Gesellschaft | demokratiefähig ?

FUNDAMENTALISMEN

Sie erwachen im Untergrund, wühlen auf, schlagen zu, tauchen unter, wuchern unter der Decke und stellen eine schwache, kränkelnde, gleichgültige Demokratie auf den Kopf
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Fundamentalismen

Sie erwachen im Untergrund, wühlen auf, schlagen zu, tauchen unter, wuchern unter der Decke und 4% von ihnen stellen eine schwache, kränkelnde, gleichgültige Demokratie auf den Kopf.

Ob braun, gelb, schwarz, rot, oder grau, ob religiös, politisch, atheistisch, oder neoliberal, Fundamentalisten waren in der Geschichte und sind heute noch die häufigste Ursache von Hass, von Blutvergießen, von Rache ohne Ende. So geschehen in den Zwanziger Jahren in Italien beginnend mit dem „Marsch auf Rom“; in den Dreißigerjahren in Deutschland, wo ein in Wien gescheiterter „Künstler“ später als Gefreiter „Mein Kampf“ verfasste und mit seinen Fanatikern den größten Teil Deutschlands, Österreichs und Südtirols hysterisch in einen nie dagewesenen Größen- u. Zerstörungswahn trieb.

Ich sage nicht, dass nicht auch ich dem damaligen Wahn verfallen wäre und für das „Großdeutsche Reich“ optiert hätte, doch klage ich heute die Fahrlässigkeit an, mit der zu viele von uns Südtirolern die Geschichte dieses Landes bewerten oder verzerren. Die letzten Monate haben viel alten National-Dreck an die Oberfläche getragen, dem es sich zu stellen gilt.

Fragen wir uns, wie gesund, das heißt lebens- u. friedensfördernd unser südtiroler Selbstverständnis wirklich ist.

Unsere Geschichte ist keiner Nationalität zuordenbar. Südtirol war seit je her Durchzugsland für Kelten, Römer, Germanen, und im Osten auch für Slaven. So gesehen sind die meisten von uns, die Ladiner ausgenommen, „Zuagroaste“; Südtirols wesentlichstes Identitätsmerkmal scheint mir seine „Vielgestalt“ zu sein, eine Vielgestalt, die zu Toleranz und Großherzigkeit führen könnte. Die vielen verschiedenen Landschaften, Klimaarten, Pflanzen, Früchte, Siedlungsarten, Dialekte, Familiennamen unterscheiden uns vom restlichen Tyrol; so gesehen ist das „Ein Tyrol“ eher ein Konstrukt als eine Wirklichkeit.

Manchmal schäme ich mich über die Art und Weise wie wir Österreich begegnen: arrogant, wenn wir die Schutzmacht-Pflicht mit Petitionen einzuklagen versuchen, zögerlich gehen wir mit der Wertschätzung für Österreich und die Österreicher um.

Die Deutschen lassen zu viele von uns einmal mit „großdeutschen Gesängen“ hochleben und schimpfen sie ein anderes mal „Piefkes“; auch zu ihnen ist unser Verhältnis eher gestört als gesund.

Sich als „Italiener“ zu bezeichnen riecht immer noch nach „Landesverrat“; dabei gehen die meisten von uns nachts mit Italien „ins Bett“, lieben die vor Jahrhunderten aus dem Süden importierten Reben, die pastasciutta, die pizza und den südlichen Charme.

Man stelle sich zwei Szenarien vor: einen „Freistaat Südtirol“, mit Inzucht perfekt, blind vor lauter Nabelschau, im Grunde ein lebensunfähiges Gebilde; oder „heim nach Tyrol“ mit Innsbruck als Landeshauptstadt, die Landtagssitze auf weniger als die Hälfte gekappt, die unionshungrigen und die nationalfreiheitlichen Oppositionsparteien ohne Sitze im Landtag, die Landesgelder viel zähfließender, die Italiener die größte neue Minderheit im „deutschen Süden“ , ... ein anstrebenswerter Zustand ?

Würde man Macht in kg messen können, so würden auf jeden Südtiroler mehr autonome, d.h. selbstverwaltbare Macht-kg zufallen als Nordtiroler, Bayern oder Lombarden, ja als irgend eine Minderheit in Europa verfügbar haben; dass diese Macht bei uns ungesund konzentriert ist, hängt nicht mit unserer Zugehörigkeit zum Staate Italien, sondern mit unserem „Untertan-sein“ und unserem noch recht großen Bedarf nach einer starken Führung zusammen.

Die Frage nach der „Mameli-Hymne“, die ein italienischer Journalist dem Olypiasieger Plankensteiner gestellt hatte, war dumm und arrogant; die meisten Italiener hätten sie nicht beantworten können, so wie kaum ein Tiroler weiß, wer das Andreas-Hofer-Lied komponiert hat. Trotzdem drücke ich diesem Plankensteiner für seine Zivilcourage meine Hochachtung aus; und sehe, dass in den verletzenden Kommentaren gegen ihn eher Dummheit und mangelndes Identitätsverständnis, als „echtes Tirolertum“ spricht.

Die Politik ist gefordert, den Anstoss zu geben, dass unsere Landesgeschichte ehrlicher aufgearbeitet wird, dass Wunden zwischen Dableibern und Optanten, zwischen deutschsprachigen und italienischsprachigen Südtirolern endlich ausheilen können, dass den Ladinern mehr Wertschätzung und Autonomie zuerkannt wird, das auch dem demokratischen Italien die geschuldete Wertschätzung entgegengebracht wird, dass Frauen und Männer sich in diesem Lande politisch und gesellschaftlich auf gleicher Augenhöhe begegnen können.

Wir Südtiroler sind nichts „Besonderes“, wohl aber hätten wir besonders günstige Voraussetzungen, um Gemeinschaft und Politik friedfertig und menschenwürdig weiterzuentwickeln, damit endlich ein Friede gesichert wird, den sich dieses wunderbare Land verdient und der die Zukunft lebenswert erhält.

Mögen fundamentalistische Scharfmacher keinen verharmlosten Nährboden mehr finden.

Karl Trojer, Terlan

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