„Wie zweijährige Kinder“

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SALTO: Herr Lotter, schweigen Politikerinnen und Politiker über unangenehme Wahrheiten, weil sie ansonsten abgewählt werden?
Wolf Lotter: Ja, das tun sie, aber nicht nur sie, sondern auch Unternehmen. Ich glaube, heute wird die Realität ignoriert, wie kaum zuvor.
„Zweijährige Kinder machen ihre Hände vor die Augen und glauben, sie werden nicht gesehen.“
Vielleicht auch, weil jeder seine eigene Wahrheit gefunden hat, wenn man sich die Aussagen von US-Präsident Donald Trump anschaut...
Genau, man verhält sich wie zweijährige Kinder. Zweijährige Kinder machen ihre Hände vor die Augen und glauben, sie werden nicht gesehen. So funktioniert das auch in den sozialen Medien, in der Politik und in den Wohlstandsgesellschaften, die zwar ihre Probleme kennen, aber nicht lösen wollen. Der amerikanische Autor Philip K. Dick hat gesagt, die Realität ist das, was nicht weggeht, wenn du nicht daran glaubst. Deshalb glaube ich, müssen wir uns wieder mehr mit dem Realitätssinn beschäftigen.
Wovor verschließen wir denn die Augen?
Es gibt ja eine ganze Menge benannter Probleme. Wenn Sie zum Beispiel an die Klimafrage denken oder an die kriegerische Auseinandersetzung mit Putins Russland. All diese globalen Verwerfungen sind bekannt. Auch unsere Wirtschaft in Europa ist innovationstechnisch zurückgefallen, wir sind nicht mehr so kreativ. Das zu ändern, wäre aber anstrengend. Und deshalb sagt man, mir ist das alles zu viel und ich möchte gar nichts mehr hören. Aber das ist die falsche Ruhe, die wir da einfordern. Ich bin sehr für Konzentration und Fokussierung. Aber ich bin ganz dagegen, sich die Illusion zu machen, dass die Dinge von selber gehen, das tun sie nicht.
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Zur Person
Wolf Lotter lernte Buchhändler und studierte Geschichte, Kommunikationswissenschaften und Kulturmanagement. Der renommierte Journalist mit österreichischen Wurzeln ist Gründungsmitglied des deutschen Wirtschaftsmagazins brand eins, für das er mehr als 23 Jahre die Leitessays schrieb. In seinem aktuellen Buch „Echt. Der Wert der Einzigartigkeit in einer Welt der Kopien” (2024) geht es um Fälschungen, Plagiate und Kopien, den Gegenstücken zur Wahrheit und Wirklichkeit. Lotter hält beim diesjährigen Global Forum Südtirol in Bozen eine Keynote.
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Wie soll der Journalismus auf diese Resignation der Menschen reagieren?
Der Journalismus ist zu sehr zu Marketing geworden und begeht damit eigentlich Selbstmord, weil nur kritischer Journalismus Jobs retten kann. Man muss nicht immer nach den schönen oder schlechten Dingen im Leben suchen, sondern einfach die Wirklichkeit beschreiben. Denn damit geben wir Menschen eine Informationsgrundlage, um Entscheidungen zu treffen, das ist eigentlich unser Job.
„Die Idee der Plattformen hatte sich schon durchgesetzt, nämlich, dass wir die Leute für uns arbeiten lassen und so tun, als würden wir ihnen was schenken.“
Gleichzeitig stehen die Medien wegen der Digitalisierung vor einer Krise, weil im Internet alles gratis sein soll.
Das ist das Endergebnis einer Realitätsverweigerung, von der ich über viele Jahrzehnte Zeuge wurde. Ich bin seit den späten 80er Jahren Journalist, als die Digitalisierung begann. In den ersten 20, 25 Jahren gab es in den Redaktionen nur Widerstände gegen jede Form von Digitalisierung. Die Print-Journalisten waren wichtiger als die Leute, die digital waren. Als man gemerkt hat, dass man ein völlig anderes Geschäftsmodell braucht, war es eigentlich schon zu spät. Denn die Idee der Plattformen hatte sich schon durchgesetzt, nämlich, dass wir die Leute für uns arbeiten lassen und so tun, als würden wir ihnen was schenken. (siehe auch Geschäftsmodell von sozialen Medien, Anm. d. Red.). Trotzdem hat der Online-Journalismus große Chancen vor sich.
Tatsächlich?
Die große Aufgabe von Journalismus ist es heute, Informationen zu sammeln, die mir mein Leben erklärbarer machen und Zusammenhänge aufzeigen. Wenn die Informationen hilfreich sind und mich nicht nur einlullen, dann steigt auch die Zahlungsbereitschaft.
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Sie befürworten den sogenannten Zivilkapitalismus, was macht der anders als die Wirtschaft heute?
Die Wirtschaft von heute sagt den Leuten, was sie tun sollen, damit sie Konsumenten bleiben. Dagegen wehre ich mich seit vielen Jahren mit geringem Erfolg, das gebe ich gerne zu. Es ist bequemer zu sagen, dass ich mir meine Meinung irgendwo abhole oder einfach nur kapitalismuskritisch bin. Zivilkapitalismus würde aber bedeuten, dass ich mich als lohnabhängige Person nicht aussetze und andere über mein Leben und mein Geld entscheiden lasse. Und deshalb ist diese materielle Unabhängigkeit der Kern jeder Emanzipation, auch bei jeder kritischen Bewegung.
„Kümmere ich mich in meinem eigenen Umfeld um meine Welt, um die Menschen, mit denen ich lebe?“
Was schlagen Sie konkret vor?
Gründet Firmen, Genossenschaften oder Gemeinschaften! Damit bleibt das Ganze nicht abhängig von einigen wenigen reichen Leuten und Politikern, die machen, was sie wollen.
Also lehnen Sie den Kapitalismus nicht ab, sondern fordern ein Gegengewicht zu der Macht globaler Konzerne?
Für den Begriff „Kapitalismus“ gibt es in der Fachwelt 720 verschiedene Definitionen. Der Kapitalismus in Italien unterscheidet sich von dem in Deutschland, der ist in Japan anders als in China. Grundsätzlich geht es darum, Dinge gegen etwas zu tauschen, das mir nützlich ist. Dieser Gedanke ist der Ursprung jedes Handels und jeder ökonomischen Bewegung – aber eben ohne dieses Element, auf Teufel komm raus allen alles zu verkaufen. Das ist im Kapitalismus von Konsum und Marketing so groß geworden. Das Marketing hat die Aufgabe Ihnen alles zu verkaufen, ob Sie es brauchen oder nicht.
Wie erklären Sie sich die Krise der Demokratie und den Rechtsextremismus?
Im Kern ist es die Abkehr von eben dieser Zivilgesellschaft, die ja etwas ganz Einfaches ist. Kümmere ich mich in meinem eigenen Umfeld um meine Welt, um meine Nachbarn, um die Menschen, mit denen ich lebe? Mit einer engagierten Zivilgesellschaft ist es auch nicht möglich, dass die große Variante, die staatliche oder nationale Variante kippt und die Demokratie Schaden nimmt. Ich würde die Schuld gar nicht den Politikerinnen und Politikern geben. Die verkaufen eben ihre Ware relativ schamlos und manipulieren die Leute dabei auch. Aber wir alle sind Erwachsene und müssen das doch auch erkennen können. So wie wir die Wirklichkeit erkennen und dann handeln können. Wir können nicht ständig nur sagen, da kann man nichts machen. Das ist das große Problem in Zentraleuropa.
Inwiefern?
Wir sollten zweifelnde Lebewesen sein, seit der Aufklärung jedenfalls. Also man muss sich doch immer fragen, stimmt es? Und wenn es nicht stimmt, muss ich meine Stimme erheben und muss etwas tun. Das ist Demokratie. Und dann muss ich in dieser Demokratie verhandeln. Doch sowohl bei den Rechten als auch bei den Linken ist eine Denkfaulheit festzustellen, die dem Populismus auf beiden Seiten nützt und dazu führt, dass für sakrosankt gehaltene Grundannahmen nicht mehr hinterfragt werden und Differenzierungen ausbleiben. Dabei ist es eines der wichtigsten Dinge, Unterschiede zu machen, denn nicht alle Politiker sind Lügner.
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Global Forum Südtirol 2025
Die Konferenz des unabhängigen Think Tank Global Forum Süditrol findet heuer zum Thema „Wahrheiten“ am 12. September ab 13 Uhr bei Eurac Research in Bozen statt. Auf dem Programm stehen unter anderem Vorträge von Moraltheologe Martin M. Lintner, Journalist Wolf Lotter, Neuropsychologin Gabriella Bottoni und Olympiasieger Alex Schwazer. Die Veranstaltung ist bereits ausgebucht.
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genau, selbst in der kunst ist es so. je mehr du die wahrheit ersichtlich machst, desto mehr hungerst du. kurzum, sozialkritische themen, hängen sie sich nicht auf, oder stellen sie sich, nicht in den raum. südtirol ist da mit seinen milliarden, ganz vorne.
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"FIRMEN, GENOSSENSCHAFTEN oder GEMEINSCHAFTEN," bewegen sich fast AUSNAHME-los, auf der NEO-LIBERALEN-SCHIENE, "die FRÜCHTE der zuvielen Arbeit -o h n e- BEZAHLUNG + der vielen Arbeit mit schäbiger BEZAHLUNG, kräftig nach ganz oben schaufelt!"
"Es gab nach dem 2. Weltkrieg die NÜRNBERGER PROZESSE, bei denen die Angeklagten nach Amerikanischem Recht, sogar zum Tod verurteilt wurden!"
"Warum verurteilt man nicht -s o f o r t- den Überfall vom PUTIN auf die Ukraine, das wirtschaftliche Hazard-Spiel vom TRUMP + die Greueltaten in GAZA, nach den eigenen Gesetzen, verhängt die dafür vorgesehenen Strafen + verhaftet die Übeltäter, wenn sie es wagen die eigenen Grenzen zu überschreiten ...?"
Antwort auf "FIRMEN, GENOSSENSCHAFTEN… von Josef Fulterer
Warum verurteilt man nicht…
Warum verurteilt man nicht eine ganze Serie amerikanische Präsidenten für Angriffe in Vietnam, Irak, Iran, Afganistan, Lybien, ... mit MILLIONEN tote Zivilisten???
Warum verurteilt man nicht die Nichteinhaltung der Abkommen mit Russland und die Ausbreitung der Nato bis zu Russlands Grenzen?
Warum verurteilt man nicht die Angriffe Kievs auf Zivilisten des Donbass und Crimea??
...
Zitat: „Warum verurteilt man…
Zitat: „Warum verurteilt man nicht die Nichteinhaltung der Abkommen mit Russland“:
Welche? Mir fällt da keines ein...
nb: das Fehlverhalten des einen gestern rechtfertigt nicht das Fehlverhalten des anderen heute.
nb 2: die „Nato“ hat sich nicht „ausgebreitet“. Souveräne Staaten haben nach EIGENER Entscheidung zu ihrem Schutz um Aufnahme in das Verteidigungsbündnis Nato gebeten.
Antwort auf Zitat: „Warum verurteilt man… von Peter Gasser
@ Christian I, Fr., 12.09…
@ Christian I, Fr., 12.09.2025 - 14:10 Uhr