Gesellschaft | Kalašnikov&Valeriana

Wir wollen uns lebend!

Innerhalb von neun Tagen wurden in Italien neun Frauen aufgrund ihres Geschlechts umgebracht. Femizide haben im Patriarchat auch noch heute System.
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Foto: Arina Krasnikova on Pexels
Eigentlich wollte ich genau diesen Beitrag gar nicht schreiben. Irgendwo in mir steckt noch die unverbesserliche Optimistin, die daran glaubt, dass unsere Gesellschaft sich weiterentwickelt und (auch für Frauen) lebenswerter wird. Aber das Gemetzel dieser Tage (einen anderen Ausdruck finde ich nicht!) bringt mich zurück auf den Boden der Tatsachen: Zwischen dem 7. und dem 15. Juni habe ich in Italien neun Femizide gezählt. Nevila, Camilla, Lidia, Gabriela, Lorena, Giannina, Gabriela, Renata und Elisabetta – das sind die Namen der Frauen, die ermordet wurden. Weit mehr als Zahlen in einer Statistik und auch weit mehr als der heute als normal erachtete Durchschnitt von einem Femizid alle 72 Stunden (in Italien).
 
 
Als Femizide werden jene Morde bezeichnet, bei denen Frauen getötet werden, weil sie Frauen sind. Der Begriff bezieht sich somit nicht nur auf die Geschlechtsidentität des Opfers, sondern enthält auch schon einen Hinweis zum Tatmotiv. Die Annahme liegt nahe, dass Frauen Menschen sind, die man besitzen kann und somit auch verletzen und ermorden kann. Das Ganze hat System in patriarchalen Gesellschaftsstrukturen und einem patriarchal agierenden Staat: Der Mord wird von der Gesellschaft akzeptiert und von den Institutionen mehr oder weniger passiv hingenommen. Es ist ein derart weit verbreitetes und transversales Phänomen, dass dafür eigens ein Begriff gefunden wurde.
Überhaupt waren die Täter der Tötungsdelikte in den letzten Jahren in 96,6 Prozent aller Fälle Männer (im häuslichen Umfeld sogar 98,3 %).
Ihr erinnert Euch an die Statistiken zu den Tötungsdelikten in Italien? Laut Direzione Centrale della Polizia Criminale wurden von 01.01. bis 12.06.2022 insgesamt 123 Menschen ermordet. 50 davon sind Frauen, von denen wiederum 43 in familiärem Umfeld getötet wurden. 26 Frauen wurden von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet, kein männliches Opfer wurde von seiner Partnerin oder Ex-Partnerin getötet. Überhaupt waren die Täter der Tötungsdelikte in den letzten Jahren in 96,6 Prozent aller Fälle Männer (im häuslichen Umfeld sogar 98,3 %). Während also eine groß angelegte Suche nach Gewalt ausübenden Frauen stattfindet (und wenn die dann gefunden wird, fliegen die medialen Fetzen!), bräuchte man die Gewalt ausübenden Männer gar nicht erst suchen (wenn man wieder über einen stolpert, wird einfach auf die andere Seite geschaut).
Alles ist einfacher als der Tatsache ins Auge zu blicken, dass jeder Femizid uns als Komplizen sieht und unser Versagen als Gesellschaft unterstreicht.
Es ist ziemlich klar nachzuvollziehen, wo das Problem liegt. Trotzdem gelingt es unserer Gesellschaft hervorragend, die eigene Verantwortung zu ignorieren und diese Femizide gleich mit. Es ist einfacher, den Frauen grundsätzlich schon mal nicht zu glauben, wenn sie von erlebter Gewalt erzählen. Es ist einfacher, alles wegzuschieben, was nicht dem allgemein verbreiteten Bild des perfekten Opfers entspricht. Es ist einfacher, die in den allermeisten Fällen vorangegangenen Gewalterfahrungen auszublenden und von der plötzlichen Eskalation eines Konfliktes zu sprechen. Es ist einfacher, von Frauenmord zu sprechen, als den Begriff Femizid (oder gar Feminizid*) zu verwenden. Es ist einfacher, nach härteren Strafen zu schreien. Es ist einfacher Prävention und Bildung nebenbei laufen zu lassen. Es ist einfacher, so zu tun, als gingen uns die italienischen Femizide im Heiligen Land Tirol gar nichts an.
Alles ist einfacher als der Tatsache ins Auge zu blicken, dass jeder Femizid uns als Komplizen sieht und unser Versagen als Gesellschaft unterstreicht. Alles ist einfacher, als uns mit unserer persönlichen und der gesamtgesellschaftlichen Mitverantwortung auseinanderzusetzen. Und während wir den Kopf in den Sand stecken, geht das Morden weiter.
Wir wollen uns lebend!