Gesellschaft | Interview

“Das Trachten nach mehr macht uns ärmer”

Warum sich Bruno Haspinger wünscht, dass die SVP “ihre Alleinherrschaft verliert” – und welche Parallele der Comboni-Bruder zwischen Brasilien und Südtirol sieht.
Bruno Haspinger
Foto: Facebook/Bruno Haspinger

“Es bräuchte viel mehr Ehrlichkeit. Gruß Bruno.” Mit diesem Satz schließt Bruno Haspinger seinen Kommentar auf der Facebook-Seite von Philipp Achammer ab. Mitte September hat ihn der Comboni-Missionar gepostet. Bruder Haspinger, Jahrgang 1940, stammt aus Taisten. Seit 2015 ist er nach langen Aufenthalten in Deutschland und Ländern des Südens – zwölf Jahre verbrachte Haspinger in Brasilien – nach Südtirol zurückgekehrt. Ins Missionshaus der Comboni in Milland, Brixen.
“Die SVP macht so viele Blödsinnsfehler, dass man froh sein muss, wenn sie verliert.” “Wie kann man sich nicht mehr als klar von einem Spinner wie Salvini distanzieren?” “Ihr habt keine klaren politischen Positionen mehr.”  “Wo bleibt eure klare Haltung zum Allmachtsapparat Landwirtschaft?”  “Tourismus entwickelt sich frevelhaft, volksverdummend usw.”
Haspingers Tonfall in seinem Facebook-Kommentar für den SVP-Obmann ist vorwurfsvoll. Dass der Kommentar inzwischen nicht mehr auffindbar ist, nimmt Haspinger mit einem Schulterzucken. Er habe Achammer geschrieben um ihn aufzurütteln. “Ich schätze ihn sehr”, beteuert Haspinger. Dennoch sieht er im Südtirol vor den Landtagswahlen am Sonntag einiges im Argen.

salto.bz: Herr Haspinger, Sie haben lange Zeit im Ausland gelebt, in Deutschland, aber auch in Ländern des Südens. Wie erleben Sie Südtirol nach Ihrer Rückkehr?

Bruno Haspinger: Von außen gesehen erlebe ich Südtirol als sehr reiches Land. Es ist bis zum letzten Berghof erschlossen, alles ist neu oder renoviert – sodass man auf den Gedanken kommen kann, dass etwas nicht stimmt, wo das nicht der Fall ist. Ich weiß schon, dass es trotzdem auch Armut gibt und dass sich nicht wenige Familien schwer tun.

Sie werfen der SVP vor, “so viele Blödsinnsfehler” zu machen, “dass man froh sein muss, wenn sie verliert”. Von welchen Fehlern sprechen Sie?

Den letzten Schuss gab es ja mit Dr. Thomas Schael. Da konnte man wirklich nicht verstehen, wer denn solche Verträge so abgeschlossen hat. Es ist auch nicht zu verstehen, wieso es jetzt einen so großen Mangel an Pflegepersonal, Hausärzten gibt und ebenso unter den Landesangestellten. Bedenkt man, wie viele Um- und Neubauten entstehen, also genehmigt werden, nur um die Steuern zu umgehen, muss man sich als einfacher Mensch schon fragen dürfen, wie die Volkspartei mit Steuergeldern umgeht. Und dass dann solche Lücken entstehen können... Das ist wohl auch eine Krankheit von weit her, nicht nur jetzt. Es ist auch kaum möglich zu glauben, was sich die Bauernlobby alles erlaubt und erreicht.

Es wäre für die SVP sicher heilsam, wenn sie mit anderen regieren müsste.

“Ihr habt keine klaren politischen Positionen mehr”, schreiben Sie SVP-Obmann Achammer. Auch Werte wie Ehrlichkeit vermissen Sie in der Volkspartei. Ist das aber nicht ein allgemeines Merkmal in der heutigen Politik, die von extremen Positionen, Populismus und dem Schüren von Ängsten und weniger von klaren Positionen und Wertehaltungen zu leben scheint?

Ist es nicht ein Jammer, dass sich die Politik dermaßen wegen der Flüchtlinge und dem Doppelpass zerreißt, dass es wirtschaftlich immer noch mehr geben muss, selbst wenn der Straßenverkehr untragbar wird? Engpässe auch im Gesundheitssystem und dazu immer noch die Aufforderung, “nicht so zu jammern”. Es sind doch Monate und Monate, die man wartet und wartet und von Termin zu Termin geschickt wird. Manche Ärzte schauen einen nicht einmal an, sie tippen und tippen im Computer, plötzlich kommen ein paar Zettel heraus – und auf Wiedersehen!

Wenn ich einfache Leute in Brasilien fragte, warum sie so verarmt seien, wo sie doch früher Überfluss hatten, kam die Antwort: “Wir sind verarmt als das Geld gekommen ist.” Diese Verarmung stelle ich auch hier fest.

Sie waren lange Zeit in Brasilien als Comboni-Missionar tätig. Dort hat der rechtsextreme Jair Bolsonaro gute Aussichten, zum nächsten Präsidenten gewählt zu werden. Wie erklären Sie sich den Zulauf, den polarisierende Figuren und extremistische Bewegungen in der heutigen Zeit erfahren?

Man kann Brasilien nicht mit Südtirol vergleichen, politisch schon gar nicht. Wie kann man verstehen, dass einige Politiker eingekerkert sind, andere nicht? Warum wählt das Volk so oft die korruptesten Kapitalisten, und warum lässt sich das Volk ständig ausbeuten? Es gibt da viele Antworten. Dass Lula eingesperrt ist (Brasiliens ehemaliger Präsident und Mitbegründer der brasilianischen Arbeiterpartei Luiz Inácio Lula da Silva sitzt wegen Korruptionsvorwürfen in Haft, Anm.d.Red.), dürfte eine ziemlich klare Antwort sein. Aus meiner Überzeugung – und nach der Meinung vieler – war Lula, nach der Diktatur, der beste Präsident, den Brasilien je hatte. Sicher hat er auch seine Fehler und hat sich auf den unguten Deal eingelassen, den er nicht gebraucht hätte. Aber zu keiner Zeit vorher und nachher sowieso nicht, sind so viele Arme aus der Misere herausgekommen, sind so viele Familien gefördert worden usw. Das hat natürlich den Großen nicht gepasst und so musste er vor den Wahlen weggeräumt werden. Und noch etwas anderes: In Brasilien hatte ich viele Diskussionen mit einfachen Leuten und wenn ich sie fragte, warum sie so verarmt seien, wo sie doch früher Überfluss hatten, kam die Antwort: “Wir sind verarmt als das Geld gekommen ist.” Diese Verarmung stelle ich auch hier fest. Mag sein, dass es vielen Leuten besser geht, d.h. es ist so, aber das ständige Trachten nach mehr und noch mehr, obwohl wir in verschiedenen Bereichen die Obergrenze bereits erreicht haben, das macht uns Menschen ärmer und auch darin sehe ich einen Grund, warum solche Populisten weit und breit die Oberhand gewinnen.

Ist es nicht ein Jammer, dass sich die Politik dermaßen wegen der Flüchtlinge und dem Doppelpass zerreißt?

Wie wünschen Sie sich ein Südtirol der Zukunft?

Aus dem vorhin genannten und auch anderen Gründen wünsche ich mir, dass die Volkspartei ihre Alleinherrschaft verliert. Kein Zweifel, sie hat in der Vergangenheit und bis heute Vieles geleistet, aber man kann das nicht wirkliche Demokratie nennen, wenn nur eine knappe Mehrheit regiert und eine fast knappe Mehrheit draußen ist. Ich halte es für absolut undemokratisch, dass die Personenwahl mit der Parteiwahl verknüpft ist.

Was wäre für Sie demokratisch?

Demokratisch wäre für mich, dass man natürlich eine Partei wählt, aber dass man für alle Bereiche die fähigsten Leute wählen könnte. Wohin das System führt, sieht man ja auch in Deutschland. Merkel mag eine hervorragende Person sein, aber dass jetzt keine Nachfolger für sie in Sicht sind, ist ihre Schuld. Die großen, alten Parteien gehen dank ihres Dünkels den Bach hinunter. Es wäre für die SVP sicher heilsam, wenn sie mit anderen regieren müsste.

Super - Lisa Maria Gasser - die Meinung eines so erfahrenen und von Lebensweisheit geprägten alten Mannes eingeholt zu haben. Dies ist bei uns nicht mehr üblich. Alte Menschen - ob erfahren und weise oder nicht - sind in diesem Wahlkampf nicht mehr gefragt. Und auch ihre Erwartungen und Probleme spielen keine Rolle in diesem Wahlkampf. Weder bei den Parteien noch bei den Medien.
Die Außensicht, die Betrachtung aus der Distanz, hilft die Dinge besser zu sehen und zu beurteilen: eine Art Supervision! Ich bin in fast allen Dingen mit den Aussagen von Bruder Haspinger einverstanden. Bezüglich Arzt-Terminen und Verhalten der Fachärzte, denen man hier im öffentlichen Gesundheitsdienst begegnet, könnte ich auch mehrere Lieder singen.

Mi., 17.10.2018 - 21:32 Permalink

Sehr geehrter Herr Haspinger, sicherlich haben Sie in Ihrer Zeit in Brasilien viel Gutes getan. Aber Ihren Vergleich zu Südtirol weise ich als brasilianischer Wähler aufs schärfste zurück! In Brasilien wird bei den Stichwahlen am 28.10 vermutlich ein rechtsradikaler Populist gewinnen, der die Militärdiktatur verherrlicht und Minderheiten (Indios, Schwarze, Homosexuelle, usw.) unterdrückt. Ich selbst stand im ersten Wahlgang am 7.10 über zwei Stunden in Mailand Schlange um dagegen meine Stimme abzugeben und werde auch am 28. wieder dort stehen. Ohne auf die gesellschaftlichen Gründe des Erfolgs Bolsonaro hier einzugehen ist die Situation in Südtirol ganz eine andere! Die Südtiroler Volkspartei SVP hat seit 1945 Wohlstand geschaffen und für die deutschsprachige/ ladinische Minderheit das kulturelle Erbe gesichert. Viele, sehr viele Leute in Brasilien wären froh, wenn sie Südtiroler Verhältnisse genießen dürften. Dazu gehört z.B. ein Arztbesuch ohne Privatversicherung auf hohem Standard - in Brasilien Utopie! Außerdem herrscht bei uns Vollbeschäftigung - nicht nur in Brasilien ein Traum, sondern auch in vielen Regionen Italiens. Dies in Frage zu stellen, heißt an einem erfolgreichen weltweitem Vorbild-Modell zu rütteln und Tür und Tor für Populisten zu öffnen. Für Stabilität gehe ich am Sonntag zur Wahl und gebe der SVP meine Stimme. Eine solche Stabilität würde ich mir auch für meine zweite Heimat Brasilien wünschen.

Do., 18.10.2018 - 01:03 Permalink

Herr Seehauser dann sollte ihnen schon zu Gehör gekommen sein dass es weit um mehr geht als die reine Stabilität. Es geht um den Verkauf ihrer Heimat der unter anderem durch die Touristenschwemme, den radikalen Ausbau und die komplette Erschliessung der Dolomiten und darüber hinaus voranschreitet. Beim Arzt waren sie demnach in Südtiroler LK auch schon lange nicht mehr. Aber geben sie ihre Stimme zu ? Male erneut an ihre Heimatpartei, sie sind ja dann wieder an der Copacabana. Und beantragen sie am besten noch den Doppelpass bevor es zu spät ist. Die Zeiten ändern sich und die Probleme Magnagos sind Geschichte.

Do., 18.10.2018 - 09:19 Permalink

Herr Haspinger wird als Missionar unter schwierigen Bedingungen Großes geleistet haben. Allein, ob das reicht, um eine vollkommen andere Situation kompetent zu beurteilen? Viele Allgemeinplätze und noch mehr Blauäugigkeit sowie auch unschlüssiger Schlussfolgerungen finde ich in den Aussagen. Ein Denkanstoß? Vielleicht, aber auch nicht mehr.

Do., 18.10.2018 - 09:56 Permalink

Aha, das sind wir wieder: Niemand der nicht ständig in Südtirol ist oder noch weniger jemand , der von außen kommt, kann über Südtirol reden, eine Bewertung abgeben, Vorschläge machen und schon gar nicht kritisieren. Auch Historiker, welche nicht Südtiroler sind, und nicht alles miterlebt hat, können zur Südtiroler Zeitgeschichte forschen und schreiben. Das können nur Zeitzeugen. Wir wollen nichts Objektives, sondern Subjektives aus Südtiroler Sicht!
Und wenn sich jemand noch erlaubt, den Südtiroler Macher- und Streber-Kapitalismus - auch in der Land- und Weinwirtschaft - in Frage zu stellen, dann stimmt mit dem Alten etwas nicht mehr. Wir müssen immer mehr und immer besseren Wein produzieren und sauteuer in der Welt verkaufen oder hochpreisigen Tourismus anstreben! Da wundert sich dann jemand, wenn es in Südtirol bald unerschwingliche aber hausgemachte Lebenshaltungskosten gibt, dass es bei Vielen nicht bis zum Monatsende reicht. Aber da können wir ja nichts dafür?!

Do., 18.10.2018 - 21:04 Permalink

Die salto-Redaktion hat folgende Stellungnahme von Bruno Haspinger erreicht, die wir gerne veröffentlichen:

Dass in Berlin über 200.000 auf die Straßen gingen und in Brasilien noch viel mehr und das miserable Wahlergebnis der CSU veranlasst sie in keiner Weise umzudenken. Dass sie vom Wählerwillen absolut nichts gelernt haben sieht man daran, dass sie sich jetzt mit ihrer Abspalterpartei zusammenschließen, damit brauchen sie nichts ändern. In Südtirol zieht man dem Salvini sogar die Südtiroler blaue Schürze über. Da sieht man auch wohin die Kastelruther Spatzen gekommen sind, fehlt nur dass die SVP sich mit ihm verbrüdert, nur um an der Macht zu bleiben! Armes Südtirol!
Bruno Haspinger

Fr., 19.10.2018 - 10:08 Permalink

.....immer mehr, mehr, mehr, nichts ist groß und teuer genug und gleichzeitig glauben wir immer die Besten und Größten zu sein. Das größte Übel ist leider Gottes diese Unzufriedenheit, welche sich in unserem Land breit gemacht hat. Die Gedanken von Haspinger sind lesenswert und darüber nachzudenken lohnt sich. Gut wäre es daraus auch "politische" Konsequenzen zu ziehen und persönlich zu handeln. Bei diesen Wählen könnten wir damit beginnen!

So., 21.10.2018 - 09:03 Permalink