dafür ist aber die Zunahme der mittleren bis schweren Erkrankungen. Bei der Verschreibung von Medikamenten geht es vor allem darum, die eigenen Ressourcen soweit zu stärken, um auf die Psychotherapie mit eigenen Kräften ansprechen zu können. Der Anstieg der Verschreibungen ist also mit dem Anstieg der zu behandelnden Patienten kongruent.

Im Anbetracht der doch sehr kritischen Situation, die Sie beschreiben: Welche Schritte müssen gesetzt werden, um die psychologischen und psychiatrischen Hilfestellungen in Südtirol zu unterstützen? 

In Südtirol gibt es seit einigen Monaten eine Arbeitsgruppe, die den ganzen Psy-Bereich umfasst und auch mit der Landesregierung zusammenarbeitet. Diese Arbeitsgruppe, an der wir mindestens alle zwei Monate teilnehmen, ist eine sehr positive Entwicklung, die es ermöglicht, Probleme und Bedürfnisse anzusprechen. Das größte Problem ist es, das nötige Personal zu finden. Zudem müssen wir an der Optimierung der Ressourcen und Vernetzungen arbeiten; durch die Fragmentierung verlieren wir sehr viel. Die Neuordnung des Systems geht aber nicht von heute auf morgen. Es werden Schritte in die richtige Richtung gesetzt - die Einrichtung einer eigenen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist einer davon, die Ausarbeitung einer Anlaufstelle für psychologische Erste Hilfe ein anderer.

 

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Karl Trojer Fr., 22.04.2022 - 10:55

Kinder und Jugendliche in psychischer Not oder Stress-Überforderung brauchen die volle Solidarität der gesamten Gesellschaft ! Mögen die von Frau Dr. Donatella Arcangeli angesprochenen Themen und Vorschläge von den zuständigen Behörden effizient und frei von Sparbedingungen umgesetzt werden ! Besonders gefährdend erscheinen mir die Gefahren der Vereinsamung wegen ständiger digitaler Vernetzung und Überflutung mit chaotischen Informationen.

Fr., 22.04.2022 - 10:55 Permalink