Politik | Verkehr

„Sehenden Auges in die Katastrophe“

Während die Grünen sich über Prognosen aufregen, steuern wir geradewegs auf eine Katastrophe zu, sagt der EU-Parlamentarier Herbert Dorfmann.
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Foto: Herbert Dorfmann
Die Grünen haben kürzlich ein Landtagsanfrage gestellt, in welcher es um eine Verkehrs-Prognose von Herbert Dorfmann bzgl. des Anstiegs auf der Brennerautobahn ging, die der EU-Parlamentarier auf der Protestkundgebung in Gossensaß äußerte. Während die Brennerautobahngesellschaft von einer Verkehrszunahme in den kommenden 50 Jahren von 14 bis 20 Prozent ausgeht, erklärte Dorfmann, dass die wichtigste Nord-Süd-Verbindung kurz vor dem Infarkt stehe und mit einem Anstieg von 50 Prozent in den nächsten zehn Jahren zu rechnen sei. Offensichtlich in höchstem Maße verwirrt über diese Diskrepanz verlangten die Grünen Aufklärung vom Landtag. „Das ist der falsche Ansprechpartner“, erklärt jedoch Dorfmann, der sich darüber wundert, weshalb die Grünen sich nicht direkt an ihn wenden.
 
Salto.bz.: Herr Dorfmann, in Ihrer Presseaussendung kritisieren Sie die Vorgehensweise der Grünen und werfen ihnen vor, sich nicht direkt an Sie gewandt zu haben.
 
Herbert Dorfmann: Wenn die Grünen wissen wollen, wie ich zu meiner Überlegung komme, warum fragen sie den Südtiroler Landtag und nicht mich? Mit mir hat bis heute niemand darüber gesprochen, wie meine Prognose zustande kam. Wenn ich ehrlich bin, die Polemik, welche die Grünen hier vom Zaun brechen, ist für mich vollkommen unverständlich. Es ging mir nicht darum, eine wissenschaftlich fundierte Analyse über den Verkehrsanstieg abzugeben, sondern davor zu warnen, sehenden Auges Richtung Verkehrsinfarkt zu steuern – und kaum jemand unternimmt etwas dagegen.
 
Wie sind Ihre Zahlen zustande gekommen?
 
Auf Grundlage der Daten über den Verkehrsanstieg vor der Covid-Pandemie kann man sagen, dass der Verkehr auf der Brennerautobahn durchschnittlich um drei bis vier Prozent pro Jahr zugenommen hat. Angenommen, dass der Anstieg sich im gleichen Verhältnis weiterentwickelt, so ergibt die Hochrechnung einen Anstieg um 50 Prozent in zehn Jahren. Genauso könnten es aber nur 35 Prozent sein, aber auch 55 Prozent. Das kann weder ich vorhersagen noch sonst irgend jemand. Die Verkehrszunahme hängt von der wirtschaftlichen Entwicklung ab, von politischen Maßnahmen, die dieser Tendenz entgegensteuern, sowie vom Ausbau der Schienen-Infrastruktur. Es war mir ein Anliegen zu verdeutlichen, dass etwas unternommen werden muss, weil ansonsten nicht nur am Wochenende Stillstand auf der Autobahn herrschen wird, sondern tagtäglich. Das wird nicht nur negative Auswirkungen für die Anrainer zur Folge haben, sondern auch für die Autobahnnutzer selbst.
 
 
 
 
Ist man sich auf europäischer Ebene im Klaren über die Ausmaße dieses Problems? Ist es ein Thema oder wird sogar über Lösungen debattiert?
 
In Brüssel fand erst kürzlich eine Tagung statt, bei welcher es um das Thema Schienenverkehr ging. Der BBT ist Teil des europräischen Schienenverkehr-Konzepts und ohne die politische und finanzielle Unterstützung der EU wäre das derzeit weltweit größte Tunnelbau-Projekt nicht denkbar. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir bereits vor der Inbetriebnahme, die voraussichtlich im Jahre 2032 erfolgen wird, Lösungen brauchen. So müssen wir den Ausbau des Bahnnetzes forcieren und die Regelungen im Bahnverkehr vereinheitlichen.
 
Wir müssen dafür sorgen, dass Züge ohne Probleme oder bürokratische Hindernisse die Grenzen passieren können.
 
Wir müssen dafür sorgen, dass Züge ohne Probleme oder bürokratische Hindernisse die Grenzen passieren können. Voraussetzung dafür ist die Schaffung einheitlicher Bestimmungen, die sich derzeit noch von Staat zu Staat unterscheiden. Es kann nicht angehen, dass ein Zug am Brenner eine halbe Stunde lang steht und erst weiterfahren darf, sobald die bürokratischen Angelegenheiten geregelt sind. Weiters müssen wir die Brennerstrecke als einen Korridor-Weg betrachten. Ich habe den Eindruck, dass derzeit jeder sein eigenes Süppchen kocht bzw. jeder Staat nur seinen eigenen Autobahnabschnitt im Auge hat. Die Brennerautobahn führt jedoch durch drei Staaten von Verona bis München. Das Veneto hat eine eigene Verkehrspolitik, Südtirol, Tirol und Bayern ebenfalls. Meiner Ansicht ein völliger Nonsens! Es handelt sich hier um den wichtigsten Verkehrs-Korridor, für welchen es einheitliche Richtlinien braucht.
 
Während Lkw-Fahrer ohne Einschränkungen die Grenzen passieren dürfen, ist das für Lok-Führer nicht ohne Weiteres möglich.
 
Die EU hat soeben das 4. Eisenbahn-Paket verabschiedet, mit welchem die Regeln vereinheitlicht werden sollen, beispielsweise was die Signal-Technik und andere Technologien betrifft. Probleme gibt es aber beispielsweise noch hinsichtlich der sprachliche Barrieren: Während sich im Flugverkehr Englisch als Standard-Sprache etabliert hat, gelten im Bahnverkehr weiterhin die Sprachen der Mitgliedstaaten. Das bedeutet, dass der Lok-Führer, welcher einen Zug auf dem österreichischen Territorium lenkt, Deutsch beherrschen muss. Ein österreichischer Lok-Führer, welcher wiederum die Brennergrenze passiert, muss Italienisch können, weil er mit  den Kontrollstellen kommunizieren muss. Wenn man in Europa garantieren will, dass der internationale Zugverkehr entsprechend reibungslos funktioniert, dann muss dafür Sorge getragen werden, dass ein Lok-Führer die Strecke von Verona bis nach München durchfahren kann und nicht jedes Mal an der Grenze ein Lok-Führer-Wechsel durchgeführt werden muss. Es hakt im Zugverkehr derzeit noch teilweise an absurden Kleinigkeiten, die man auf den Weg bringen muss.
 
Es hakt im Zugverkehr derzeit noch teilweise an absurden Kleinigkeiten, die man auf den Weg bringen muss.
 
Gerade im Hinblick auf die Sanierung der Lueg-Brücke wäre ein Ausbau der Verbindungen sinnvoll. Viele Pendler aus dem Eisacktal und Wipptal, Menschen die tagtäglich nach Innsbruck zur Arbeit fahren müssen, werden ab 2025 vor der Situation stehen, dass es auf der Autobahn kein Weiterkommen mehr gibt. Man muss ihnen deshalb ein vernünftiges Angebot auf der Bahnstrecke bieten und eine stündliche Verbindung von Bozen nach Innsbruck einrichten. Solche Dinge müssen wir auf den Weg bringen, ansonsten werden wir bis zur Fertigstellung des BBT im Verkehr ersticken.
 
 
 
Ein Patentrezept, um einen Verkehrs-GAU ab 2025 zu vermeiden, wird es nicht geben, werden auf EU-Eben aber zumindest Lösungsansätze diskutiert?
 
Ein Patentrezept gibt es selbstverständlich nicht. In Südtirol fehlt leider das Bewusstsein dafür, welche Bedeutung die Brennerautobahn für Italien hat. Es ist für Italien die bei weitem wichtigste Verkehrsinfrastruktur im internationalen Handel. Salopp gesagt: Die Brennerautobahn ist wie ein Ventil, mit welchem die italienische Wirtschaft auf- und zugedreht werden kann. Wenn der Verkehr auf der Autobahn nicht läuft, dann nimmt die italienische Wirtschaft Schaden. Das mag uns nicht gefallen, ist aber leider so. Deshalb wird Italien alles tun, damit die Brennerautobahn funktionsfähig bleibt und keine Beschränkungen eingeführt werden, weil die Abhängigkeit zu groß ist. Über kurz oder lang wird dieses Thema auf einer höheren Ebene behandelt werden müssen, wo beispielsweise ein mögliches Agreement mit der Schweiz ausgelotet wird. Nach dem Bau der Gotthard-Passage sind in der Schweiz noch Kapazitäten vorhanden, somit wird man mit unserem Nachbarland Verhandlungen führen müssen, damit zumindest für die nächsten zehn Jahren mehr Verkehr über diese Route abgefertigt werden kann.
 
Je mehr die Infrastruktur zusammenbricht – und sie wird zusammenbrechen –, desto schlimmer wird es.
 
Ein weiteres Beispiel ist das unselige Nachtfahrverbot in Österreich, das meiner Meinung nach umweltpolitisch nichts bringt, weil die Lkw entweder alle tagsüber unterwegs sind oder im Stau stehen. Ich kann nachvollziehen, wenn dieses Fahrverbot nicht für alle Lkw aufgehoben wird, aber zumindest für jene der Euro-Klasse 6 oder für LNG betriebene Fahrzeuge sollte dies möglich sein. Zusätzlich würde man damit einen Anreiz für die Unternehmen schaffen, auf umweltfreundlichere Lkw umzurüsten.
Ein weiteres Problem sind die Abfahrten von der Autobahn im Falle eines Staus. Natürlich – vorausgesetzt die Straßenverkehrsordnung wird dahingehend geändert – ist eine Kontrolle vor allem der Pkw‘s schwierig. Die Tatsache, dass Lkw und Pkw bei Staus von der Autobahn abfahren und versuchen, über die Staatsstraße schneller an ihr Ziel zu kommen, führt in den betroffenen Ortschaften jedoch zu Situationen, die nicht mehr tragbar sind. Je mehr die Infrastruktur zusammenbricht – und sie wird zusammenbrechen –, desto schlimmer wird es. Bereits jetzt herrscht jedes Wochenende Stau auf der Autobahn. Diese Themen muss man angehen, ansonsten enden wir in einem totalen Infarkt.
 
Muss es erst zu diesem Infarkt kommen, damit etwas passiert?
 
Darauf habe ich in meiner Aussendung hingewiesen. Warum streiten die Grünen mit mir über irgendwelche Zahlen herum, anstatt sich auf das Problem zu konzentrieren? Und das Problem besteht nun einmal darin, dass der Verkehr zunehmen wird und die Brennerautobahn bereits heute an ihrer Belastungsgrenze angelangt ist. Mit jedem zusätzlichen Lkw und Pkw wird eine Stausituationen riskiert. Es muss uns weiters bewusst sein, dass die Südtiroler Wirtschaft maßgeblich vom Funktionieren der Brennerautobahn abhängt. Wenn dieser Korridor nicht mehr zur Verfügung steht, werden Touristen aus Bayern vielleicht nicht mehr entscheiden, ein verlängertes Wochenende in Südtirol zu verbringen und Südtiroler Unternehmen müssen darunter leiden, wenn sie ihre Waren nicht mehr rechtzeitig ausliefern können. Auch Gäste werden umdenken und andere Destinationen wählen, wenn es auf der Autobahn kein Vorankommen mehr gibt. Schließlich hat das Ganze auch immense wirtschaftliche Folgen. Deswegen besteht dringender Handlungsbedarf.