Politik | Salto Gespräch

"Gibt es eine Steigerung von zynisch?"

Claudia Villani berichtet von ihren Erfahrungen in einem afghanischen Flüchtlingslager in Pakistan. "Hilfe vor Ort? Ich weiß im Moment nicht, wie diese aussehen könnte".
Pakistan
Foto: Claudia Villani

Claudia Villani ist seit 2003 als freiwillige Helferin in einem afghanischen Flüchtlingslager in Pakistan tätig. Coronabedingt hat sie die letzten beiden Jahre in ihrer Heimatstadt Wien verbracht, wo sie als Psychotherapeutin mit Personen in Krisensituationen arbeitet. Auch heute hat Villani noch engen Kontakt zu Helfern vor Ort in Pakistan. Im Interview spricht sie über die Situation, die sie dort erlebt hat und erklärt, warum im Anbetracht der momentanen Situation in Pakistan und Afghanistan Hilfe vor Ort nicht funktioniert.

 

Salto.bz: Frau Villani, die Vereinten Nationen bitten Afghanistans Nachbarstaaten die Grenzen offen zu halten und Flüchtlinge aufzunehmen. Europäische Politiker appellieren an die Verantwortung dieser Staaten und wollen den Menschen vor Ort helfen. Was denken Sie, wenn Sie diese Aussagen hören?

Claudia Villani: Mein erstes Gefühl ist Ärger. Das ist eine derartige Scheinmoral! Ich arbeite seit 2003 in Pakistan und ich arbeite nur mit gezielt ausgewählten Menschen, aber auch da muss ich immer wieder kontrollieren, wie und wohin das Geld fließt. Ich habe eine riesige Organisation hinter mir mit 800 Mitarbeitern (MALC), die im ganzen Land verstreut sind, aber ich weiß im Moment wirklich nicht, wie Hilfe vor Ort ausschauen kann. Westliche Personen werden ja gar nicht in die Flüchtlingslager hineingelassen. Wenn die Menschen in Europa also von Hilfe vor Ort sprechen, dann weiß ich wirklich nicht, wovon sie reden.

Sie haben selbst in einem afghanischen Flüchtlingslager in Pakistan gearbeitet. War es denn möglich, Hilfe zu leisten? Wie hat das funktioniert?

Ja, aber nur sehr beschränkt. Ich war im Jänner 2020 das letzte Mal dort und habe gestern auch ein Telefonat geführt. Allein die Wassersituation ist so krass, dass wir kein Wasser mehr in Tankwagen hinfahren können, weil es in der Gegend gar kein Wasser mehr gibt. Wenn Europäer sagen, sie wollen Hilfe vor Ort leisten, wäre meine erste konkrete Frage: Wo könnt ihr genügend Wasser auftreiben, um die Menschen zu versorgen? Und hier geht es nur ums Wasser! Wir sprechen noch nicht über Nahrung oder eine medizinische Versorgung, sondern ums blanke Wasser. Und das ist nicht gewährleistet; in Baluchistan genauso wenig wie in der Umgebung von Karachi.

 

Ist die Situation in anderen Flüchtlingslagern in Pakistan vergleichbar?

Da bin ich mir ganz sicher. Die Flüchtlingslager um Karachi herum sind alle so. Sie bieten die einzige Hoffnung, sich irgendwie zu ernähren. Dabei weiß ich wirklich nicht, wie es überhaupt geht. Ich sehe den gesundheitlichen Zustand der Kinder und Frauen. Sie versuchen in den Müllbergen der Großstadt zu überleben… Einmal bin ich mit unserem CEO durch Karachi gefahren und habe zu ihm gesagt: Lobo, ich verstehe nicht, dass der Mist bei euch auf der Straße liegt und stinkt, dass bei 20 Millionen Einwohnern die Ratten rumrennen. Und er lacht mich an und meint: “Ja Claudia, aber wenn wir dieses Problem lösen, dann verhungern die afghanischen Flüchtlinge, um die du dich kümmerst.” Auch nach so vielen Jahren dort denke ich noch europäisch. Das ist auch okay so und ich muss mich sicher nicht an alles gewöhnen. Aber was uns Europäern als Lösung einleuchtet, schafft oft wieder ganz neue Probleme, die wir kaum begreifen können.

Wer sind die Menschen, die in diesen Flüchtlingslagern Zuflucht suchen?

Kinder, Frauen, Familien, Kranke… Ich kenne persönlich Menschen, die von den Taliban flüchten mussten. In manchen Orten in Afghanistan trommeln die Taliban alle männlichen Familienmitglieder ab 12 Jahren zusammen. Dann hast du zwei Möglichkeiten: Entweder du schließt dich ihnen an, oder du packst deine Familie und deinen Kram zusammen und läufst weg. Viele von ihnen laufen Richtung Karachi. Diese Menschen haben keine Möglichkeit, einen Flug zu organisieren, das ist eh unrealistisch. Aber so zu tun, als ob Pakistan dieses Problem lösen könnte… Gibt es eine Steigerung von zynisch? Das ist böse.

Im Anbetracht dieser Zustände, warum akzeptieren wir, dass europäische Staaten sich auf Hilfe vor Ort konzentrieren wollen?

Hier muss ich einen Ärger loswerden. Ich habe vor einigen Tagen einen ZDF-Beitrag gesehen, der afghanische Flüchtlinge in einem Hotelzimmer zeigt. Sie sagen, es gehe ihnen eh recht gut in Islamabad. In demselben Beitrag wird erwähnt, dass sich vier Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan aufhalten. Da trauen die sich doch tatsächlich eine Familie in einem Hotel zu zeigen! Solche Bilder vermitteln einen komplett falschen Eindruck von der Situation. Wahrscheinlich hat eine Journalistin – guten Willens – Flüchtlinge in Islamabad gesucht. Und die einzigen, die sie gefunden hat, waren im Hotel. Die Realität in den Flüchtlingslagern geht an den Medien vorbei. Und Pakistan hat auch kein Interesse daran, dass der Westen in diese Lager hineinschaut.

 

Wie können wir glauben, Hilfe vor Ort leisten zu können, wenn wir nicht mal registrieren können, wer diese Hilfe braucht?

 

Schon vor der Machtübernahme der Taliban hielten sich laut offiziellen Zahlen 1,4 Millionen Flüchtlinge in Pakistan auf. Wie geht das Land mit der Situation um?

Es waren damals bereits viel mehr. Der pakistanische Botschafter in Berlin schätzte die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan zwischen drei und vier Millionen. Wenn ein Botschafter offiziell sagt, dass sie selbst nicht wissen, um wie viele Menschen es sich handelt – eine Million mehr oder weniger –, dann sagt das unglaublich viel über die Situation aus. Und diese Zahlen beziehen sich auf die Situation vor der Krise.

Es bleibt schwer, sich hinter diesen Zahlen eine konkrete Situation vorzustellen. Welche Erfahrungen haben Sie besonders geprägt?

Was mich besonders geprägt hat... Die Menschen haben weder Kraft noch Ressourcen, um ihre Kinder zu ernähren. Frauen gaben mir ihre kraftlosen Kinder unter der Burka hervor und ich merkte, dass das Kind in den nächsten Minuten sterben würde. Dann habe ich ihnen das tote Kind zurück unter die Burka gegeben. Oder ein anderes Mal... Ich war mit 6.000 Decken im Afghan Camp. Es war ein kalter, ein harter Winter. Ich dachte: Immerhin 6.000 Decken sind besser als nichts. In meiner europäischen Naivität bin ich mit zwei Lastwagen hingefahren, habe ein Foto gemacht – europäischer Größenwahn halt. Im Lager ist es dann zu solchen Tumultszenen gekommen, dass das Militär hat einschreiten müssen. Wie konnte ich glauben, mit 6.000 Decken in ein Camp zu kommen, in dem 120.000 Menschen frieren? Wer von den Menschen braucht keine Decke für seine Kinder?

 

Sie sprechen von 120.000 Personen, die 2020 im Afghan-Lager untergebracht waren. Wie hat sich die Situation im Camp seit der Machtübernahme der Taliban verändert?

Das kann man gar nicht sagen, niemand hat mehr einen Überblick, wer wann über die unbewachte Grenze in Baluchistan nach Pakistan kommt. Es handelt sich um ein riesiges Gebiet, einen Slum. Anfangs haben wir 80.000 Menschen geschätzt. Dann 120.000… Wenn ich jetzt höre, dass auch offizielle Stellen in Pakistan keinen Überblick haben, dass die Angaben sich zwischen drei und vier Millionen bewegen… Wie können wir glauben, Hilfe vor Ort leisten zu können, wenn wir nicht mal registrieren können, wer diese Hilfe braucht? Zudem kommt, dass viele Pakistaner selbst nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu ernähren. Wenn ich ins Afghan Camp fahre, schauen mich meine pakistanischen Freunde an und sagen: Aber Claudia, unsere Kinder verhungern doch auch. Warum fährst du ins afghanische Flüchtlingscamp? Ich kann sie verstehen.

Was würden Sie sich stattdessen von den europäischen Staaten erwarten?

Wenn unserer Bundeskanzler auch nur eine einzige Stunde im Afghan Camp verbringen würde… Ich kenne ganz viele Orte und Stellen, und das wird bei Ihnen auch so sein, die wirklich bereit wären, Flüchtlinge aufzunehmen. Der allererste Schritt wäre jener, Menschen, die Hilfe leisten wollen, nicht vor den Kopf zu stoßen. Ich kenne Pfarrgemeinden, Bürgermeister, die sagen: Wie können 50 Leute aufnehmen, schickt sie uns doch diese 50 Menschen. Ist das nicht eine Niederlage unserer Kultur? Wer Hilfe anbietet, soll diese auch leisten dürfen.

 

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Karl Trojer Mo., 27.09.2021 - 10:35

Sehr geehrte Frau Villani, Ihr Engagement war großartig, Ihr Bericht ist umfassend und sehr nüchtern, und er macht ratlos. Als Ausweg, den Sie vorschlagen, habe ich verstanden, dass wir Europäer in unseren Gemeinden je eine angemessene Anzahl von Flüchtlingsfamilien aufnehmen sollten. Dem stimme ich voll bei, zumal die Bereitschaft dazu vielerorts bereits gegeben wäre. Könnten Sie, dank Ihrer Autorität aus jahrelanger Erfahrung, bitte bei der Präsidentin der EU-Kommission und beim Präsidenten des EU-Parlamentes vorstellig werden und denen darlegen, dass es dringend EU-weiter Maßnahmen bedarf, die solche Aufnahmen ehestens ermöglichen ?

Mo., 27.09.2021 - 10:35 Permalink
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m s Mo., 27.09.2021 - 20:54

Hilfe beim Bau von Brunnen, Speicherbecken, Bewässerungsanlagen z.B. ist das naiv und nicht möglich??

Mo., 27.09.2021 - 20:54 Permalink