Gesellschaft | Corona

Wir müssen krank werden, um zu gesunden

Eingesperrt zu Hause warten wir auf ein Ende der Pandemie, bis die Kurve endlich zurückgeht, und wir zurück zu unserem Leben dürfen. Leider vereint diese Vorstellung...
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Corona
Foto: Pixabay

Eingesperrt zu Hause warten wir auf ein Ende der Pandemie, bis die Kurve endlich zurückgeht, und wir zurück zu unserem Leben dürfen. Leider vereint diese Vorstellung zwei Fehler in sich: Wir werden weder zu unserem Leben zurückkehren und vor allem dürfen wir nicht warten, bis die Kurve auf Null geht.

Wie? Wir müssen die Krankheit doch besiegen? Nein, wenn wir versuchen, Covid-19 zu besiegen, in dem wir SARS-CoV2 aus dem Weg gehen, werden wir verlieren. Das Virus will sich replizieren, dies ist sein einziges Ziel. Deshalb macht es uns krank, so dass wir es über Husten und Schnupfen weiterverbreiten. Jeder kranke Mensch steckt im Schnitt mehr als einen anderen Menschen an, so verbreitet sich die Krankheit rapide. Wie viele, hängt von der Kontagiosität des Virus, der Bevölkerungsdichte und den Hygienemaßnahmen ab; dieser Wert wird als Basisreproduktionszahl R0 bezeichnet. Bei SARS-CoV geht man, ohne Maßnahmen, von R0 = 2 bis 3 aus.

Nehmen wir nun mal der Einfachheit halber ein R0 von 2 an, das heißt jeder Infizierte steckt (im Schnitt) 2 weitere an. So werden aus 2 dann 4 dann 8 dann 16 usw., dies nennt man exponentielles Wachstum. Die meisten von uns kennen noch aus ihrer Kindheit die Parabel vom Schachbrett und den Reiskörnern, wo im letzten Feld 9.223.372.036.864.775.808 Reiskörner liegen würden (dies entspräche ca. 540 Milliarden Tonnen Reis). Weder könnte man so viel Reis essen noch würde es unser Gesundheitssystem verkraften, wenn so viele Menschen gleichzeitig krank würden.

Das Problem mit dem exponentiellen Wachstum ist, dass es schwer begreiflich ist. Anfangs sind die Zahlen noch klein, bereits am 20. Feld liegen dann aber schon 524.288 Reiskörner. Wenn man die Felder aufsummiert, haben wir die halbe Million, also die Gesamtbevölkerung Südtirols, bereits in der 19. Generation erreicht.

Doch wie lange dauert so eine Generation? In den meisten Ländern zeigte sich anfangs eine Verdoppelung alle 3 Tage, welche dann etwas abflachte und schließlich durch die strengen Maßnahmen, die wir ergriffen haben, auf derzeit über 21 Tage gedrückt wurde. Selbst in Schweden, wo auf Eigenverantwortung der Bevölkerung gesetzt wird, verdoppeln sich die Fälle nur mehr alle 7 bis 8 Tage.

Macht es nun Sinn, die Maßnahmen weiter so streng aufrecht zu erhalten? Das Virus ist bereits zu weit verbreitet, um es ausrotten zu können. Das heißt, wir müssen auf eine Herdenimmunität setzen. Die besteht, wenn ein Großteil der Bevölkerung Antikörper besitzt. Entweder, weil die Erkrankung bereits durchgemacht, oder weil eine Impfung erfolgreich durchgeführt wurde. Wie groß der Anteil der Bevölkerung ist, der hierfür notwendig ist, hängt von R0 ab. Je höher, desto größer muss der Anteil der Immunen sein, um die anderen zu schützen. Bei Covid-19 geht man von 60-70% aus (bei Masern, welche viel ansteckender sind, braucht es 95%).

Und dies ist das Problem. Eine Impfung ist kaum vor Ende des Jahres in Sicht, es könnte aber noch deutlich länger dauern. Wenn wir hingegen so weitermachen wie bis jetzt, brauchen wir über 6 Verdopplungszyklen, um diese Herdenimmunität zu erreichen. Das sind noch mehr als 4 Monate im Lockdown (selbst wenn man eine 10 Mal höhere Dunkelziffer annimmt wären es fast 3 Monate). Da die Berechnung der Verdoppelungszyklen hinterherhinkt, haben wir sehr wahrscheinlich bereits noch längere Zyklen (die letzte Woche im Schnitt ca. 60 neue Fälle pro Tag). Das heißt, wir würden Sylvester noch im Lockdown „feiern“, wenn wir so weiter machen.

Was sollen wir also tun? Krank werden – und wieder gesund werden. Risikopatienten muss man weiter schützen, aber der Rest muss sich anstecken – gerade damit Risikopopulationen geschützt sind. Natürlich nicht alle auf einmal, sonst kommen wir in die Situation, an der wir nur haarscharf vorbeigeschlittert sind.

Die Erkrankung ist nämlich nicht so schlimm, wie es scheint. Die hohe Sterblichkeit in Italien (bisher ca. 1 auf 3.000 Einwohner), Spanien und Frankreich ist durch zwei Faktoren bedingt. Einmal, dass Risikopopulationen nicht ausreichend geschützt und zweitens, dass die Krankenhäuser überfordert wurden. Zudem kann es sich auch um eine zeitliche Häufung handeln, die sich im Laufe des Jahres angleichen wird: Südtirol z.B. hatte einen hohen Prozentsatz der Todesfälle in den Altersheimen. Sehr viele Heimbewohner haben eine geringe Restlebenserwartung, da der sture Südtiroler oft erst ins Altersheim kommt, wenn’s wirklich nicht mehr anders geht. Erst am Ende des Jahres kann man statistisch beurteilen, ob viele rüstige Senioren unter den Opfern waren oder ob der Tod sie nur etwas früher geholt hat. Wenn wir hingegen nach Österreich oder Deutschland blicken, dann haben sie dort bisher 10 Mal weniger Todesfälle.

Unser Ziel muss also sein, dass möglichst viele kräftige Leute krank werden, ohne unser Gesundheitssystem zu überlasten. Lasst die Leute wieder arbeiten, sonst verarmt die Bevölkerung. Und Armut erhöht die Sterberate. Dann hätten wir am Ende nur arme Tote, aber nicht weniger.

Natürlich können wir nicht zurück zum Vorher. Sonst haben wir ein zweites Bergamo. Wir müssen Abstand halten. Hände waschen. Bei Krankheitssymptomen zu Hause bleiben. Ob einfache Masken schützen ist nicht ganz klar, einem Hustenstoß haben sie nachweislich wenig entgegenzusetzen. Aber gegen feuchte Aussprache helfen sie. Freizeitaktivitäten müssen eingeschränkt bleiben (aber nicht verboten), Massenansammlungen haben weiter auszubleiben. Die Krankenhäuser müssen ausgebaut werden und es muss eine klare Trennung zwischen Covid-19 und anderen Patienten geben. Vor allem muss das Gesundheitspersonal geschützt und getestet werden, um nicht selbst zum Infektionsherd zu werden. Aber wir können das Virus nur besiegen, wenn wir uns nicht vor ihm verstecken.