Gesellschaft | Übergriffig

„Täter-Opfer-Umkehr vom Feinsten“

Für einen Kommentar zum Kuss von Spaniens Fußballpräsident erntet die Dolomiten harsche Kritik. „So wird Übergriffen der rote Teppich ausgerollt“, sagt Johanna Brunner.
mit dem Finger zeigen
Foto: Adi Goldstein on Unsplash

Johanna Brunner ist aufgebracht. Und nicht nur sie. Wie viele im Land, hat die Leiterin des Amtes für Ehe und Familie in der Diözese Bozen-Brixen ihren Augen kaum trauen können, als sie am Dienstag (29. August) den prominent auf der Titelseite platzierten Kommentar in der Tageszeitung Dolomiten gelesen hat. In der Rubrik „Vorausgeschickt“ tun Dolomiten-Redakteure abwechselnd ihre Meinung zum aktuellen Geschehen kund. Am Dienstag war der Leiter des Sportressorts Andreas Vieider am Zug. Er bedauert das „mediale wie gesellschaftspolitische Erdbeben“, das der Präsident des spanischen Fußballverbands Luis Rubiales ausgelöst hat – ein Erdbeben, „dass einem angst und bange wird“.

Bei der Siegerehrung der frisch gebackenen Fußballweltmeisterinnen aus Spanien hatte Rubiales am vorvergangenen Sonntag (20. August) die Spielerin Jenni Hermoso auf den Mund geküsst. Der „Schmatzer, keine halbe Sekunde lang“ sei zwar ein „unverzeihlicher Fehler“, hält der Dolomiten-Redakteur fest – geschuldet sei er aber der großen Freude und „übergehenden Emotionen“ angesichts des Titelgewinns.
Für seine Zeilen erntet Vieider nun heftige Kritik. Johanna Brunner wirft ihm „eine Täter-Opfer-Umkehr vom Feinsten“ vor. Und hunderte Frauen haben ein Schreiben unterzeichnet, das den Kommentar und die Dolomiten und aufs Schärfste verurteilt.

 

Wie schwierig ist kein Kuss auf den Mund?

 

Nach dem Vorfall bei der Siegerehrung wird die Kritik an Rubiales in seinem Heimatland, im Ausland und in der Fußballwelt immer lauter, der Weltfußballverband FIFA suspendiert ihn schließlich – vorerst für 90 Tage – und eröffnet ein Disziplinarverfahren. Spaniens Staatsanwaltschaft leitet Vorermittlungen wegen mutmaßlicher sexueller Nötigung ein. Einen Rücktritt, den ihm inzwischen sogar sein eigener Verband nahelegt, lehnt Rubiales bislang ab. Am Dienstag gehen in Madrid Tausende auf die Straße, Frauen und Männer demonstrieren gegen Sexismus und fordern Rubiales' Rücktritt. Selbst UN-Generalsekretär Antonio Gueterres bringt sich ein. Über seinen Sprecher lässt er die Frage in den Raum stellen: „Wie schwierig ist es, jemanden nicht auf den Mund zu küssen?“

Wohl sehr schwierig – so zumindest der Ton des Dolomiten-Kommentars von Dienstag. „Emotionen können im Sport übergehen“, zeigt der Autor Verständnis – und verweist darauf, dass „die geküsste Spielerin in keiner Weise reagiert, ihn (Rubiales, Anm.) nicht sofort zurechtgewiesen“ habe. Die heftige Kritik am Verbandspräsidenten schade dem Fußball und stelle die sportlichen Leistungen, die bei der WM gezeigt wurden, in den Schatten.

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(Quelle: Screenshot/Dolomiten)

 

 

Die Frau ist schuld?

 

Johanna Brunner, seit 2017 Leiterin im diözesanen Amt für Ehe und Familie, sitzt auch in der Arbeitsgruppe des Landes, die 2022 zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in Südtirol ins Leben gerufen wurde. Sie will den Dolomiten-Kommentar nicht so stehen lassen – und bezieht öffentlich Stellung dagegen: „Sehr geehrter Herr Vieider, nachdem ich Ihren Kommentar in der heutigen Dolomiten gelesen habe, komme ich zur Vermutung, dass Sie von Gewalt- und Missbrauchsdynamiken kaum Ahnung haben dürften. Wie sonst ist es zu erklären, dass Sie hier eine Täter-Opfer-Umkehr vom Feinsten betreiben? Argumentationen wie die Ihre führen dazu, dass Übergriffen der rote Teppich ausgerollt wird und Betroffene/Opfer sich schuldig fühlen, obwohl sie die allerletzten sind, die Schuld empfinden sollten.

In dieselbe Kerbe schlägt der Grüne Co-Sprecher Felix von Wohlgemuth, der auf Facebook schreibt: „Da schreibt Herr Vieider doch allen Ernstes ‚aber: die geküsste Spielerin hat in keiner Weise reagiert, ihn nicht sofort zurechtgewiesen.‘ Da haben wir es wieder – schon wieder! Nun ist es also die Schuld der Frau, welche nicht unverzüglich auf diesen sexuellen Übergriff reagiert habe; Schuld der Frau, dass sie von dieser Situation offensichtlich überfordert war; Schuld der Frau, dass der arme Mann seine Emotionen nicht im Griff hatte.“

 

Gefährliche Bagatellisierung

 

Dass sich Jenni Hermoso nicht (gleich) gegen den Kuss gewehrt habe, sei „kein Blankoscheck“, stellt Brunner im Gespräch mit salto.bz klar: „Das Tragische ist, dass auch Sexualstraftäter und -täterinnen, die ihre Taten anbahnen, genau die gleichen kleinen Grenzüberschreitungen und ‚leichten‘ Übergriffe benutzen, um bei möglichen Opfern auszutesten, wie weit sie gehen können. Und wenn immer wieder die Botschaft kommt, dass man bzw. frau sich über solche ‚Kleinigkeiten‘ ja nicht aufzuregen braucht, dann ist das eine krasse Verunmöglichung von Prävention. Und obendrein wirklich sehr belastend, für die Frauen – und Männer –, die es betrifft.“

„Gravierenden Vergehen werden wir nicht vorbeugen können, solange ‚kleinere‘ Übergriffe bagatellisiert und nicht geahndet werden, weil Männer willkürlich entscheiden wollen, ab wann etwas übergriffig ist und wo Gewalt und Machtmissbrauch beginnt.“ Das schreibt die Mitgründerin der Facebookgruppe „Südtirols Sisters – SUSI“ Barbara Plagg in einem Kommentar, den sie am Dienstag auf dem Onlineportal barfuss veröffentlicht. Über 400 Frauen tragen das Schreiben mit und haben binnen weniger Stunden unterzeichnet. Darin wird auch die Tatsache verurteilt, dass der Kommentar überhaupt in der Dolomiten veröffentlicht wurde: „Vor einem Klima von zunehmender Gewalt gegen Frauen durch Männer, mit denen zu oft die ‚Emotionen übergehen‘, liegt es in der Verantwortung eines jeden Mediums – insbesondere eines Mediums wie der Dolomiten mit seiner Reichweite –, sich dafür einzusetzen, Bewusstsein zu schaffen, anstatt Opfer zu beschämen und Täter zu entschuldigen.“

„Ich erwarte mir hier eine klare und deutliche Stellungnahme des Tagblattes der Südtiroler“, fordert Felix von Wohlgemuth. „Ein Übergriff ist ein Übergriff, egal wie lange er dauert und es ist verdammt nochmal scheißegal, ob die Frau sich in dieser Ausnahmesituation unverzüglich dagegen wehrt, oder nicht.“
Johanna Brunner schließlich legt dem Dolomiten-Redakteur nahe: „Bevor Sie das nächste Mal zu solchen wichtigen und sensiblen Themen schreiben, machen Sie sich doch ein wenig schlau(er), bitte!“