Nata Gladstein, Ivo Muser
Foto: Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl
Gesellschaft | Fritto misto

Nicht mehr schweigen

Der Missbrauchsbericht sorgt in Südtirol für Aufsehen: Es ist eine Gelegenheit.
  • Als Kind hatte ich einen Pater als Religionslehrer, an den ich in den letzten Tagen immer wieder denken musste. Mädchen hatten einen schweren Stand bei ihm, ihnen begegnete er fast feindselig. Die Buben hingegen hatten es ihm angetan: Einige „Lieblinge“ wurden getätschelt, über den Kopf gestreichelt, mit kleinen Neckereien bedacht. Sie ließen es augenrollend über sich ergehen, verunsichert, und doch lächelnd: Was sollten sie auch tun? Unvergessen, der Moment, als ihn jemand arglos fragte, was denn eine Beschneidung sei. Der Pater errötete, schlug die Hände vors Gesicht und begann hysterisch zu kichern. Dann blickte er durch seine Finger auf uns und stammelte etwas vom „Zipfele“. Selbst einem Kind wurde da klar, dass so jemand nicht geeignet war, vor einer Klasse zu stehen. 

    Ich weiß nicht, ob der Mann abseits von seinen Tätscheleien übergriffig geworden ist, er ist auch längst verstorben. Ich weiß aber, dass viele Menschen solche und noch viel, viel ärgere Geschichten zu erzählen haben. Schneiden Sie das Thema mal im Bekanntenkreis an, Sie werden einiges zu hören bekommen. Da verwundert es, dass die Missbrauchsfälle, die eine Münchner Anwaltskanzlei jetzt für den Zeitraum 1963 bis 2023 zutage gefördert hat, auf lediglich 67 beziffert werden. Klar, Klöster waren von der Untersuchung ausgenommen, ebenso einige Schülerheime, und doch können diese 67, wie Kirchenvertreter selbst bekräftigen, nur die „Spitze des Eisbergs“ sein. Ebenso verblüfft die Tatsache, dass 51 % dieser fast ausschließlich minderjährigen Südtiroler Missbrauchsopfer Mädchen waren. Anwalt Ulrich Wastl sprach von einem „Südtiroler Spezifikum“, seien die Opfer bei vergleichbaren Untersuchungen in anderen Ländern doch zu einem Großteil männlich. Man könne sich diese Besonderheit in Südtirol nicht erklären. 

  • „Die Scham muss die Seite wechseln“

    Erklären kann ich es auch nicht, aber ich habe eine Vermutung: Dass es hierzulande, in diesem engen, kleinen, so stark ländlich geprägten Land Männern noch viel schwerer fällt, über Gefühle und negative Erfahrungen zu sprechen als dies anderswo ohnehin der Fall ist. Die Vorstellung von Männlichkeit ist gerade bei der Generation unserer Väter, die hier hauptsächlich betroffen sein dürfte, immer noch sehr stark traditionell gefärbt. Der Mann hat Bursch zu sein, stark und wortkarg, ein Beschützer und Macher. Da passt es nicht ins Bild, dass dieser Souverän Gewalt erlitten haben soll, schon gar nicht sexueller Natur: Hielte man ihn dann nicht für schwach? Für selbst schuld? Womöglich noch für schwul? Und wer würde ihm überhaupt glauben? Also wird geschwiegen. Im aktuellen Zeit-Magazin heißt es in einem Artikel über kirchlichen Missbrauch: „Manche haben Probleme, anderen zu vertrauen, bei anderen geht das Leben ins Land, ohne dass sie etwas fühlen, andere überlegen, ob und wann sie sich das Leben nehmen sollen. Die allermeisten reden nie darüber, nicht mit ihren Eltern, nicht mit ihren Partnern.“ 

    Wenn Sie es in sich finden, machen Sie es anders. Reden Sie darüber. Nicht für die Politik, die es bis dato nicht geschafft hat, eine unabhängige Ombudsstelle für Opfer sexuellen Missbrauchs einzurichten (obwohl von Organisationen und Parteien gefordert). Nicht für die Diözese, die angesichts des zu erwartenden Feedbacks nicht imstande war, eine einheitliche Hotline für Betroffene einzurichten, sondern auf eine Vielzahl an Hilfsangeboten verweist. Nicht für den Bischof, der mehr gewusst haben muss, als ihm lieb ist, und der keine befriedigende Erklärung abgeben kann für den äußerst verstörenden Umstand, dass einige der Täter nach wie vor in Südtirol seelsorgerisch tätig (!) sind. Tun Sie es für sich, ganz allein für sich, um eine Last loszuwerden, für die Sie nicht das Geringste können. „Die Scham muss die Seite wechseln“, dieser Leitspruch von Missbrauchsopfer Gisèle Pelicot, gilt auch hier. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt dafür.