Gesellschaft | Menschen

Neue Aufgaben für alte Glocken

Der heutige „Weltflüchtlingstag“ war dem Kölner Kardinal Woelki Anlass genug, sämtliche Glocken seiner Diözese schlagen zu lassen. Ob sie gehört wurden?
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 230 katholische Kirchen, 23.000 katholische Glockenschläge, für 23.000 (vorwiegend muslimische) tote Flüchtlinge im Mittelmeer. Sogar seine größte Glocke ließ der Kardinal läuten, den "Großen Pitter" im Kölner Dom, die größte schwingende Glocke der Welt, die traditionell nur zu besonderen Anlässen und an hohen kirchlichen Feiertagen geläutet wird. Das alles für die 23.000 *ausländischen* und eher nichtkatholischen Toten, die auf ihrem Weg in ein - hoffentlich - besseres Leben nie dort ankamen.

(Es ist wohl nicht anzunehmen, dass der Herr Kardinal vor seiner Aktion überprüft hat, ob all die Toten, für die er seine Glocken schlagen ließ, auch ein Recht darauf hatten, sich also „Flüchtling“ nennen durften, oder nicht; ob der "Große Pitter" für einen "echten" Flüchtling tönte, oder womöglich gar *nur* für einen *diebischen* "Wirtschaftsflüchtling". @ Ist "Perspektivlosigkeit" eigentlich kein guter Grund, die Flucht - nach vorn oder wohin auch immer - anzutreten?)

Die (vielen, stolzen) Glocken in den (vielen, stolzen) Südtiroler Kirchtürmen aber schwiegen. Hierzulande wird auch niemand, wie der Herr Kardinal, wütend und ein bisschen laut, weil „wir in unserem reichen Haus Europa so klein und armselig denken.“ Es gehört sich wohl nicht, wütend zu werden.

Im reichen Südtirol läuten eher nur die Alarmglocken, laut und schrill, und wütend wird höchstens der Herr Leitner von den Südtiroler Freiheitlichen, oder jedenfalls ärgert er sich, auf Facebook, über „faselnde linke Reichshälften“, und tut ganz so, als seien Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und Verständnis keine urmenschlichen Tugenden und jedenfalls Christenpflicht, sondern einfach nur: dumm. Und meint, dass zwar schon geholfen werden solle, aber doch bitte nur, wenn auch gesichert ist, dass rechtmäßiger Anspruch besteht, auf Hilfe. Er sorgt sich vor „Masseneinwanderung“, und dabei ist's ihm ganz egal, dass in Wahrheit „Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge nach Europa (kommt). Annähernd neun von zehn Flüchtlingen werden in ärmeren Ländern aufgenommen.“ (Man beachte: „In ärmeren Ländern“.) Und er ängstigt sich nicht zuletzt vor einer angeblichen feindlichen muslimischen Übernahme des christlichen Europa, weil er glaubt (!) oder das Gefühl hat (!), dass „verfolgte Muslime nicht in sichere Länder fliehen, wo der Islam Staatslehre ist und (…) stattdessen in Ländern Unterschlupf suchen, wo lauter "Ungläubige" leben“. Dabei könnte er ganz beruhigt sein, wenn er ehrlich wäre, denn:  „Syriens nördlicher Nachbar Türkei ist mit 1,59 Millionen Flüchtlingen zum Aufnahmeland Nummer eins weltweit geworden. Afghanistans Nachbar Pakistan folgte mit 1,51 Millionen aufgenommenen Menschen knapp dahinter auf Rang zwei. Auch Pakistan, Libanon, der Iran und Äthiopien sind unter den Ländern, die am meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Dabei beherbergt der Libanon im Verhältnis zur Einwohnerzahl die meisten Flüchtlinge in seinen Grenzen. Hier kommen dem Bericht zufolge 232 Flüchtlinge auf 1000 Einwohner.“

Den Afrikanern, meinen er und seine JüngerInnen, müsse „vor Ort“ geholfen werden, nicht hier, und die Kriegs- und Waffenpolitik gehöre geändert, Ausbeutung gestoppt, und überhaupt: Die Welt von zuunterst nach zuoberst gedreht. Womit er vermutlich Recht hat – aber: Zum einen dürfte eine solche grundlegende Änderung der Welt- und Wirtschaftspolitik wohl kaum spurlos an uns vorübergehen (wenn sie uns nicht gar teurer zu stehen käme als die Aufnahme und professionelle Eingliederung der Menschen, die vor diesem und anderem Unrecht fliehen. Diese Eingliederung würde ja übrigens auch einen ganzen Haufen Arbeitsplätze schaffen – keine Ahnung, warum diese Sorte Arbeitsplätze nicht erwünscht zu sein scheint?!), und dürfte – falls sie denn gelingen sollte, ein bisschen länger dauern. Und was tun wir, mit den Flüchtlingen, bis dahin? Bitten wir sie höflich, sie mögen sich doch noch ein wenig gedulden, in und mit ihrem Elend, bis wir aufgeräumt haben, bei ihnen zuhause, den Dreck, den wir zu guten Teilen (mit-)verursacht haben?

Es ist also nichts als ein lauwarmer Händedruck und übelste Scheinheiligkeit, wenn man die Bevölkerung glauben lässt, es gäbe unmittelbar andere (bequemere) „Lösungen“ als die, die sich uns aufdrängt, weil sie gar nicht anders kann. Nichts und niemand wird diese Menschen aufhalten, bis auf weiteres. Wer das Gegenteil behauptet, lügt. Und es gibt nur wenige Fragen, die wir uns stellen können, und die lauten: Was können wir tun? Wie können wir das tun?

Ja ja. Und derweil wir noch hoffen und so tun, als könne dieser "Kelch" vielleicht doch an uns vorübergehen, haben andere schon längst schöne Nägel mit Köpfen - und das Problem zum Potential gemacht:

. Bei unseren Nachbarn, den Schweizern, gibt es „Ein neues Pilotprojekt (. Es) soll die mögliche Beschäftigung von vorläufig Aufgenommenen und Flüchtlingen im Bereich der Landwirtschaft aufzeigen.“ http://www.nzz.ch/schweiz/aktuelle-themen/fluechtlinge-als-bauern-1.18545739

. In Wien, aber auch in Augsburg, betreiben Flüchtlinge Hotels: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/fluechtlinge-betreiben-hotel-magdas-in-wien-13428621.html

. Ein Berliner Student hat eine Online-Uni für Flüchtlinge (ohne Papiere) gegründet: http://motherboard.vice.com/de/read/die-wings-university-will-eine-online-uni-fuer-fluechtlinge-und-papierlose-werden-123?utm_content=zeitde_redpost_link_sf&utm_campaign=ref&utm_source=facebook_zonaudev_int&utm_medium=sm&wt_zmc=sm.int.zonaudev.facebook.ref.zeitde.redpost.link.sf

. In Berlin produziert ein Start-Up Designermöbel, mit Flüchtlingen, aus dem Holz der Schiffswracks von Lampedusa. http://www.zeit.de/2014/47/cucula-fluechtlinge-lampedusa-unternehmen

. In Dänemark hat „Der ehemalige Kulturminister Uffe Elbæk eine Partei gegründet, die sich an das offene und tolerante Dänemark richtet. Alternativet heißt sie (…), und „will ein zweijähriges Bildungsprogramm für Einwanderer einführen, in dem sie sich mit demokratischen Werten wie Gleichstellung und Religionsfreiheit beschäftigen sollen. Gleichzeitig will die Partei in den Schulen das Fach "Demokratische Mitbürgerschaft" einführen, das unter anderem Radikalisierung verhindern soll.“

 Und der Kölner Kardinal Woelki lässt seine Glocken läuten, 23.000 Mal.

Ja. Alle diese Projekte, und noch ein paar sehr schöne mehr, hätten genauso in Südtirol stattfinden und „erfunden“ werden können, denn wir haben (viele) Landwirte, (viele) Hotels, (viele) Handwerker, viele Kirchtürme und noch mehr Glocken. Und nicht zuletzt: Viele Ressourcen. Warum nicht wir die Pioniere sind? Keine Ahnung. Vielleicht, weil man uns alleweil weismachen will, wir hätten vor diesen Menschen Angst zu haben, und sie wollten uns unser Land, unsere Geschichte, aber am allermeisten: unseren Reichtum wegnehmen.

Das wollen sie natürlich nicht, und das können sie auch gar nicht. Sie wollen nur (auch) eine faire Chance. Die sollten wir ihnen zu bieten haben, meine ich.