»Unser Städtchen liegt …« (Teil 3)
Aus den Autonomieprojekten des Jahres 1920 wurde nichts. Sie gerieten zur Makulatur, noch ehe das Gewaltjahr 1922 den Faschismus mit dem inszenierten »Marsch auf Rom« an die Macht brachte. Doch hatte Kafka mit den Meraner Ereignissen tumultartige Zustände erlebt, die ihm nicht völlig fremd gewesen sein mussten. Ähnliche Turbulenzen waren ihm bereits im Prag der jungen tschechoslowakischen Republik begegnet: In der Übergangszeit von 1919/20 kam es zur Gründung eines sozialistischen Rats, ebenso konstituierte sich ein jüdischer Nationalrat, als dessen Vizepräsident Kafkas Freund und Mentor Max Brod kurzzeitig kandidierte, und ein Generalstreik brach aus. Die »kakanische« Zusammenbruchserfahrung hatte im neuen tschechoslowakischen Staat antideutsche und antisemitische Dispositionen merklich verstärkt. Bei Brod wie bei Kafka – die sich beide als deutschösterreichische Prager jüdischer Herkunft verstanden – veränderten sich in dieser Phase nach und nach auch die Bewältigungsversuche, diesem Systemwechsel zu begegnen, und sie führten bei beiden auch zu einer Tendenz skeptischer jüdischer Resakralisierung. Die poetologisch-philosophischen Wahrnehmungskonzepte innerhalb der interkulturellen Prager Moderne ließen sich nur noch als ästhetische Gegenwelten konstituieren, und ihr einsamer und verwegener Laborcharakter zeugt davon auf eindringliche Weise.
In der Lokalpresse schlug Kafka das ganze Arsenal an verschwörungstheoretischen Vergeltungsphantasien entgegen.
Der Antisemitismus der Zwischenkriegszeit war auch längst in Meran angekommen. Er konnte dort an die traditionellen antijudäischen Vorbehalte der katholischen und protestantischen Milieus nahtlos anschließen. Kafka berichtet davon in seinen frühesten Äußerungen aus Meran, als er in Briefen an Max Brod und Felix Weltsch den latenten Antisemitismus beschreibt, der ihm im Speisesaal der Pension Ottoburg unverhüllt entgegenschlug. Den Juden verzeihe man hier nichts, notiert Kafka, »die ertränkt man in der Suppe und zerschneidet man beim Braten«. Das kräftige Bild erinnert nachgerade an die apokalyptischen Schlusspassagen von Thomas Manns Zauberberg von 1924. Deren zentrales Motiv sind die »große Gereiztheit« und der »große Stumpfsinn« der Stimmungslagen am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Sie bleiben in Manns Darstellung aufgehoben in der diagnostischen Rückschau der unmittelbaren Nachkriegszeit, als »Zanksucht« und »namenlose Ungeduld«. Die »allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge«, die die Hotelgemeinschaft der Kranken und Reichen im Luftkurort von Davos befiel, macht Mann auch an deren plötzlichem antisemitischen Tonfall fest. Die Situation eskaliert in der »Elendsszene«, in der ein sich als »arisch« gerierender deutscher Patient gegenüber einem jüdischen Kurgast als aggressiver »Judengegner« nach wiederholten »Sticheleien« sogar handgreiflich wird.
Auch in der Lokalpresse schlug Kafka das ganze Arsenal an verschwörungstheoretischen Vergeltungsphantasien entgegen. Der Sündenbock-Mechanismus, den die Kriegsniederlage der Mittelmächte hervorbrachte, richtete sich bevorzugt gegen das Judentum, aber auch gegen das Freimaurertum und den Bolschewismus als Zielscheiben eines auf diese Weise externalisierten Sozialhasses. Das Meraner Tagblatt Der Burggräfler bewarb in seiner Ausgabe vom 10. April 1920 ein antisemitisches Pamphlet des deutschnationalen Politikers Friedrich Wichtl und bemühte in diesem Zusammenhang sogar die ebenso kruden wie gefälschten Protokolle der Weisen von Zion. In einem Brief an Max Brod aus dieser Zeit kam Kafka auch auf die gleichzeitige Entwicklung in München zu sprechen, wo Hitler am 24. Februar 1920 im Hofbräuhaus das ultranationalistische und radikal-rassistische Programm der Nationalsozialisten vorgestellt hatte.
Schlaglichtartig tritt die ganze Fragilität des Jahres 1920 hervor, in dem Zukunftshoffnungen und Katastrophenerwartungen wild durcheinandergingen und die Erwartung einer sozialen »Neugeburt« pathologische Züge anzunehmen begann.
Die Ausläufer des Irrationalen hatten Kafka also, so wie Thomas Manns Kunstfigur Hans Castorp in Davos, in Meran heimgesucht. Diese mentalen Dispositionen waren durchzogen von Nervosität, der bestimmenden sozialpsychologischen Signatur des Fin de Siècle, und dem Grundtenor des Nationalistischen. Darüber hinaus erlebte hier der deutsch-tschechisch-zweisprachige Kafka auch den heraufdämmernden sprachpolitischen Streit, die sich aufschaukelnden Ethnozentrismen und kollektiven Verhärtungen. An der Figur des frühen Mussolini, der im Frühjahr 1919 die faschistischen Kampfbünde gegründet hatte, war unmittelbar die Gefahr des gesamtitalienischen Umschlagens von roten zu schwarzen Positionen greifbar geworden. Der von den Faschisten auf fragwürdige Weise in Anspruch genommene Revolutionsbegriff wies aber auch über sich hinaus. 1920 lag das »Warten auf den Diktator«, wie Hermann Bahr in seinem Tagebuch vom März des Jahres die Stimmung präzise bezeichnete, förmlich in der Luft. Schlaglichtartig tritt hier die ganze Fragilität des Jahres 1920 hervor, in dem Zukunftshoffnungen und Katastrophenerwartungen wild durcheinandergingen und die Erwartung einer sozialen »Neugeburt« pathologische Züge anzunehmen begann.
Die Gesellschaft im Schatten des Krieges litt unter einem kollektiven chronischen Erschöpfungssyndrom. Auch in Südtirol stellte sie sich als Mischung aus Epochenbruch, gesellschaftlichen Konflikten und politischer Neuerfindung dar. Der sozialpolitische Kontext, innerhalb dessen sich Kafka auch in Meran drei Monate lang aufhielt, lässt sich wohl nur als Mehrebenensystem begreifen, als eine Erfahrung, in der regressive Dispositionen und Zukunftshoffnungen heftig durcheinanderspielten. Ernährungsmiseren, die immer noch nachwirkende Pandemie der sogenannten Spanischen Grippe vom Winter 1918/19, Schleich- und Schwarzhandel sowie das florierende Schmuggelwesen dominierten das Jahr 1920, und die zur Bewältigung der Krisensituation ins Werk gesetzten Maßgaben reagierten in erster Linie auf den grassierenden Mangel an Perspektiven. Der Südtiroler Schwebezustand dieser Zeit zwischen einem »Nicht-mehr« und einem »Noch-nicht«, einem nicht mehr Österreichisch-tirolisch-Sein und einem noch nicht italienisch-faschistischen Zustand, ist daher begrifflich schwer zu fassen. Die erheblichen sozialen Bürden und politischen Hypotheken des historischen »Dazwischen« könnten dazu verleiten, das althistorische Konzept einer »Achsenzeit« zu bemühen, auch wenn damit auf eine negativ konnotierte Zeitenwende abgehoben wird. Franz Kafka in Meran bliebe hierbei geradezu ein Synonym für die Beharrlichkeit, aber auch die Problematik einer »deutsch« grundierten Identität im frühen 20. Jahrhundert, in der prinzipielle Heimatlosigkeit und kulturelle Selbstvergewisserung in sprachlichem und kulturellem Erbe einen prekären, niemals wirklich herzustellenden Ausgleich suchten.
»Unser Städtchen liegt…«
Einer der großen, wenn auch wenig gelesenen Interpreten Kafkas bleibt Theodor W. Adorno. Seine 1953 veröffentlichten Aufzeichnungen zu Kafka entfalten auch heute noch ihr ganzes analytisches Störpotenzial, weil sie von der Erfahrung eines Ungenügens an jenen Kafka-Deutungen ausgehen, die »mit quickem Bescheidwissen eben den Skandal wegräum[en], auf den das Werk angelegt« ist. Adorno blickt dagegen unverwandt auf Kafkas »Prophezeiung von Terror und Folter«,die die Barbarei des Faschismus in jenem historischen Augenblick beschreibt, als sie sich – von anderen noch unbemerkt oder unterschätzt – gerade zu formen begann. Auch die Meraner Briefe, so privat sie im Detail erscheinen mögen, decken immer wieder das »wimmelnde Grauen unter dem Stein der Kultur« auf, was die Jahre vor und nach 1920 als verbogene Moderne, als urgeschichtliche, tragisch eingefärbte Gesamtatmosphäre erscheinen lässt. Kurze Zeit später, noch vor Etablierung der faschistischen Systeme, werden bei Kafka deutlicher als bei anderen »Ingenieuren des Sprechens« (wie etwa den Denkern Ernst Cassirer, Sigmund Freud und Ludwig Wittgenstein) die Deformationen benannt, die das »explosive Gemisch aus politischem Führerkult, medial gelenkter Massenverblödung, dumpfem Nationalismus sowie nicht zuletzt sozialdemokratischer Fortschrittsgläubigkeit« (Wolfram Eilenberger) ausmachte. Auf den zeittypischen Mix aus Gewalt und Naivität reagierte Kafka entgegen anderen damaligen Weltdeutern – und das hebt ihn über diese hinaus – mit einer radikalen Verweigerung und einem »Abbrechen« des Sinns. Der Weltgeist, der mit Kafkas Aufenthalt kurz durch Meran weht und hier gleichsam contre cœur vorbeirauscht, bleibt nur als Hermetisches erhalten. Um es erneut mit Adornos unübertrefflichen Worten auszudrücken: »Nirgends verdämmert bei Kafka die Aura der unendlichen Idee, nirgends öffnet sich der Horizont. Jeder Satz steht buchstäblich, und jeder bedeutet.«
Auf den zeittypischen Mix aus Gewalt und Naivität reagierte Kafka entgegen anderen damaligen Weltdeutern – und das hebt ihn über diese hinaus – mit einer radikalen Verweigerung und einem »Abbrechen« des Sinns.
Vor diesem Hintergrund einer »Parabolik, zu der der Schlüssel entwendet« wurde, lassen sich auch neue Hypothesen ins Auge fassen, die wahrscheinlich vom Standpunkt einer strengen Kafka-Philologie vermessen erscheinen mögen, gleichwohl aber den offenen Charakter der Texte zur Geltung bringen wollen. Kafkas Rückkehr nach Prag, nach dem Meraner Intermezzo, geriet zu einer textlich überaus produktiven Phase, in der von September bis November 1920 mehrere kurze Erzählungen entstanden, die allesamt freilich erst postum – dank Max Brods Missachtung des Autorwillens – veröffentlicht wurden. Dazu zählt etwa mit dem Stadtwappen ein Text, der im Bild des babylonischen Turmbaus das Motiv des Scheiterns, der falschen Alternativen und der jetzigen Fehlentwicklung als »Folgeerscheinung urtümlichen Abirrens« (Hartmut Binder) einfängt. Die Erzählung ist deutlich auf eine Paradoxie hin angelegt – beste Gewähr für die Vollendung des gigantomanischen Vorhabens zu Babel sei die Nichterrichtung des Turms. In jüngeren historisch-soziologischen Deutungen wurde herausgestrichen, dass hier auch eine verschlüsselte Parabel auf den Untergang der k.u.k. Monarchie vorliege. Ein Untergang, dessen Folgen Kafka in Prag (auf dessen kommunale Heraldik mit der bewaffneten Faust der Text Bezug nimmt) wie in Meran entgegentraten, hier nochmals in das Abstruse einer Konfliktsituation von südtirolischer Regionalisierung auf der einen und inneritalienischem Dominanzanspruch auf der anderen Seite gesteigert erscheint. Was hindert uns also daran, diese verzweifelte Quadratur des Kreises in der weiteren Kurzerzählung Unser Städtchen liegt … gespiegelt zu sehen? Nach seinem Textanfang benannt, ist der zu Kafkas Lebzeiten unpubliziert gebliebene Text Mitte Oktober 1920 entstanden, wie inhaltliche Bezüge zu Briefstellen nahelegen.
Südtirol war 1920 reif für den Faschismus, von dem es eigentlich nur die Sprache trennte – dieses Manko würde aber rasch und unter allgemeiner Zustimmung dessen deutsche Variante, der Nationalsozialismus, beheben.
In der Shortstory berichtet der Autor Kafka von einem mysteriösen Gemeinwesen, das weit entfernt von Grenze und Metropole zu liegen und keinerlei Verbindung nach außen zu haben scheint: »Seit Jahrhunderten hat bei uns keine von den Bürgern selbst ausgehende politische Veränderung stattgefunden. In der Hauptstadt haben die hohen Herrscher einander abgelöst, ja sogar Dynastien sind ausgelöscht oder abgesetzt worden und neue haben begonnen, im vorigen Jahrhundert ist sogar die Hauptstadt selbst zerstört, eine neue weit von ihr gegründet, später auch diese zerstört und die alte wieder aufgebaut worden, auf unser Städtchen hat das eigentlich keinen Einfluss gehabt.« Sollte in diesen rätselhaften Worten – nebenbei – auch eine Momentaufnahme regionaler Historie eingefangen sein? Bemerkenswert ist jedenfalls die im Text vorgeführte Dialektik von Neu und Alt, von radikaler Vernichtung und unbeirrtem Fortdauern. Das Südtirol von 1920 stellte sich, auch in Meran, als ein in seinen Tiefenstrukturen noch unverändertes Gebilde dar, in dem sich – trotz des für die Verhältnisse vor Ort ungünstigen Ausgangs des Ersten Weltkriegs – das lokale politische und soziale Leben ohne tiefere Zäsuren wieder neu organisiert hatte. Die noch im Kulturkampf tief gespaltene Parteienlandschaft hatte sich entlang der vorgegebenen Lagergrenzen konstituiert, allerdings unter dem Eindruck der Bedrohung durch die italienische Staatsmacht den Einheitsgedanken favorisiert und eine geschlossene Interessensvertretung hervorgebracht. Unverkennbar war aber auch, dass die führenden Exponenten, Honoratioren und Eliten des deutschsprachigen Südtirols den autoritären Tendenzen der italienischen Politszene offene Sympathien entgegenbrachten und nur punktuell deren minderheitenfeindliche Auswüchse ablehnten. Südtirol war 1920 reif für den Faschismus, von dem es eigentlich nur die Sprache trennte – dieses Manko würde aber rasch und unter allgemeiner Zustimmung der Landesbewohner der deutsche Faschismus, der Nationalsozialismus, beheben. Diesen »Höllensturz« (Ian Kershaw) hat Kafka in seinen Texten auf prophetische Weise antizipiert, sein früher Tod kaum vier Jahre nach dem Meraner Aufenthalt hat ihn freilich nicht auch noch gezwungen, selbst zum Zeugen der real gewordenen Barbarei zu werden.
Zusammenfassung
Als Franz Kafka in den drei Monaten von Anfang April bis Ende Juni 1920 zur Erholung von seiner Lungenkrankheit in Meran weilte, erlebte er ganz beiläufig eine zentrale Formationsperiode der Südtiroler Gesellschaft, eine regionale Achsenzeit. Aus den Wirren des Ersten Weltkriegs hervorgegangen und von dessen Traumata geprägt, wirken die präfaschistischen Jahre 1918 bis 1922 wie eine Art unheimliche Windstille innerhalb der stürmischen Jahrzehnte zuvor und hernach. Zugleich werden hier auch neue Ordnungs- und Identitätsentwürfe sichtbar: Wie sollte man sich im Rahmen der neuen italienischen Zugehörigkeit positionieren, welche Mischung aus elastischem Entgegenkommen und trotziger Verhärtung war opportun? Vielleicht können wir uns Kafka als Meraner Flaneur auf Zeit vorstellen, der mit seinem wachen Intellekt zumindest einige der Zeitstimmungen des Südtiroler Interregnums dieser Phase verspürt hat. Der neue liberale Staat versuchte mühsam, seine Hoheitsansprüche in der politischen Praxis durchzusetzen und die traditionelle Habsburgeranhänglichkeit durch neue Deutungsangebote zu ersetzen, und blieb dabei doch im Engpass von Tiroler Deutschnationalismus und italienisch-nationalistischem Chauvinismus gefangen.
Wie mag Kafka diese explosive Mischung als unbeteiligter, aber aufmerksamer Beobachter empfunden haben? Als er, vom Meraner Aufenthalt nach Prag zurückgekehrt, im Herbst 1920 das kaum bekannte Prosastück Unser Städtchen liegt … abfasste, könnte er – wie stets in seinen Texten auf aleatorische Weise – auch auf die besondere Meraner Stimmung Bezug genommen haben. Die Annahme lässt sich natürlich nicht abschließend beantworten, aber Kafkas Meran-Aufenthalt von 1920 ist willkommener Anlass, der Übergangs- und Schwellenzeit von 1918 bis 1922 mit neuem Blick zu begegnen, ihre partikularen Momente einzufangen und ihren besonderen Status für Südtirols Geschichte ansatzweise zu bestimmen.
Sehr gute Analyse!
Sehr gute Analyse! Tatsächlich hätte es auch in Südtirol nicht wenige Leute gegeben, die sich mit einem autoritären System hätten abfinden können. Denen die Bewahrung der alten Strukturen, ihrer Sicherheiten und ihres Sozialhorizonts so wichtig war, dass sie nicht die Warnzeichen erkannten, oder denen sie schlicht egal waren. Und viele haben sich ja auch abgefunden, ganz fremd waren die damaligen Südtiroler Eliten der faschistischen Partei nicht.
Und als der Führer da war, war vielen die Rettung vor den Italienern leider wichtiger als der Charakter der neuen "Heimat". Wäre das nicht in Kriegszeiten passiert, wäre die Zustimmung wohl noch höher ausgefallen. Treffend (und eindringlich, weil es zugleich die Geschichte seiner Jugend ist) hat dies auch Claus Gatterer herausgearbeitet.