Gesellschaft | Corona-Aufarbeitung

Die Bilder von Bergamo

18 März 2020 - fünf Jahre später besteht immer noch kein öffentliches Bewusstsein über die vielfältigen Hintergründe der damaligen Katastrophe. Beispiel Meran
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  • Foto: Martin K
  • Ein denkwürdiger Tag

    Es war der 18. März 2020, an dem die viel zitierten “Bilder aus Bergamo” entstanden und nachhaltig jede Diskussion über die Corona-Sicherheitsmaßnahmen bestimmten. Mit der “LEGGE 18 marzo 2021, n.35” wurde dieses medial propagierte [verbreitete] Ereignis zum Anlass genommen, den 18. März zum nationalen Gedenktag für die “Opfer der Corona-Pandemie” zu institutionalisieren. 

    Es war dieser Tag, der 18. März 2020, als der Präsident der Region Lombardei, Attilo Fontana, in Mailand den Vizepräsidenten des Chinesischen Roten Kreuzes, Sun Shuopeng, in Empfang nahm. Die Nachrichten- Plattform “Lombardia Notizie online” zitierte Shuopeng wie folgt: “ancora troppa gente non rispetta le misure di sicurezza che, a mio avviso dovrebbero essere ancora più rigide”.1

    Es war wiederum dieser Tag, der 18. März, an dem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel eine viel beachtete Fernsehansprache hielt. Darin sagte sie: “Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.”2

    Die “Bilder aus Bergamo” und ihre mediale Propaganda [Verbreitung] konnte also durchaus dazu geeignet erscheinen, die allgemeine Bereitschaft zu strengeren Sicherheitsmaßnahmen zu fördern. 

    Allerdings stellt sich heute, fünf Jahre später, die Frage wie diese Propaganda fortwirkt und ob angesichts einer gebotenen “Corona-Aufarbeitung” nicht ein bewußterer Umgang angeraten sein sollte. 

    1Coronavirus, Fontana e Croce rossa Cina: troppi non rispettatano regole

    2Fernsehansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel

  • Der Text der kommissarischen Verwaltung 2021

    Beispiel Meran: Am 17.03.2024 veröffentlichte die Stadtgemeinde Meran eine Aussendung, in der Bürgermeister Dario Dal Medico und Vizebürgermeisterin Katharina Zeller mit einer gemeinsamen Stellungnahme zum Gedenktag zitiert werden. Wörtlich übernommen bei Südtirol News .3 Der letzte Absatz der Aussendung gibt  den Originaltext der Gedenk-Stele von 2021 wieder, allerdings ohne diesen als Zitat zu kennzeichnen

    Der Text, der an prominenter Stelle Merans in drei Sprachen präsentiert wird und laut Bürgermeister Dal Medico von Kommissarin Anna Bruzzese "konzipiert" wurde,  behauptet: Der “18 März [2020]“ sei jener “Tag” gewesen “,als eine ganze Kolonne von Lastwagen der italienischen Armee mit Hunderten von Särgen [...] Bergamo verließ”. Der Text schließt mit der Anspielung auf “das Bild der LKW-Kolonnen”, das sich “tief in unser Gedächtnis eingebrannt” habe. 

    3https://www.suedtirolnews.it/chronik/meran-gedenkt-der-todesopfer-der-pandemie-3

     

    Die jährliche Propaganda [Verbreitung] der Zahl von angeblich “Hunderten von Särgen” suggeriert, am 18. März seien zwischen 200 und nahezu 1000 Särgen aus der Stadt gefahren worden. Darüber hinaus suggeriert das “Bild der LKW-Kolonnen”, es sei mehr als nur eine LKW-Kolonne zur Abholung der “Hunderten von Särgen” bestellt worden. Die Rede “von der völlig überlasteten Stadt” täuscht über die Tatsachenlage:

  • 10 Tatsachen

    Tatsache 1: Die Gemeinde Mailand hatte am 13.März verordnet, Anghörige müssten fortan die Entscheidung über die Art der Bestattung innerhalb von nur fünf Tagen fällen (bis dahin galten 30 Tage).4 Der 18 März 2020 war also der erste Stichtag. Ansonsten würde die Gemeinde den Sarg auf einen Groß Friedhof bringen lassen. In Bergamo war der cimitero monumentale bereits zum Hotspot geworden. 

    Tatsache 2: Die meisten Bergamasker entschieden sich in jenen Tagen für die Einäscherung. Das war nur am Großfriedhof möglich: am einzigen Krematorium. “Prima Bergamo” berichtet: “Al cimitero di Bergamo è in funzione l’unico forno crematorio. Sono molte le persone che scelgono questa modalità funeraria. Così la chiesa si è riempita in fretta”. Zwischen dem 7. und 12. März hatten sich bereits 146 Särge angesammelt.5

    Tatsache 3: Nicht unschuldig waren die Medien, die in jenen Tagen falsche Suggestionen beförderten. Die Bevölkerung wurde in den Glauben versetzt, dass nur die Einäscherung möglich sei; ja, dass sie verpflichtend sei. Die Märzausgabe des BLOG “Outlet del funerale6: “Nonostante tutti i media parlino di cremazione, non è vero che i corpi dei morti per coronavirus (codiv-19) debbano essere per forza cremati.”

    Fra l’altro, al momento, c’è un esubero di richieste per la cremazione e ci vogliono settimane e settimane – tra poco sarà un mese – prima di ricevere i resti del proprio caro. Il consiglio è di procedere con le altre due forme di sepoltura; a tal proposito il Comune di Milano ha agevolato le inumazioni in particolari circostanze, proprio per diminuire la pressione sui forni crematori.” Mailand erkannte also das Problem.

    Tatsache 4: Bergamo musste bereits am 12. März den Betrieb des Krematoriums auf 24 Stunden ausweiten. Laut dem Assessor für Zivilschutz in Bergamo, Giacomo Angeloni, konnte das Krematorium in 24 Stunden aber nur die Einäscherung von 27 Särgen bewältigen. Nicht mehr. Es wurdert also nicht, dass am 18. März erstmals Särge in andere städtische Krematorien verbracht werden mussten.

    Tatsache 5: erste Versuche der Aufklärung und Entspannung über die legalen Formen der letzten Ruhe kamen erst am 3. April 2020.8 D.h. erst eine Woche nach der “ordinanza” der Protezione Civile. Eine verspätete Reaktion auf die selbstverschuldeten “problematiche derivanti [...] dall’accumulo anomalo di feretri rimasti in giacenza, peraltro contenenti salme di defunti risultati positivi al covid-19 (coronavirus).

    Tatsache 6:  Es waren also Särge, die “peraltro” [u.a.] “Leichen von Verstorbenen” enthielten, die positiv auf Covid-19 getestet waren. Der Test aber wurde bei Toten “unabhängig von der Schwere der klinischen Anzeichen oder Symptome” angewendet; bei positivem Ergebnis wurde ICD-10 U07.1 eingetragen9. U steht für “uncertain etiology” [unklare Ursache]. Medien aber berichteten von “morti per pandemia di Covid-19”. 

    Tatsache 7: Die “effektive Todesursache” musste in der Tat erst noch festgelegt werden. So hieß es im “Bollettino” der Protezione Civile vom 18.03.2020 18:00 Uhr: “I deceduti sono 2978, questo numero, però, potrà essere confermato solo dopo che l’Istituto Superiore di Sanità avrà stabilito la causa effettiva del decesso.” Bis zuletzt blieb man aber bei dieser provisorischen Zuordnung U07 [“provisional assignement”].

    Tatsache 8: Diagnostiziert wurde also mittels Labortests. Diese standen anfangs nur für Tote zur Verfügung. Der Fall des ersten autochthonen Coronafalles Italiens bei Codogno wurde am 21.2.2020 nur erkannt, weil eine noch lebende Person eindeutigen Symptome von Covid zeigte. Als bei Alzano am 22.02.2020 der zweite Fall bekannt wurde, verstarb nachts die Mutter von Francesco: Er berichtete am 18.März 2024 der Rai 10:

    Francesco vermutete bei seiner Mutter Covid als Totesursache und fragte um einen Labortest; u.a. auch für seinen noch lebenden Vater. Die Antwort lautete, “für die Lebenden” gebe es keinen Test. Der Vater erkrankte und verstarb bald darauf. “Es war auch kompliziert, herauszufinden, wo der Körper [zu finden] war”. Seine Leiche landete im cimitero monumentale bei der Bestattungsunternehmerin Roberta Caprini.

    Tatsache 9:  Roberta Caprini vertrat in jenen Tagen ihre Eltern, war überfordert und sah sich von den Behörden allein gelassen. Im Interview mit Oval Media erklärte Frau Caprini [ca. Min. 11]11: “quei giorni [...] cercavamo di parlare con le istituzioni, che erano introvabili - [...] il centro sanitario territoriale non ci ha mai risposto. La prefettura di Bergamo, organo di governo provinciale chiuso; come chiuso?!”  

    Roberta Caprini erreichte nur die Protezione Civile. Was dann passierte, entsetzte sie [ca. min 14]12: “Per la gente di Bergamo è stata una ferita che sarà insanabile, cioè perchè aveva i suoi cari su quei mezzi. Non serviva quella cosa! [...] Anche perchè poi in realtà di numeri si tratta di -io non so- 60 70 salmi; cioè se hai un po di personale e fai arrivare dei mezzi ti aiutano senza spettacolarizzare in quel modo un trasporto

    Tatsache 10: Dass es sich um 65 und maximal um die 70 Särge handelte, war zeitnahe bereits bekannt und öffentlich gemacht: l’ Avvenire berichtete am 18.03.2020 von eine  “certo numero di bare, circa una sessantina” und schreibt am 19.03.2020  von “65 bare13. Dies entspricht der Zahl von 65, die im  Video Bericht des TG3 der Rai mehrmals erwähnt wurde.14 Die Republica klärte am 30 April 2020 auf 15

     

    "dieci camion dell'Esercito con a bordo 65  salme" 

    "Su ogni camion ci stanno 6-7 bare"

     

     

    4Coronavirus: a Milano ordinanza per sepoltura entro 5 giorni - Notizie - Ansa.it

    5https://primabergamo.it/cronaca/troppe-bare-al-cimitero-non-si-sa-piu-dove-metterle/

    6Marzo, 2020 | OUTLET DEL FUNERALE

    7"Covid, i camion trasportavano una bara", il Comune di Bergamo querela

    8https://outletdelfunerale.it/wp/2020/04/introdotte-procedure-eccezionali-per-le-sepolture-dei-defunti/

    9https://icd.who.int/browse10/2019/en#/U07.1

    10https://www.rainews.it/video/2024/03/bergamo-nel-2020-fu-colpita-duramente-dal-covid-migliaia-i-morti-la-testimonianza-di-francesco-2b92a3f6-f504-40f8-b25e-1ca9fe3dd970.html

    11 https://youtu.be/nnQ5hdQun-Y?si=dRhAkJN7r2aJ5CII 

    12 https://youtu.be/nnQ5hdQun-Y?si=dRhAkJN7r2aJ5CII 

    13https://www.avvenire.it/attualita/pagine/le-bare-sui-camion-militari-bergamo-sotto-choc

    14https://www.facebook.com/tg3rai/videos/18-marzo-2020-linizio-di-tutto/445853393291730/

    15https://milano.repubblica.it/cronaca/2020/04/30/news/quella_colonna_di_camion_nella_citta_ferita_cosi_l_italia_capi_la_tragedia-300899823/