Prozession
Foto: SALTO
Gesellschaft | Gaza

Christliches Wegschauen

Am Sonntag hat sich in Bozen eine surreale Szene abgespielt. Eine Militärparade, eine Kundgebung für Palästina und mittendrin die traditionelle Fronleichnamsprozession.
  • Die Szene hätte man für einen Film nie stellen können.
    Denn jeder und jede hätte gesagt, das ist doch aufgesetzt.
    Dennoch hat sie sich in der realen Welt abgespielt. Halb Zufall, halb Kalkulation. 
    An einem Sonntagmorgen im Juni 2024 kommt es in Bozen zu einem Zusammenprallen der Welten, einem Gipfeltreffen der Gegensätze, aber auch zu einem Schaulaufen, das die Scheinheiligkeit der Südtiroler Amtskirche offenlegt. Selten einmal wurde so deutlich, warum die Kirche täglich an Glaubwürdigkeit verliert.

    „Selten einmal wurde so deutlich, warum die Kirche täglich an Glaubwürdigkeit verliert.“

  • 1. Waltherplatz

    Der 2. Juni ist der Tag der Republik. In den Städten Italiens feiert man traditionell mit Aufmärschen und Militärparaden diesen besonderen Tag. Bozen darf hier nicht hintanstehen. Am Waltherplatz fährt alles auf, was Rang und Abzeichen hat. Von der Finanzwache über die Bergrettung, das Rote Kreuz bis hin zu Carabinieri, Staatspolizei und natürlich dem Militär. Man kann Antibombenroboter genauso bestaunen wie Granaten und Waffen jeder Art.
    Auf mehreren Großleinwänden werden der Festakt zur „Festa della Repubblica“ vom Altare della Patria und die anschließende Militärparade in den Fori imperiali in Rom übertragen.
    Südtirols Honoratioren stehen vor der Fahne und den Klängen der martialischen italienischen Hymne stramm. 

  • Südtiroler Würdenträge: Alzabandiera und Hymne Foto: RAI TGR
  • Der mit Stolz zur Schau gestellte Militarismus erzeugt zumindest ein mulmiges Gefühl, wenn man an die schwelenden Konflikte und an die herrschenden Kriege denkt, etwa in der Ukraine, in Gaza oder im Sudan.  
    Während die Experten ernsthaft vor einem „dritten Weltkrieg“ warnen, wird hier der autoritäre Staat vorexerziert, den Meloni & Co. so sehr lieben.

  • 2. Dominikanerplatz

    Die Gruppe „Free Palestina BZ“ hat zur Kundgebung „Stop The Genocide. Free Palestina“ geladen. Es ist ein bewusster Protest gegen den Aufmarsch der Streitkräfte und Sicherheitsbehörden, der keine 100 Meter entfernt über die Bühne geht. Die etwa 100 Aktivsten und Aktivistinnen stehen mit Spruchbändern und Fahnen auf dem Platz und skandieren ihre Sprüche. Für eine freies Palästina, gegen den Krieg und den Tod von tausenden Kindern. Und vor allem für einen Frieden in Gaza.

  • Pro-Palästina-Kundgebung: Proteste gegen den Krieg Foto: SALTO
  • Geplant war eigentlich ein Protestzug vom Dominikanerplatz am Waltherplatz vorbei. Doch das hat die Quästur untersagt. Das Fest der Republik darf nicht gestört werden. Die Polizei hat alles abgesperrt. So stehen die Demonstranten vor einem Dutzend Polizisten, die Schutzschilder und Helme dabeihaben. Die Anzahl der Vertreter der Digos, der Carabinieri in Uniform und Zivil und der Beamten der Finanzwache ist so groß, dass man sich schwertut zu sagen, ob mehr Vertreter der Sicherheitsbehörden am Platz stehen oder Demonstranten.
    Die Kundgebung verläuft ruhig. Auch die Polizeikräfte halten sich professionell und respektvoll zurück. Keine der beiden Seiten sucht die Konfrontation.

  • 3. Bozner Dom

    An diesem 2. Juni findet in Bozen auch die traditionelle Fronleichnamsprozession statt. Es ist die wichtigste Prozession des Kirchenjahres. Um 9 Uhr beginnt im Bozner Dom der Festgottesdienst, zweisprachig und zelebriert von Bischof Ivo Muser. Um 10 Uhr nimmt die Musikkapelle in der Postgasse Aufstellung. Ganz vorne eine der barocken Fronleichnamfahnen. 
    Die Prozession geht durch die Altstadt bis zum Waltherplatz. Der Zug sollte eigentlich über den Dominikanerplatz gehen. Doch weil dieser durch die Palästina-Kundgebung besetzt ist, muss die kirchliche Festgesellschaft durch die Goethestraße umgeleitet werden. 
    So zieht die Prozession betend an den Demonstranten vorbei. Es ist die feine Bozner Gesellschaft, die hier defiliert. Darunter die Männer des Deutschen Ordens oder die schwarz gekleideten Malteser. Allesamt bekannte und prominente Persönlichkeiten.
    Was aber auffällt: Fast alle aus der Kirchengemeinde schauen bewusst und angestrengt weg. Man will in der Andacht nicht gestört werden von Menschen, die gegen den Krieg und für den Frieden sind. Man muss ja beten.

  • Bischof Ivo Muser: Hinter der Monstranz versteckt. Foto: SALTO
  • Wirklich surreal wird das Ganze aber, als die hohe Geistlichkeit erscheint. Ausdrucklos würdigt auch sie die Menschen auf dem Domikanerplatz keines Blickes. Unter dem Baldachin trägt Bischof Ivo Muser die goldene Monstranz. Der oberste Hirte der Südtiroler Kirche versteckt sich förmlich hinter dem wertvollen Ornament. Die mystische Ekstase scheint so stark zu sein, dass auch von ihm kein Blick in Richtung der Demonstranten geht. So als ginge den Bischof das alles nichts an.

    „Man will in der Andacht nicht gestört werden von Menschen, die gegen die Krieg und für den Frieden sind. Man muss ja beten.“

    Was hätte es gebraucht, wenn Ivo Muser oder das Domkapitel kurz innegehalten hätten. Ein Kopfnicken, drei Worte an die jungen Menschen gerichtet hätten. Nicht für Palästina oder für Israel, sondern für den Frieden. Der Bischof hätte den Menschen auf dem Dominikanerplatz durchaus symbolisch seinen Segen spenden können. Das wäre Kirche.
    Doch nichts von dem. Jene, die gegen den Krieg sind, werden demonstrativ geschnitten. Sie sind nicht einmal eines Blickes würdig. 
    Laut einer Presseaussendung der Diözese nimmt Ivo Muser später am Pfarrplatz zur Pro-Palästina-Kundgebung Stellung.
    Heute haben wir erneut gesehen, wie polarisiert unsere Welt ist. Die einzige Antwort auf die Kriege und Krisen in der Welt ist der Einsatz für Gewaltlosigkeit. Wir sind alle dazu aufgerufen, uns für den  Frieden einzusetzen. Der wichtigste Grundsatz dabei ist gegenseitiger Respekt und Dialog“, sagt der Bischof.
    Schöne Worte. Nur haben der Bischof und seine Kirche am Dominikanerplatz genau das Gegenteil gezeigt. Weder Respekt noch Dialogbereitschaft.
    Also: Das Morden in Gaza geht weiter. Aber stört uns auf keinen Fall beim Beten.