Ist dieser Generationenvertrag noch zu halten?
187 Milliarden Euro gibt Italien jedes Jahr für Pensionszahlungen aus. Dieser Betrag umfasst nur die Alters- und Dienstaltersrenten, nicht auch die Invaliden- und Hinterbliebenenrenten sowie die Leistungen der privatisierten Rentenkassen. Diese Summe liegt mit 15-16% der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes ungefähr ein Viertel über dem europäischen Durchschnittswert (11-12% des BIP). 46 dieser 187 Milliarden Euro sind darauf zurückzuführen, dass die Rentenbezieher ihre Leistungen aufgrund des alten Berechnungssystems („sistema retributivo“) und nicht angesichts der effektiv einbezahlten Beiträge erhalten. In anderen Worten: Die aktuellen Rentenbezieher erhalten - unter Berücksichtigung ihrer Lebenserwartung - jedes Jahr 46 Milliarden Euro mehr ausbezahlt, als sie im Laufe ihres Arbeitslebens einbezahlt haben. Das entspricht 3% des BIP und knapp der Hälfte der Zinszahlungen, die der Staat jährlich zu schultern hat. Ohne diese Pensions-Kluft hätte Italien seit Jahren einen ausgeglichenen Haushalt.
Es ist das Verdienst des neuen INPS-Präsidenten Tito Boeri endlich Licht in die unentwirrbaren Ganglien der Rentenprivilegien zu bringen. Woche für Woche veröffentlicht er neue Zahlen über das Missverhältnis zwischen bezogenen Leistungen und einbezahlten (und aufgewerteten) Beiträgen. Diese Transparenzaktion könnte der Politik den Anstoß geben, endlich das Tabuthema erworbene Rechte im Rentenwesen anzugehen und die Regierung darin bestärken, dringendst notwendige Korrekturen vorzunehmen - trotz einer Rechtsprechung, die bis dato häufig den formal-juridischen Garantien mehr Gewicht beimaß, als den substantiell vorhandenen Ressourcen, die nötig sind, um diese Garantien zu bedienen. Eine Korrektur, die nicht nur aus haushaltstechnischer Sicht und von der mathematischen Logik her geboten ist, sondern auch und im Besonderen im Hinblick auf die Generationengerechtigkeit.
Während die nach dem alten Rentensystem versorgten Pensionisten im Durchschnitt rund ein Viertel (24,6%) oder gut 4.000 Euro pro Jahr mehr an Rente erhalten, als sie eingezahlt haben, haben viele der heutigen jungen Italiener eine Pension zu erwarten, die ihr Auskommen im Alter nicht gewährleisten dürfte. Dabei werden sie von zwei Seiten in die Zange genommen:
Einerseits zählen für ihre Rente nur die selbst entrichteten Beiträge, die aufgrund einer Jugendarbeitslosigkeit von 42-43%, regelmäßiger Unterbrechungen der Beitragsjahre (Stichwort: prekäre Arbeitsverhältnisse) und niedriger Bemessungsgrundlagen (mickrige Löhne, Stichwort: Generation Praktikum) im Durchschnitt dramatisch niedrig ausfallen. Andererseits werden die Koeffizienten, mit denen das letzte Gehalt in die erste Rente umgerechnet wird, auch, aber nicht nur aufgrund der steigenden Lebenserwartung, regelmäßig nach unten korrigiert, sodass je nach individueller Position und Berufskategorie mit einer Pension irgendwo zwischen 30-50% des letzten Gehalts vor der Verrentung zu rechnen ist – selbstverständlich nur für den Fall, dass ununterbrochen für eine Vollzeitarbeit Rentenbeiträge einbezahlt wurden. Dieser niedrige Prozentsatz rührt auch daher, dass die Lebenserwartung von 69 Jahren aus den Siebzigern mittlerweile bei 82 angelangt ist.
Wenn diese Generation wie all die anderen Erwerbstätigen, die ihre Rente ebenfalls ausschließlich nach dem beitragsbezogenen System beziehen werden, den Ernst der Lage begreifen, fragt sich, wie lange sich eine Gesellschaft angesichts solcher Aussichten hinter formal-juristischen Floskeln verstecken kann. Die Jungen von heute könnten sich zu fragen beginnen, warum sie überhaupt arbeiten und jenen Mehrwert erwirtschaften sollen, mit dem die heutigen Rentner (im Durchschnitt) überversorgt werden, während sie selbst mit guter Wahrscheinlichkeit durch die Finger schauen.
TITO BOERI. Foto: Niccolò Caranti. Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tito_Boeri_-_Festival_Economia_2012.JPG
Es wäre also dringend geboten, alle Renten, also auch jene die ausschließlich nach dem Umlageverfahren berechnet wurden sowie jene des sog. Mischsystems, zumindest teilweise auf die effektiv eingezahlten Beträge zurückzuführen. Die Regierung und die Verantwortlichen des INPS sind sich dessen wohlbewusst, allerdings auch der zu erwartenden Widerstände aus Politik, Gesellschaft und seitens der Korporationen. In diesem Zusammenhang gilt es den sozio-ökonomischen Hintergrund der Entstehung des Konzepts der „erworbenen Rechte“ in Erinnerung zu rufen.
In Sechziger-Jahren durchlebte Italien seine Wirtschaftswunderzeit, die zu hohem Wachstum und nahezu Vollbeschäftigung führte. Jährlich stiegen Produktion, Einkommen und Wohlstand, die wirtschaftliche Dynamik kannte nur eine Richtung: nach oben! Die Arbeitsmoral war hoch, weil Einsatz und Fleiß einen unglaublichen Sprung ermöglichten: Elektrogeräte, Auto, Eigenheim, Urlaub, Ausbildung der Kinder, Unterhaltung. In den Siebzigern ebbten die starken Wachstumsraten zwar ab, der Politik gelang es aber durch das Anheizen der Inflation Löhne und Sachwerte wie Immobilien weiter steigen zu lassen und so das allgemeine Gefühl des Wohlstandes am Leben zu erhalten. Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre kamen die negativen Begleiterscheinungen der gezielten Geldentwertung zum Tragen und die Regierungen fanden einen neuen Weg, Wirtschaftswachstum und Löhne künstlich in die Höhe zu treiben: die Staatsverschuldung. Auf diese Weisen garantierte sich Italien von den Sechzigern bis zur Euro-Einführung kontinuierlich hohe Wachstumsraten und die Aufrechterhaltung rosiger Zukunftserwartungen.
In diese Periode fallen Entstehung und Mentalität der „erworbenen Rechte“. Jeder Erwerbstätige leistete seinen Beitrag zum Aufstieg Italiens in die Gruppe der 7 größten Industrienationen der Erde und es war in dieser Stimmung, dass der moralisch-rechtliche Anspruch auf ein Festschreiben des erreichten Wohlstandes entstand. Da von Jahr zu Jahr von einem höherem BIP und damit einem größeren zu verteilenden Kuchen auszugehen war, schien es nur recht und billig allen am Erfolg Beteiligten eine permanente Zuwachsgarantie zu gewährleisten. Aber irgendwann begann die wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung des Landes nicht mehr mitzuspielen. Das Gesetz abnehmender Wachstumsraten in gesättigten Volkswirtschaften machte beim „Bel Paese“ keine Ausnahme, eine Dauerinflationierung wurde in der Zwischenzeit als langfristig nicht zielführend entlarvt und lag seit dem Beitritt zum Euro nicht mehr in der Hand der italienischen Regierungen, bei der Staatsverschuldung hat mittlerweile (fast) jeder erkannt, dass das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Gerade dieses Wachstum auf Pump, das Italien in den letzten Jahrzehnten vor einer Dauerrezession bewahrt hat, hat zusätzliche Lasten auf die künftigen Generationen verschoben. Diese sollen nun:
1. den Schuldenberg abtragen (d.h. mehr erwirtschaften als konsumieren);
2. den dafür verantwortlichen Generationen ihre, auf künstlich aufgeblähten Wachstumserwartungen basierenden, unantastbaren Leistungsansprüche bis in den Tod garantieren;
3. privat vorsorgen, weil die staatliche Rente die Zeit ihres Arbeitslebens eingezahlten Beiträge nicht wieder hergeben wird.
Dass dies zu viel der Zumutung ist, sollten auch jene Parteien und Gewerkschaften erkannt haben, die derzeit mit Verweis auf die erworbenen Rechte auf die Rückzahlung der kürzlich vom Verfassungsgericht „losgeeisten“ Inflationsanpassungen für alle Rentenbezieher pochen. Linke und Gewerkschaften fordern in der Regel eine steuerliche Bezuschussung der Renten aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit. Wenn es ihnen um eine gerechtere Einkommensverteilung zwischen Lohn- und Gewinnquote geht, dann sollte diese besser über die Lohn- , Steuer- und Sozialpolitik verfolgt werden und nicht über das Rentensystem, das aufgrund seiner Intransparenz und der politischen Einflussnahme vielzähliger Interessensgruppen untragbare, bisher häufig versteckte und daher nicht vergleichbare und nicht auf breitem demokratischen Konsens beruhende Privilegien bereithält, die jedem Prinzip von Gerechtigkeit spotten.
Die Bindung eines dermaßen hohen Anteils der Staatseinnahmen für laufende Kosten, wie es bei der Steuerfinanzierung der Pensionen geschieht, verringert zudem den Handlungsspielraum des Staates für produktive und innovative Impulse, um Italien endlich aus dem mittlerweile 20 Jahre anhaltenden Stillstand herauszuführen. Wenn viele Pensionen nicht zum Leben ausreichen, dann sollte ernsthaft über die Einführung einer angemessenen steuerfinanzierten Mindestrente nachgedacht werden, bis zu deren Höhe die darunterliegenden Leistungen angehoben werden, ohne auch die Bezieher ansehnlicher Renten weiterhin in ungebührlichem Maße zu bezuschussen. Auch ein Grundeinkommen ab einem bestimmten Lebensalter wäre denkbar. Wenn schon Umverteilung im Alter, dann auf eine Weise, die für alle gerecht ist und ohne Diskriminierungen zwischen Generationen und Berufskategorien auskommt.
Passt perfekt, heute auf
Passt perfekt, heute auf Repubblica.it: http://www.repubblica.it/economia/2015/05/23/news/pensioni_spesa_scuola…
Sehr guter Artikel. Das
Sehr guter Artikel. Das Problem ist enorm, da aber die Senioren mittlerweile den demographischen Schwerpunkt der Gesellschaft bilden wagt kein Politiker ihnen etwas wegzunehmen (das ihnen gar nicht zustünde).
Ich frage mich oft wie die Leute die jetzt jung sind und kaum Beiträge zahlen können je eine Pension erhalten sollen.
Meinst du mit
Meinst du mit "kapitalgedecktem Verfahren" eine kapitabildende, freiwillige Zusatzrente wie die Riester-Rente in Deutschland?
Wenn ja, gäbe es dieses Angebot ja durch die Zusatzrentenfonds (für alle offene oder geschlossene, nur für vom Kollektivvertrag vorgesehene Berufskategorien). Es scheint aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein zu sein und genau für jene nicht in Frage zu kommen, die aufgrund niedriger Löhne und/oder unterbrochener Anstellungsverhältnisse sowieso nichts zur Seite legen können.
Eine Variante wäre, allen - vom Putzmann bis zum Richter - eine staatliche Mindestrente auszuzahlen (abhängig von welchen Voraussetzungen: bedingungslos, aufgrund der Beiträge oder der Beitragsjahre, des Lebensalter?) und es jedem Einzelnen selbst zu überlassen, darüber hinaus für eine kapitalbildenen Zusatzrente einzuzahlen, um den Lebensstanard im Alter zu erhöhen. Das Ergebnis wäre (vielleicht) der Ausgleich der staatlichen Pensionskassen, für die Rentner aber wohl wieder dasselbe: Der Putzmann könnte von seiner dann wohl entwerteten Mindestrente nicht leben (und auch wohl nichts zusätzlich eingezahlt), die Richterin hat so oder so kein Problem.
Am krassesten ist der Gap
Am krassesten ist der Gap zwischen Beiträge und Auszahlung natürlich bei den (wie kann es anders sein?) ... Politikerrenten. Der Giornale schrieb vor ca. 2 Wochen, dass Piero Marrazzo, von 2005-2009 Präsident von Latium, heute 58-jährig (!), bereits 5-Mal soviel an Rente erhalten haben soll, als er eingezahlt hat: http://www.ilgiornale.it/news/cronache/marrazzo-re-dei-consiglieri-naba…
Für Südtiroler Beispiele hat die NSTZ was:
http://www.tageszeitung.it/2015/05/27/goldene-renten/