Gesellschaft | kein #neustart

Vergessen im Lockdown?

Menschen mit Behinderung und Menschen mit psychischer Erkrankung werden weiterhin in Ungewissheit und Isoaltion gelassen, kritisieren zahlreiche Organisationen.
Holzfigur
Foto: Pixabay

Die Phase 2 ist in vollem Gange und nach dem Corona-Lockdown beginnt für viele wieder ein Stück Normalität. Doch beim Weg zurück in ein freieres Leben bleiben einige hinten, in Isolation und offenbar ganz unten auf der politischen Agenda: Menschen mit Behinderungen und Menschen mit psychischen Erkrankungen.

“Soziale Organisationen wollen ihre Tätigkeiten schnellstens wieder aufnehmen, können es aber nicht, da die Richtlinien des Landes noch ausstehen”, klagt man beim Dachverband für Soziales und Gesundheit. Dort wächst der Unmut – auch weil betroffene Familien vielfach am Ende ihrer Kräfte sind. “Wir hängen in der Luft”, so der Warnschuss aus den Non Profit Organisationen Richtung Land. Die Botschaft ist klar: Vergesst jene nicht, die auf Hilfe angewiesen sind – und zwar nicht nur finanzieller Art.

 

“Isoliert und diskriminiert”

 

Seit Beginn der Corona-Krise Anfang März wird der Großteil der Menschen mit Behinderungen und Menschen mit psychischen Erkrankungen zu Hause rund um die Uhr von den Angehörigen betreut. Für Betroffene eine extreme Belastungsprobe. “Sie brauchen dringend Entlastung”, mahnt der Dachverband für Soziales und Gesundheit. Doch solange es vom Land keine Richtlinien gibt, können soziale Vereine wie jene 60, die dem Dachverband angehören, ihre Tätigkeiten nicht wieder aufnehmen und sich um diese Menschen kümmern. Geschäftsführer Georg Leimstädtner meint: “Während sich allgemein die Lage nun langsam wieder etwas ‘normalisiert’, steht im Sozialbereich noch immer nahezu alles still. Alle warten händeringend auf die rechtlichen Vorgaben. Aber diese lassen auf sich warten. Die Betroffenen in unseren Mitgliedsorganisationen sehen, dass Maßnahmen für die Wirtschaft getroffen werden, z.B. Gratistests für Touristen. Soziale Hilfestellungen hingegen werden viel zu langsam aktiviert.”

 

“Es kann nicht sein, dass überall, in allen Bereichen des öffentlichen Lebens gelockert und geöffnet wird und Menschen, die in Wohnheimen bzw. in Wohngemeinschaften leben, immer noch isoliert sind, die Einrichtungen nicht verlassen dürfen, nicht mit anderen Menschen in Kontakt kommen können”, sagt auch Renate Ausserbrunner, Präsidentin des Verbands Ariadne – für die psychische Gesundheit aller. Die soziale Isolation sei den Menschen nicht mehr länger zumutbar und stelle eine Diskriminierung gegenüber der restlichen Bevölkerung dar. “Durch dieses ‘Vergessen’ der Einrichtungen der Sozialen Dienste können auch viele Rehabilitationsprojekte in Zusammenarbeit mit den Gesundheitsdiensten nicht starten. Psychisch kranke Menschen verlieren wertvolle Zeit ihrer beruflichen Rehabilitation, ihrer Projekte im Bereich Wohnen, aber auch eine einfache Freizeitbegleitung durch Freiwillige kann im Moment nicht gewährleistet werden”, berichtet Ausserbrunner.

Dass nach drei Monaten Isolation und 24-Stunden-Rundumbetreuung daheim auch viele Angehörige am Ende ihrer Kräfte sind, bestätigt der AEB – Arbeitskreis Eltern Behinderter. Irmin Beelen, Vorstandsmitglied im AEB berichtet: “Es häufen sich Anfragen und Klagen der Eltern, dass trotz der Verabschiedung der Richtlinien für die teilstationären Dienste die Werkstätten usw. nur sehr zögerlich und unter massiven Einschränkungen öffnen und die Familien auch für den Sommer keine Perspektiven zur Entlastung haben, sowie die Wohneinrichtungen immer noch komplett abgeschlossen sind.”

Keine Entlastung in Sicht

 

“Wir brauchen schnellstens die Rahmenbedingungen um wieder loszustarten”, stimmt Wolfgang Obwexer, Geschäftsführer der Lebenshilfe Südtirol ein. Nach dem Lockdown und in der Phase der ersten Lockerungen sucht man dort wieder nach Möglichkeiten, wie man die Betroffenen und ihre Familien unterstützen kann: “Menschen mit Behinderungen sollen wieder Freunde treffen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Die Familien sollten nicht alleine für die Unterstützung und Begleitung zuständig sein. Wichtig in diesem Zusammenhang sind Entlastungsangebote für die Sommermonate: Der Sommer steht vor der Tür und wir wollen dringend benötigte Freizeit- und Urlaubsangebote organisieren und anbieten. Nur fehlen uns nach wie vor die dafür nötigen rechtlichen Grundlagen.”

Auch Verena Wolf von der Arbeitsgemeinschaft für Behinderte bedauert, dass die Vereinstätigkeiten wegen der vielen Unsicherheiten und Unklarheiten nach wie vor stillstehen: “Wir haben bis auf weiteres alles abgesagt, wollen aber wissen, wie es weitergeht. Natürlich ist für uns klar, dass wir sehr vorsichtig sein müssen. Schließlich richten sich unsere Angebote vorwiegend an Menschen mit Behinderungen, vor allem auch ältere Personen. Trotzdem, Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen leiden sehr unter dieser Situation. Sie müssen dringend aus dieser Isolation heraus.”

“Wir brauchen Planungssicherheit und Klarheit in Fragen rechtlicher Verantwortung.” Das hatten die Non Profit Organisationen bereits Ende April gefordert. Anscheinend vergeblich. Trotz vieler Gespräche und konstruktivem Austausch mit Politik und Behörden sei noch keine Lösung auf dem Tisch, heißt es vom Dachverband.

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Salto User
Sepp.Bacher Do., 04.06.2020 - 17:53

Der beschriebene Zustand ist schlimm - aus ethischer und aus politischer Sicht! Da wird noch mehr deutlich, dass nicht nur das Gesundheits-Ressort von der politischen Spitze angefangen personell total überfordert ist, sondern auch das für Familie und Soziales!
"Trotz vieler Gespräche und konstruktivem Austausch mit Politik und Behörden sei noch keine ........". Das scheint die Philosophie dieser Regierungsmannschaft zu sein: freundlich zu hören, Hoffnung vermitteln, so dass sie still sind. Das ist bei den Gewerkschaften, dem KVW und den Rentner-Organisationen ja auch so. Die haben sich anscheinend auch einlullen lassen! Sonst ist das Schweigen dieser Organisationen und Verbände zu den zunehmenden sozialen Verschlechterungen nicht erklärbar.
Betreffend Familien und Kinderbetreuung: Ob z. B. der Familienverband überhaupt aktiv geworden ist, beleibt im Dunkeln; in den Medien hat man jedenfalls nichts vernommen! Die einzigen, die sich diesbezüglich zu Wort gemeldet haben, sind Christa Ladurner und die Allianz für Familie - aber auch mit geringem Erfolg. Entweder es fehlt der Wille oder die menschliche und fachliche Kompetenz der Verantwortungsträger/innen!

Do., 04.06.2020 - 17:53 Permalink
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Michael Bockhorni Fr., 05.06.2020 - 08:19

Antwort auf von Sepp.Bacher

100 % ins Schwarze getroffen ! (der KFS hat sich mehrmals mit der Allianz gemeinsam zu Wort gemeldet (https://www.forum-p.it/de/fachstellen/familie-1019.html). Aus privaten Gesprächen höre ich halt auch immer wieder, daß einfach die Angst so groß ist sich kritisch zu äußern, Petitionen zu unterschreiben, Rekurse einzureichen etc. Neben der Kompetenz fehlt an Kenntnis über die konkrete Arbeit vor Ort und an "Veränderungserfahrung" bzw. -management. Da rächt sich eine "des is holt a so" Mentalität.

Fr., 05.06.2020 - 08:19 Permalink
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Priska Spitaler Fr., 05.06.2020 - 16:39

Ich wundere mich ja wirklich, wie wenig Aufmerksamkeit dieses so wichtige Thema bei den Kommentatoren auf salto bekommt. Wenn ich sehe, wieviele Kommentare innerhalb kürzester Zeit zum Artikel "Aus für Anonyme" (obwohl sicher auch ein wichtiges Thema) abgegeben wurden, dann frage ich mich schon, ob die im Lockdown vergessenen Menschen nicht mehr Aufmerksamkeit verdienen. Sogar die Haare von Frau Foppa waren mehr Kommentare wert.
Meiner Meinung nach haben die Organisationen, die sich um Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen kümmern, unsere vollste Unterstützung - vor allem auch in den sozialen Medien - verdient. Denn je mehr Stimmen laut werden, desto mehr Aufmerksamkeit bekommen diese Organisationen auch in den Medien. Leider ist es heutzutage so, dass die, die am lautesten schreien und die interessantesten Schlagzeilen für die Presse liefern können, von der Politik viel eher und schneller gehört werden.
Ich habe den Eindruck, dass die Verantwortlichen erst einen Zahn zulegen, wenn in den Medien die Kritiken laut und nicht mehr ignoriert werden können.
Ich hoffe, dass auch Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen nun endlich die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. Dasselbe gilt auch für Kinder, Jugendliche und Senioren. Sie alle leiden am längsten unter dieser Isolation und Ungewissheit und haben - wie wir alle - ein Recht ein Stück Normalität zurück zu bekommen und das so schnell als möglich.
Vielleicht sollten die Betroffenen mal einen Protest vor dem Landhaus in Betracht ziehen, um den Verantwortlichen vor Augen zu führen, wieviele Menschen immer noch nicht genügend gehört werden und immer noch im Lockdown feststecken?

Fr., 05.06.2020 - 16:39 Permalink
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Priska Spitaler Fr., 05.06.2020 - 17:22

Kann Herrn Bacher und Herrn Bockhorni nur zustimmen. Viele Organisationen und Verbände hätten nicht so lange schweigen oder/bzw. sich hinhalten lassen dürfen. Wenn man sieht, dass man durch Verhandlungen/Gespräche nichts erreicht, muss man eben andere Wege gehen und notfalls auf die Straße gehen, um sich Gehör zu verschaffen. Herr Bockhorni, Sie schreiben, dass Sie aus privaten Gesprächen immer wieder hören, dass einfach die Angst so groß ist, sich kritisch zu äußern, Petitionen zu unterschreiben, usw. Ich glaube, das ist wirklich ein "Südtiroler Problem" und ich hoffe, dass sich Zivilcourage in unserer Gesellschaft immer mehr durchsetzt und sich die Menschen endlich mehr für ihre Rechte einsetzen, ohne Angst zu haben vor irgendwelchen Konsequenzen.

Fr., 05.06.2020 - 17:22 Permalink