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Poröse Männlichkeit

Was haben queere Menschen mit anderen Minderheiten gemeinsam? Vor dem Gespräch mit João Florêncio wäre das ein Rätsel für mich. Nun tun sich Welten auf.
João Florêncio
Foto: João Florêncio
João Florêncio setzt sich wissenschaftlich mit Homosexualität und Pornografie auseinander, derzeit an der University of Exeter. Heute Abend begegnet er im Talk im Museion den Künstlerinnen Shu Lea Cheang und Mary Maggic. Der Titel des Abends: „Queer technologies: biopolitics, emancipation and world-making.“
 
Salto.bz: Herr Florêncio, was können wir uns unter dem für Ihre letzte Publikation „Bareback Porn, Porous Masculinities, Queer Futures: The Ethics of Becoming-Pig“ zentralen Begriff des „Gay Pig“ (Schwules Schwein) vorstellen, wenn dieser als Selbstbezeichnung verwendet wird?
 
João Florêncio: Es ist ein Begriff, der in den letzten Jahren, in einer Untergruppe von homosexuellen Männern sehr populär wurde, die aus sexuellen Praktiken, welche normalerweise als zu riskant oder dreckig empfunden werden, einen gewissen Stolz oder ein Gefühl der Identität ziehen; deswegen „Pig“. Ich fand Belege für den Begriff bis in die frühen 70er Jahre, also vor der AIDS-Krise, aber nicht viele. Im Buch beschreibe ich auch, dass während der AIDS-Krise viele dieser transgressiveren Sex-Praktiken zurückgingen, aber nicht verschwunden sind, aufgrund des Risikos einer HIV-Infektion. Aber mit der Einführung der antiretroviralen Therapie als Behandlung und Prophylaxe für den Virus nahmen sie zu. Im Buch denke ich viel darüber nach, wie diese Medikamente Möglichkeiten für Schwule geschaffen haben, ihr Selbstbild in Beziehung zu diesen sexuellen Praktiken zu erforschen. Biomedizinische Technologien werden für einen gewissen Zweck geschaffen, haben aber weiterreichende Implikationen und wirken als Katalysator für andere Veränderungen.
 
Sehen Sie in dieser gesteigerten Risikobereitschaft analoge Elemente zur Covid-Pandemie und dem Umgang mit Anti-Corona-Maßnamen?
 
Im Fall der Covid-Pandemie haben die verschiedenen Restriktionen, zur Eindämmung der Verbreitung des Virus in den meisten Ländern einen starken Effekt gehabt. Im Vereinigten Königreich war die Hauptbotschaft, zuhause zu bleiben, weil das sicherer sein würde. Das berücksichtigt aber viele verschiedene Lebensformen, Familienstrukturen und anderen Verbundenheitsbeziehungen nicht. Queere Menschen wollen oft nicht zuhause bleiben, weil sie sich dort nicht sicher fühlen, oder ihre Wahlfamilie nicht dort lebt. Das hat zu vielen Fällen der Vereinsamung und möglichen Fällen häuslicher Gewalt geführt. Es ist schwierig, im Kontext von gesundheitspolitische Maßnahmen, ein Verständnis von Gesundheit zu finden, welches auf alle anwendbar wäre.
Den ersten Lockdown habe ich zum Großteil in Berlin verbracht, wo ich Nachforschungen angestellt hatte und wo auch mein Partner lebt. Ich blieb, weil ich nicht ins Vereinigte Königreich einreisen konnte und man hörte Geschichten, wie schwierig es etwa auch für Türkische Familien war, die eine Familie haben, die viel größer ist als Mutter, Vater und Kinder. Wir sahen Gruppen von jungen türkischen Männern in Parks, welche von der Polizei getrennt wurden.
Ich denke, es gab ähnliche Situationen, in Bezug auf homosexuellen Männer und deren Risikobereitschaft, sexuelle Freizügigkeit und den Sex mit mehreren Partnern. Historisch gesehen, war das immer wichtig für ein Gefühl der Zugehörigkeit. Auch während der AIDS-Krise, als die Nachricht richtigerweise war, dass alle Kondome verwenden und die Zahl ihrer Partner limitieren sollten, war das nichts, was alle getan hätten. Viele haben sich daran gehalten. Wir haben aber gesehen, dass die HIV-Raten erst anfingen zu sinken, als wir Medikamente hatten, welche die Übertragung verhindern.
Ich denke mit Covid war es ähnlich: Erst als wir Impfstoffe hatten ist zumindest die Zahl der Tode allmählich zurückgegangen. Es ist sehr schwierig, wenn man davon ausgeht, dass Menschen nichts anderes als rationale Wesen sind, dass wir nicht auch irrational handeln.
 
Man könnte argumentieren, dass das - trotz Covid - ein Weg für diese Männer war, sich um ihre psychische Gesundheit zu kümmern, oder zumindest zu vermeiden, monatelang einsam zu sein.
 
Gesetzgebung, die sich auf Minderheiten nicht unproportional negativ auswirkt scheint in diesem Kontext schwierig...
 
Genau. Auch in meiner Situation, als ich den zweiten Lockdown im Vereinigten Königreich verbracht habe, konnte ich meine Wohnung nicht verlassen, außer um einkaufen zu gehen. Ich lebe allein am Universitätsgelände und meine Familie, meine Wahlfamilie und meine Freunde leben anderswo, in anderen Städten oder Ländern. Ich habe Monate alleine verbracht, zuhause. Das hatte starke Auswirkungen auf meine psychische Gesundheit.
Das ist sicher einer der Gründe, dass es während des Lockdowns eine Zunahme von homosexuellen Männern gab, die Sex-Partys veranstalteten. Man könnte argumentieren, dass das - trotz Covid - ein Weg für diese Männer war, sich um ihre psychische Gesundheit zu kümmern, oder zumindest zu vermeiden, monatelang einsam zu sein. „Cruising“ (die aktive Suche im öffentlichen Raum nach einem Sexualpartner, Anm. d. Red.) in den Parks von Berlin und London wurde wieder populär, weil keine Bars oder Clubs geöffnet hatten.
 
 
Im Zusammenhang mit dem Begriff des „Gay Pig“ spielt der Begriff der „porous masculinity“ (Poröse Männlichkeit) eine wichtige Rolle. Er suggeriert eine Offenheit für externe Einflüsse. Welche?
 
In dieser Subkultur des Schwulen Sex ist, was lange Zeit weniger wichtig war, der Austausch von Körperflüssigkeiten. Auch in der Pornographie vor und während der Aids-Krise war das nicht zentral. Jetzt ist das wirklich wichtig. Für mich ist die Figur des „Pig Bottoms“ (Bottom ist der passiver Partner beim Sex), ein Mann der umso männlicher wird, je mehr er penetriert wird. Das ist ganz anders, als Sex zuvor war, auch bezüglich der Auslegungen des Begriffs der Männlichkeit. Die Vorstellung die wir von Männern und Frauen hatten ist, dass Frauen einen Körper haben, der offen ist, den man penetrieren kann, während das moderne europäische Verständnis von Männlichkeit, in sich abgeschlossen, undurchdringlich und autonom ist. Das führte zu allerlei Vorurteilen.
Lange Zeit gab es die Ansicht, dass Schwule nur die Männer seien, die penetriert werden, weil sie diejenigen seien, deren Männlichkeit korrumpiert wird. So lange man der ist, der penetriert ist man kein „invert“ (Umgekehrter, einst in der Psychologie ein Begriff für Homosexuelle, Anm. d. Red.). Daraus leitete sich eine Abwertung der „Bottoms“ ab, eine Vorstellung, dass sie weniger männlich seien als die „Tops“. Das ändert sich im Kontext der „Pig“-Subkultur stark: Je mehr man fremdes Material in sich aufnimmt, umso männlicher wird man. Das ist eine Umdeutung der Penetration auf Heldentum, Athletik und Ausdauer - alles Qualitäten, die stets mit Männlichkeit assoziiert waren. Man kompensiert für die früher als entmannend angesehene Penetration.
Was für mich interessant ist, ist wie das das Verständnis dafür was ein Mann ist, ändert. Diese Vorstellungen haben viel von unserem europäischen - auch politischen - Denken geprägt. Was bedeutet das ethisch und politisch, jemanden den man nicht kennt gegenüber so offen zu sein? Das ist interessant. Was diese Männer machen, ist sehr verletzlich zu sein. Das ist eine kraftvolle ethische Geste, die sich auf andere Situationen umlegen lässt: Wie verhalten wir uns gegenüber jemandem, dessen Sprache wir nicht sprechen, oder in dem wir uns nicht sehen? Normalerweise braucht es ein Moment des Erkennens, um Menschen herein zu lassen, um sie als Mitmenschen zu erkennen. Es braucht etwas gemeinsames. Was, wenn wir mit Menschen mitfühlen, aus der Position heraus, dass wir sie nie kennen werden?
 
Auf dieser Ebene versucht jede Minderheit - nicht nur queere - immer eine Welt für sich zu schaffen.
 
Sowohl bei Ihnen, als auch bei Shu Lea Cheang und Mary Maggic spielt auch „World Building“ eine wichtige Rolle. Welche Wichtigkeit hat er in nicht-heterosexuellen und nicht-cis Sexualitäten?
 
Selbst bedeutungsloser sexueller Umgang ist eine soziale Beziehung: Man kommt zusammen auf eine Weise, die einem anderen Skript als unsere außerhalb dieser konstruierten Räume statt findenden Beziehungen folgt. Queerer Sex musste neue Arten der Interaktion erfinden, was zu dem Gefühl führt, dass diese Menschen ihre eigene Welt, ihre eigenen Formen des Umgangs und der Kommunikation schaffen. Nicht nur verbale Kommunikation: In der Geschichte des „Cruising“ spielen Körpersprache und -zeichen eine große Rolle.
„World building“ ist immer wichtig, für jede Art von Minderheit. Die Sprache und die sozialen Vorgaben, welche wir haben, sind nicht unsere. Wenn wir an das weiße, heterosexuelle und patriarchale Europa denken, ist die Art, wie wir uns durch den Raum bewegen, verstehen was privat und was öffentlich passieren kann, durch die Vormacht des Patriarchats bestimmt.
„World building“ ist also eine Notwendigkeit. Wie schaffen wir Räume, auch nur vorübergehend, mit den Mitteln die wir haben, um zu überleben, vielleicht auch um ein utopisches Gefühl zu haben? Auf dieser Ebene versucht jede Minderheit - nicht nur queere - immer eine Welt für sich zu schaffen. In meiner Arbeit beschäftigt mich, wie Sex und Sexfilme Experimente darin sind, weil sie andere Formen des Mitfühlens mit anderen Menschen schaffen.
 
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Karl Trojer Sa., 19.11.2022 - 11:08

Sexualität ist einer der intimsten Bereiche menschlichen Seins. Wie einzelne Menschen ihre Sexualität erleben wollen, ist, bei Achtung des gegenseitigen Respekts und der entsprechenden Verantwortung, ausschließlich deren Sache.

Sa., 19.11.2022 - 11:08 Permalink