Gesellschaft | Impfen

Die chaotische Freischaltung

Ab heute sollen die Hausärzte die sogenannten Hochrisiko-Patienten zur Impfung freischalten. Doch die Webapplikation ist völlig ungeeignet und das System so kaum tragbar.
Medico
Foto: upi
Die Mail kam am Freitag kurz vor 19 Uhr.
Der Sanitätsdirektor des Südtiroler Sanitätsbetriebes Pierpaolo Bertoli informierte die Südtiroler Hausärzte und Hausärztinnen über die „ultrafragili" und "hoch vulnerablen Patienten“.
 
Sehr geehrte Ärztin, sehr geehrter Arzt,
ab morgen, 20.03.2021 können Sie über eine eigene neue Funktion in der Web-Anwendung die bei Ihnen eingeschriebenen vorselektionierten „ultrafragili“ und hoch vulnerablen Patienten sehen. In der Anlage übermittle ich auch eine Kurzanleitung dazu.
Sie werden dann gebeten, diese durchzusehen und für die Coronaschutz-Impfung zu bestätigen oder herauszunehmen. Daneben besteht die Möglichkeit, zusätzliche Patienten, die sich nicht unter den Vorselektionierten befinden, hinzuzufügen. Auch die mit den „ultrafrigili“ (sic) und hoch vulnerablen Patienten zusammenlebenden Familienmitglieder (beschränkt auf die von den Vorgaben des Istituto Superiore di Sanità vom 10. März 2021 vorgesehenen Kategorien) können von den Ärzten zu der zu impfenden Kategorie hinzugefügt werden.
 
 
 
Diese bestätigten „ultrafragili“ und hoch vulnerablen Patienten und zusammenlebenden Familienmitglieder können dann über die Vormerkzentrale oder online über www.sabes.it/vormerken für die Coronaschutz-Impfung vorgemerkt werden.
Die Impfungen können dann, je nach Verfügbarkeit der Impfstoffe, mit Biontech-Pfizer oder Moderna geimpft werden.“
 
Es ist ein Schreiben, das vielen Südtiroler Hausärzten das vergangene Wochenende nachhaltig versaut hat. Denn wer sich die Webapplikation - auf die Südtirols Hausärzte seit Wochen warten - genauer angeschaut hat, ist entsetzt.
 

Katastrophale Bedienung

 
Das Webportal des Sanitätsbetriebes ist bei den Hausärzten – ob seiner Benutzerunfreundlichkeit und seiner Fehleranfälligkeit – bereits berühmt-berüchtigt. Mehrmals waren die Handhabung und die teilweise absurden Anwendungen auch Thema bei den Aussprachen der Hausärztevertreter mit den Spitzen des Südtiroler Sanitätsbetriebes.
Jetzt wird die Geschichte aber um einige Kapitel reicher werden. „Die scheinbar grenzenlose Unfähigkeit des Sanitätsbetriebes auf den Gebieten IT und Organisation behindert uns bei unserer Arbeit und  macht uns wieder einmal zum Blitzableiter unzähliger verärgerter Patienten“, ärgert sich eine Gruppe von Hausärztinnen und –ärzten.
Die Ärzte haben Salto.bz eine lückenlose Dokumentation vorlegt, die ihre Kritik verständlich macht.
 
 
Ab 20. Februar wurde demnach auf dem Webportal eine neue Funktion aktiviert, die es den Hausärztinnen und Hausärzten erlauben soll, Hochrisiko-Patienten, die jünger als 75 Jahre sind, für die COVID-19-Impfung freizuschalten. Bereits hier beginnt das Problem. Die Hausärzte können ihre Patienten auf dem Portal nur „freischalten“. Anmelden müssen sich die Betroffenen aber dazu immer noch selbst. Über Telefon oder die Webseite des Sanitätsbetriebes.
Im entsprechenden Abschnitt der Webplattform findet sich bereits eine sehr kleine Auswahl von Hochrisikopatienten, die wohl aufgrund der im Landesserver hinterlegten Ticketbefreiungen automatisch ausgewählt worden sind. Was auf den ersten Blick vernünftig und schlüssig klingt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung aber als „Machwerk der übelsten Sorte“ (eine Hausärztin).
 
  • die Bedienung der neuen Portalfunktion ist eine Katastrophe (unübersichtlich, verschachtelt, voller Dropdown-Menüs, vieles lässt sich unerklärlicherweise nicht anklicken, Fehlermeldungen...). Die mitgeschickten Anleitungen sind keine wirkliche Hilfe.
  • für die Hausärzte ist es nicht oder zumindest nicht auf den ersten Blick ersichtlich, welche ihrer Patienten bereits für einen Impftermin vorgemerkt sind, eine erste oder sogar zweite Impfung schon erhalten haben, oder in den letzten drei Monaten positiv auf COVID-19 getestet worden sind;
  • die Benutzer müssen sich fragen, was im Kontext der Webapplikation die Meldung „ha aderito“ bedeutet. Gemeint ist: Der Patient hat der Impfung bereits zugestimmt;
  • es gibt unerklärliche Fehlermeldungen: Will man zum Beispiel eine 70-Jährige mit mehreren Risikofaktoren eintragen, blockiert die Webplattform den Abschluss („Il soggetto non puo' essere aggiunto perche' gia' presente come partecipante nei seguenti gruppi target: Fascia di età 70-74 anni,“).
  • Will man dieselbe, scheinbar bereits freigeschaltete Patientin dann über das Online-Vormerksystem der Bürger vormerken, erhalte man ebenfalls eine Fehlermeldung („Es ist nicht möglich, die Vormerkung vorzunehmen. Dieser Dienst ist den Personengruppen gemäß staatlichem Impfplan vorbehalten“)! 

  • das Kästchen „Pos.Covid ultimi 90gg“ lässt sich nicht ankreuzen, wird aber auch nicht automatisch ausgefüllt, wenn ein Patient nachweislich innerhalb der letzten drei Monate positiv war.
 
Das Urteil der Hausärzte ist vernichtend: „Die neue Funktion unseres Online-Portals ist in der aktuellen Form völlig verwirrend und damit ungeeignet für unsere Arbeit.“.
 

Die Liste

 
Noch dramatischer wird es aber bei der Auswahl der Hochrisiko-Patienten. Weil die Impfkampagne bereits seit Wochen angekündigt ist, hat ein Großteil der Südtiroler Hausärzte bereits vorab eine Liste ihrer Patientinnen und Patienten erstellt, die in diese Kategorie fallen.
 
 
Ein Vergleich mit den vom Sanitätsbetrieb vorgegebenen Patientinnen und Patienten lässt den Hausärzten jetzt aber die Haare zu Berg stehen:
 
  • die vorgeschlagene Hochrisiko-Patientenliste ist bei weitem nicht vollständig. So dokumentieren mehrere Hausärzte Salto.bz gegenüber den eklatanten Unterschied. Eine Ärztin hat bei rund 1.400 eingeschriebenen Patienten gerade einmal 7 „ultrafragili“. Auf der von ihr selbst im Jänner 2021 angelegten Liste sind es fast doppelt so viele;
  • transplantierte Personen scheinen auf der Liste erst gar nicht auf;
  • vor allem aber ist die Auflistung der vorgeschlagenen Risikopatienten im Einzelfall äußerst fehlerhaft. So scheinen auffällig viele Patienten auf, die plötzlich eine Multiple-Sklerose- oder ALS-Diagnose zu haben scheinen, die sie zuvor nicht hatten bzw. gar nicht haben. Die Hausärzte gehen davon aus, dass es sich hier um einen Fehler handelt. Oder noch schlimmer: dass die Patienten und ihre Hausärzte bisher nichts über diese Diagnose wissen. „Stellen sie sich vor, wir melden einen Patienten mit einer solche falschen MS-Diagnose zur Impfung an und die Person weiß nichts davon“, meint ein Hausarzt zu Salto.bz.
 
Das Resümee der Hausärzte: „Da uns essentielle Informationen fehlen, sind Doppel- und Fehlanmeldungen vermutlich ebenso möglich wie der unabsichtliche Verstoß gegen Privacy-Gesetze, wenn wir im guten Glauben vom Programm vorgeschlagene Leute, die sich vielleicht gar nicht impfen lassen wollen, für die Impfung freischalten – mit Diagnosen, die sie womöglich noch nicht einmal haben.
 

Fehlende Infos

 
Gleichzeitig bemängelt die Gruppe der Südtiroler Hausärztinnen und – ärzte aber noch einen anderen grundlegenden Punkt. „Wir werden ab Montag in der Praxis Dutzende Anrufe von Menschen bekommen, die davon ausgehen, zu einer Hochrisikogruppe zu gehören“, sagt ein Pusterer Hausarzt. Er bemängelt, dass der Sanitätsbetrieb die Öffentlichkeit bisher nicht darüber informiert hat, was die Kriterien für Hochrisikopatienten sind. Eine Ärztin: „Ein erhöhter Blutdruck oder eine Asthma-Erkrankung sind keine Kriterien für die Einstufung als ultrafragile“. Deshalb ersuchen die Hausärzte Salto.bz auch inständig, die vom „Istituto Superiore di Sanità“ vorgegebenen Kriterien zu veröffentlichen.
Der Südtiroler Sanitätsbetrieb hat es in den vergangenenen Monaten geschafft, das Land in Sachen Impfen in das absolute italienische Spitzenfeld zu führen. Es ist eine Leistung von Florian Zerzer & Co, die man uneingeschränkt anerkennen muss.
Schade, dass man durch solche Aktionen den Rückhalt bei jenen, die dafür mitzuständig sind, gefährdet.