Wirtschaft | Viehzucht

„Die Bodyguards der Ziegen“

Philipp Bertagnolli, Förster, Züchter von Ziegen und Pionier in Sachen Herdenschutzhunde über das Verhalten der Wanderer, die angebliche Gefahr und die Aufgabe der Hunde.
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Foto: Salto.bz
Salto.bz: Herr Bertagnolli, Sie waren der erste Züchter, der in Südtirol Herdenschutzhunde bei der Herde auf einer Almweide eingesetzt hat. Sind Sie ein Draufgänger?
 
Philipp Bertagnolli: Jemand muss anfangen! Als Förster wusste ich schon früh, wie sich die Wolfspopulation in den Alpen entwickeln wird. Also habe ich mich bei Tierhaltern im Trentino umgeschaut. Dort begannen engagierte Züchter ja bereits um die Jahrtausendwende, Schafe, Ziegen, Kälber oder Bienenstöcke vor Braunbären zu sichern. Als dann die Wölfe nachgewiesen wurden, hatten sie bereits Erfahrungen mit Herdenschutz-Maßnahmen.
 
Das Naturmuseum Südtirol/LIFEstockProtect hat zusammen mit dem Stilfserjoch Nationalpark unter dem Titel „Gut behütet. Kennenlernen der Arbeit von Herdenschutzhunden“ eine Exkursion organisiert, die Sie begleitet haben.
 
Wir sind von der Soy-Alm aufgestiegen, um die Weiden der Ziegenherde zu erreichen. Mein Kollege und ich züchten Passeirer Gebirgsziegen, die im Sommer im Kessel und in den Hängen weiden. Zwei Herdenschutzhunde begleiten die 150 Ziegen bei Tag und bei Nacht. Wir haben uns der Herde genähert und sind dann den Wanderweg weitergegangen, der Weg führt ins Ultental oder über‘s Flimmjoch zu den Flimm-Seen. Uns interessiert dabei, wie wir uns verhalten sollen, damit sich die Herde nicht bedroht fühlt. Wenn man sich richtig verhält, bleiben die Herdenschutzhunde auf Distanz und ruhig, sie bellen höchstens etwas.
 
 
 
Was empfehlen Sie den Wanderern?
 
Auf dem Wanderweg bleiben, nicht laufen, vom Mountainbike absteigen und schieben. Alle schnellen Bewegungen machen Weidetiere nervös und die Herdenschutzhunde reagieren mit Gebell. Sie haben mehrere Stufen der Abwehr, die Menschen erkennen sollten. Wenn die Tiere auf dem Weg stehen, dann die Herde umgehen, sodass immer eine Distanz zwischen uns und den Weidetieren liegt. Alle 14 Herdenschutzhunde, die heuer auf Südtiroler Almen arbeiten, sind gut auf Menschen sozialisiert. Die Familienhunde sollen immer an der Leine bleiben. Herdenschutzhunde sehen einen angeleinten Hund als Teil vom Menschen. Kommt er ohne Leine, bedeutet er eine Gefahr für die Herde.   
Wenn man sich richtig verhält, bleiben die Herdenschutzhunde auf Distanz und ruhig, sie bellen höchstens etwas
Wie werden die Herdenschutzhunde ausgebildet?
 
Das schaut anders aus als bei bekannteren Arbeitshunden, denn die Herdenschutzhunde sind vor allem nachts, wenn die Tierhalter nicht bei der Herde sind oder die Hirten ausruhen, wichtig. Wölfe, Bären, Goldschakale oder zweibeinige Viehdiebe nähern sich vor allem in der Nacht der Herde. Die Herdenschutzhunde treffen selbständig Entscheidungen, wie abwehren, wie weit verfolgen, attackieren oder zurückziehen. Daher ist das Wort sozialisieren passender. Die Welpen wachsen mit den Weidetieren auf, sie lernen von den Elternhunden und den anderen erwachsenen Herdenschutzhunden. Früher war das ihre Schule. Seit viel mehr Leute wandern oder Rad fahren und es praktisch keine entlegenen Gebiete mehr gibt, wo niemand hinkommt, werden die Welpen an mehrere Umweltreize gewöhnt. Sie lernen damit umzugehen, dass sich fremde Menschen ihrer Herde nähern. Sie erleben Lärm von Autos oder Motorrädern, sie lernen verschiedene Situationen kennen, damit sie bei ihrer späteren Arbeit darauf gelassen reagieren.
 
Wer macht diese Sozialisierung? 
 
Damit beginnt bereits der Züchter, der im Fall von Herdenschutzhunden immer auch ein Weidetier-Halter ist, ein Züchter von Schafen oder Ziegen; ganz oft sind es Hirten. In einem Zuchtbetrieb, wie wir das von anderen Hunderassen kennen, läuft das nicht, Herdenschutzhunde brauchen vor Anfang an den Bezug zur und die tägliche Arbeit in der Herde.
 
 
Welche Rassen eignen sich als Herdenschutzhunde?
 
Eine ganze Reihe hat sich erhalten, weil die Praxis die Weidetiere in der Herde zu hüten nie aufgegeben wurde; jede Gegend hat ihre charakteristischen Herdenschutzhunde selektioniert. Viele kennen die Maremmano Abruzzese, die für den Schutz der großen Schafherden in Mittelitalien gezüchtet wurden, ich selbst habe Pastore della Sila. Das ist eine alte Rasse aus den Berggebieten von Kalabrien. Die Pastore della Sila begleiteten Hirten und Ziegen aus dem Dorf zum Weiden auf die Berghänge und am Abend zum Melken ins Dorf zurück. Daher gewöhnen sich Pastore della Sila schnell an Arbeitsabläufe mit Menschen. Wenn ich meine an die Leine nehme, kommt mir immer vor, sie schalten um, sie schalten auf „Hofhund“. Ohne Leine bei der Herde sind sie die Bodyguards der Ziegen. Diese zwei Rassen sind in Italien die gängigsten. Beide sind nicht auf der Liste der gefährlichen Hunderassen, beide sind im ENCI-Register aufgenommen (Ente Nazionale Cinofilia Italiana). 
Jeder Hund kann gefährlich werden und es kann auch Vorfälle mit Herdenschutzhunden geben.
 
Der Pastore della Sila wurde in Südtiroler Medien als sehr gefährlich dargestellt, weil es Vorfälle mit einem solchen Hund am Jaufen gab.
 
Alle Herdenschutzhunde haben einen großen kräftigen Körper, sie wurden ja zum Abwehren von Bären, Wölfen und Dieben gezüchtet. Jeder Hund kann gefährlich werden und es kann auch Vorfälle mit Herdenschutzhunden geben. Wenn man sich jedoch an die Verhaltensregeln hält, so werden Übergriffe auf Menschen die Ausnahme bleiben; Schilder mit den Verhaltensregeln sind überall dort angebracht, wo Herdenschutzhunde im Einsatz sind.
 
 
 
Die Ziegen, die Sie und Ihr Kollege ob der Soy-Alm halten, stehen und bewegen sich als Gruppe. Wenn ich an einzelnen Schafen oder Kühen vorbeigehe, die verstreut voneinander weiden, habe ich keine Herde vor mir, oder?
 
Ja, das macht einen großen Unterschied. Wir haben ein paar Jahre daran gearbeitet, dass unsere Ziegen eine Herde bilden. Habe ich das nicht, kann ich die Weidetiere nicht schützen, nicht als Hirt und nicht mit Herdenschutzhunden. Die können nicht vor jedem Einzeltier sitzen und sind ja sozialisiert auf die Herde, die sich zusammen bewegt. Nur deswegen konnten wir die Herdenschutzhunde einsetzen.
 
Zurzeit sind zwei Pastore della Sila bei eurer Ziegenherde. Reicht das um Wölfe abzuhalten?
 
Zwei Hunde werden in Zukunft nicht ausreichen, ich möchte im Herbst zwei weitere Herdenschutzhunde in die Herde integrieren.