Gesellschaft | Salto-Interview

„Man wollte Sandro treffen“

Alex Schwazer über den Menschen Sandro Donati, dessen neues Buch, das kranke System im Sport und seine Überzeugung, dass die Sportler endlich aufwachen müssen.

Donati, Schwazer
Foto: upi
Salto.bz: Herr Schwazer, Sandro Donati ist für Sie ein ganz besonderer Mensch?
 
Alex Schwazer: Ja, er war immer schon mehr als nur ein Trainer. Als ich die Zusammenarbeit mit ihm begonnen habe, bin ich nach Rom gezogen. Ich habe in einem Hotel gewohnt, 150 Meter von seinem Zuhause entfernt. Es war von Anfang an weit mehr als nur ein Verhältnis zwischen einem Athleten und einem Trainer. Wir waren den ganzen Tag zusammen. Ich war jeden Tag bei ihm daheim, in seiner Familie. Ich bin eine Art Sohn für ihn geworden. Ich konnte mit ihm über alles reden.
 
Sandro Donati schreibt in seinem Buch, dass Sie sich vor fast genau 7 Jahren per E-Mail an Ihn gewandt haben?
 
Das stimmt. Obwohl es schon vorher einen Kontakt geben hat. Sandro stellte ein Buch in Bozen vor. Ich glaube das war 2013. Ich kannte ihn damals nicht und ich wusste auch nichts über ihn. Damals war ich einfach müde, ich konnte und wollte diese ganzen Geschichten nicht mehr hören. Diese Auffassung: Jeder Athlet der gewinnt, ist gedopt. So als wäre es eine Schuld, etwas mehr Talent zu haben als andere. Das war der Ausgangspunkt, warum ich mit ihm Kontakt aufgenommen habe. Ich wollte Donati persönlich meinen Fall schildern. Daraus hat sich dann alles entwickelt. Als ich nach meiner Dopingsperre die Entscheidung traf, wieder in den Sport zurückzukehren, habe ich sofort an ihn gedacht.
 
 
Als ich nach meiner Dopingsperre die Entscheidung traf, wieder in den Sport zurückzukehren, habe ich sofort an ihn gedacht.
Warum gerade er?
 
Er ist ein herausragender Trainer. Sandro ist eigentlich zum Kampf gegen Doping gekommen, weil er als Trainer eliminiert wurde. Weil er zu viele Sachen aufgedeckt hatte. Mir war deshalb klar, dass auch er wieder eine Chance suchte, sich als Trainer zu beweisen. Für mich war er der richtige Mann. Er wurde vom System abgeschrieben und vor allem hatte er in Sachen Antidoping eine riesige Glaubwürdigkeit.
 
Was danach folgte waren sieben verflixte Jahre. Hätten Sie jemals gedacht, dass Sie und Donati das alles erleben würden?
 
(lacht) Nein, ich habe nie geglaubt, dass es so weit kommen wird. Ich war eigentlich überzeugt, dass wir beide erfolgreich in den Sport zurückkommen können. Dass wir beide einfach nochmals unsere Qualitäten beweisen könnten. Er als Trainer und ich als Athlet. Gekommen ist es dann völlig anders. Natürlich kannte ich gewisse Vorgeschichten.

An was denken Sie dabei?
 
Etwa an den Fall von Anna-Maria Di Terlizzi. Das war seine Athletin, der mehr oder weniger dasselbe passiert ist, wie mir später. Ihr Glück war es, dass man bei ihr nur die A-Probe manipuliert hat. Eine Manipulation der B-Probe schaffte man nicht mehr. Diese war negativ und so ging das Ganze für sie noch einmal gut aus. Aber ich hätte mir nie gedacht, dass es einmal auch mir so ergehen würde.
 
 
 
Es ist inzwischen vor Gericht bewiesen, dass es Manipulationen gegeben hat und Sie reingelegt wurden. Die große Frage aber ist: Wen wollte man mehr treffen, Sie oder Sandro Donati?
 
Wenn ich alles heute mit etwas Abstand betrachte, glaube ich, dass er das Hauptziel war. Man wollte Sandro treffen. Natürlich hatte die Tatsache, dass ich sein Athlet wurde und vor Gericht über die Ärzte ausgesagt habe, hier entscheidend mitgespielt. Man wollte jetzt mit einer Klappe zwei lästige Fliegen eliminieren. Mich vom Sport und Sandro Donati vom Antidoping. Es ging darum seine Glaubwürdigkeit zu zerstören.
 
Als eine Art Saulus der zum Paulus wurde, waren aber auch Sie eine Gefahr für das gut geölte Dopingsystem in der Leichtathletik?
 
Meine Rolle war hier nicht so entscheidend. Ich habe vielleicht ein Zwanzigstel vom dem aufgedeckt, was Sandro alles enthüllt hat. Schauen Sie, wenn nur ich das Problem gewesen wäre, dann hatte man mich ganz einfach bei meinem ersten Wettkampf, beim Weltcup in Rom als ich zurückkehrte, disqualifiziert. Es ist eine Kampfrichter-Entscheidung. Damit wäre die Olympiade für mich ein für alle Mal passé gewesen.
 
Man wollte mit einer Klappe zwei lästige Fliegen eliminieren. Mich vom Sport und Sandro Donati vom Antidoping.
 
Sandro Donati beschreibt in seinem Buch detailreich ein kriminelles Zusammenspiel zwischen dem internationalen Leichtathletikverband IAAF und der Welt-Antidoping-Agentur WADA. Stimmen Sie hier zu?
 
Absolut. Denn alles ist so konstruiert, dass der Athlet hier immer das schwächste Glied ist. In dem Moment, wo du positiv getestet wirst, ist es für einen Athleten fast unmöglich das Gegenteil zu beweisen. Denn es sind nicht alle Athleten, die positiv sind, schuldig. Es gibt immer wieder Fehler oder Verunreinigungen. Nur ist es dann extrem schwierig für jemand, diese Unschuld zu beweisen. Das System muss dir nicht deine Schuld beweisen, sondern du musst deine Unschuld beweisen.
 
Wobei das fast unmöglich ist, weil nur die WADA alle Proben hat?
 
Hier sind wir beim Absurden. Sie haben sowohl die A- als auch die B-Probe. Ich habe es selbst in Rio miterlebt, was das heißt. Dazu kommt, dass sie ganz andere finanzielle Mittel haben. Ich muss 20.000 Euro zahlen, damit der internationale Sportgerichtshof CAS überhaupt meinen Fall behandelt. Wir sind aber keine Fußballspieler, die Millionen verdienen. Deshalb kommt man schnell an die Grenzen seiner finanziellen Möglichkeiten.
 
 
Wir sind aber keine Fußballspieler, die Millionen verdienen. Deshalb kommt man schnell an die Grenzen seiner finanziellen Möglichkeiten.
Haben Sie und auch Sandro Donati in all diesen Jahren nie daran gedacht, diesen ungleichen Kampf einfach aufzugeben?
 
Es gab bei beiden viele Momente, wo einem vor Augen geführt wurde, wie schwierig das Ganze werden wird. Mir ging es bei jeder Gerichtsverhandlung schlecht. Allein die Gegenwehr, die man unseren Bemühungen zur Aufklärung entgegengesetzt hat, zeigt wie stark dieses System ist. Wir haben viereinhalb Jahre lang gekämpft. Dabei haben wir nie wirklich ans Aufgeben gedacht. Aber es gab Momente, wo einem die Energie gefehlt hat.
 
Bei Ihrem Freispruch vor Gericht spielten die E-Mails, die die russische Hackergruppe „Fancy Bears“ geleakt hat, eine entscheidende Rolle. Die Gruppe hat die Mails auch Salto.bz zugeschickt. Wissen Sie heute, warum diese Mails herausgekommen sind?
 
Die E-Mails sind nicht wegen mir oder meinem Fall herausgekommen. Damals waren die russischen Athleten im Fokus der Anti-Dopingagentur. Ich denke, die russischen Hacker wollten damit zeigen, dass es auch andere gibt, die von den Verbänden geschützt werden. So hat man die Server des WADA und der IAAF gehackt und Millionen von Daten abgesaugt. Dabei kamen auch jene Mails heraus, die meinen Fall betreffen. So kam das ins Rollen.
 
Viele Medien haben diese Bombe bis heute totgeschwiegen?
 
Diese E-Mails sind das beste Beispiel dafür, wie alles funktioniert. Diese Mails wurden an viele nationale und internationale Sportzeitungen geschickt. Aber fast niemand hat darüber etwas geschrieben. Weil vielleicht der Direktor oder der Chefredakteur mehr Interesse an der WADA oder am Verband hat, als an der Wahrheit oder am Schicksal eines einzelnen Athleten. Die Medien sind auch hier mitschuldig. Manche mehr und manche weniger. Das Vertrauen in die Kontrollorgane im Sport scheint unbegrenzt. Man tut einfach so als sei nie etwas passiert.
Die Medien sind auch hier mitschuldig. Manche mehr und manche weniger.
Es geht trotz dieser Enthüllungen aber alles immer gleich weiter?
 
Leider ist es so. Nehmen wir die Behälter für die Urinproben. Bei der Winterolympiade in Sotchi 2014 platzte der große Skandal. Seit damals ist klar, dass man diese Probe ohne Probleme öffnen und wieder verschließen kann. 2021 hat man aber immer noch dieselben Behälter. Das ist doch ein Skandal. Aber solange die Athleten diese Sachen einfach so hinnehmen - nur, weil sie Angst haben gegen die Verbände oder die WADA vorzugehen – wird alles so bleiben. Die Gegenseite hat kein Interesse hier einzugreifen. Das System funktioniert für sie perfekt. Keiner der vielen Skandale, die aufgedeckt wurden, hatte bisher zu echten Konsequenzen geführt. Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, dann muss die große Mehrheit der Athleten endlich ein Zeichen setzen.
Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, dann muss die große Mehrheit der Athleten endlich ein Zeichen setzen.
Sie sagen damit: Die Sportler sollen endlich aufwachen?
 
Ohne die Athleten geht nichts im Sport. Eine Olympiade wird nicht für die Funktionäre gemacht. Das wäre unsere Kraft, wenn wir sie endlich nutzen würden. Zu sagen: Entweder ihr ändert das und das oder wir treten alle zusammen nicht mehr an.

Was würden Sie ändern?
 
(lacht) Vieles. Man sollte zum Beispiel der WADA das Monopol der Dopingkontrollen wegnehmen. Es müssten auch staatliche Labore und Kontrollen zugelassen werden. Damit gibt es eine gegenseitige fachliche Kontrolle. Es wäre nur eine der Änderungen, die wir Athleten endlich erzwingen müssten.
 
Wie wichtig ist für Sie diese Aufarbeitung ihrer Geschichte, Donatis Buch und der Dokumentarfilm den Sie derzeit drehen?
 
Für mich war das Wichtigste das Urteil des Bozner Landesgerichts. Das war für mich der wichtigste Teil. Alles andere ist jetzt wichtig, um aufzuzeigen, dass die Situation wie sie auch heute noch besteht, nicht tragbar ist. Man muss immer wieder darauf hinweisen. Denn die WADA und die IAAF tun alles, damit wieder Stille einkehrt. Das muss man verhindern. Deshalb freut es mich, dass dieses Buch diesen immer noch anhaltenden Skandal dokumentiert und den Menschen näherbringt.
 
 
Werden Sie den Kampf gegen dieses System weiterführen?
 
Ich werde alles tun, was ich als Einzelner tun kann. Eigentlich wäre das die Aufgabe der Verbände oder des Olympischen Komitees. Aber ich werde mir sicher nicht meine Meinung verbieten lassen. Sondern ich werde weiterhin Dinge anprangern, die nicht in Ordnung sind.
Sandro hat eine Courage bewiesen, die kein anderer im Sport hatte.
Keine Angst, dass das Imperium noch einmal zurückschlagen wird?
 
Man hat bei mir bereits alles probiert, was möglich ist. Ich habe eigentlich keine Angst um mich oder meine Familie. Sicher, es gab einzelne Fälle, etwa in Russland, wo Leute, die in einem Labor gearbeitet haben, geredet haben und danach zufällig einen Herzinfarkt hatten oder bei einem Verkehrsunfall gestorben sind. Aber so weit sind wir hier noch nicht.

Das Duo Donati-Schwazer ist aber immer noch ein Stachel in diesem System?
 
Ich danke Ihnen für die Blumen. Aber ich setzte mich keinesfalls mit Sandro gleich. Sandro hat eine Courage bewiesen, die kein anderer im Sport hatte. Sie müssen sich vorstellen: Bereits 1987 hat er bei der WM in Rom aufgedeckt, dass man die Weite des Goldmedaille-Gewinners Giovanni Evangelisti im Weitsprung bewusst falsch berechnet hat. Er war damals Verbandsfunktionär und Nationaltrainer. Er wusste genau, wenn ich das tue, verliere ich alle meine Ämter. Und er hat es trotzdem getan. Er hat Dinge getan, die herausragend ist. Im Sport schaut jeder auf seinen kleinen Teil. Sandro ist hier das genaue Gegenteil. Ein Mensch mit Werten und Zivilcourage.