Umwelt | Pestizidprozess

„Reine Schikane“

Das Gericht muss die Zwangsvorführung des letzten Klägers anordnen. Der Prozess gegen Karl Bär gerät zur Farce und wird nicht nur für Südtirols Bauern zum Eigentor.
"Pestizidprozess"
Foto: Umweltinstitut München e.V.
Das Problem ist der 26. September 2021.
An diesem Sonntag wird aus Karl Bär, dem Agrarreferenten des Umweltinstituts München, der grüne Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Damit wird ein Gerichtsstreit, der auch bis dahin einigen politischen Staub aufgewirbelt hat, zu einem echten Politstreit. Einer Affäre, die dem gesamten Land langfristig einen weitaus größeren Imageschaden zufügt, als die millionenschweren IDM-Werbekampagnen wiedergutmachen können.
Das, was hier in Südtirol passiert, ist an Absurdität kaum zu übertreffen“, sagt Karl Bär. Und der deutsche grüne Politiker drückt eine Taste, die weit über Südtirol hinaus, Folgen haben könnte. „Der Prozess gegen mich ist reine Schikane. Die EU muss endlich eine Richtlinie erlassen und solchen Justizmissbrauch unterbinden, denn diese Verfahren gefährden die Meinungsfreiheit“, meint der Bundestagsabgeordnete.
Spätestens damit wird ein Streit, der man irgendwo zwischen deutscher Überheblichkeit und dem tirolerischen Sturschädel ansiedeln kann, auf eine neue Ebene gehoben. Es geht nicht mehr nur um Pestizide, Gesundheit und Umweltschutz, sondern um ein für Europa einmaliges Justizsystem, das jetzt international an den Pranger gestellt wird.
 

Der Gerichtsstreit

 
Ausgangspunkt ist die Klage gegen Karl Bär wegen der provokativen Kampagne „Pestizidtirol“ des Umweltinstituts München im Sommer 2017. Die Umweltschutzorganisation hatte ein Plakat in der bayerischen Hauptstadt ausgehängt, auf dem die Südtiroler Tourismus-Marketing-Kampagne sowie die Südtiroler Dachmarke satirisch verfremdete (“Pestizidtirol” statt Südtirol) wird. Die Umweltschutz-Organisation wollte damit auf den hohen Pestizideinsatz in Südtirol aufmerksam zu machen.
 
 
 
Getrieben vom Südtiroler Bauernbund und von der Südtiroler Apfellobby erstattetet Landwirtschaftslandesrat Arnold Schuler im Verbund von mehr als 1370 Südtiroler Bauern Strafanzeige gegen das Münchner Umweltinstitut und Karl Bär. Gleichzeitig sollte mit der Strafanzeige auch noch ein anderer Schädling verbrämt werden. Alexander Schiebel und dessen Buch „Das Wunder von Mals“.
Der Prozess gegen Bär und Schiebel, der im Herbst 2020 vor dem Bozner Landesgericht beginnt, löst eine Protestwelle in ganz Europa aus. Hunderttausende Menschen forderten Landesrat Schuler auf, seinen Angriff auf die Meinungsfreiheit sofort zu beenden. Selbst die Menschrechtskommissarin des Europarats Dunja Mijatovic stufte die Klage als sogenannten SLAPP (strategic lawsuit against public participation) ein – eine haltlose, strategische Klage, die zum Ziel hat, unliebsame Kritikerinnen und Kritiker mundtot zu machen. Aufgrund des großen internationalen Drucks haben Schule und alle beteiligten Bauern ihre Anzeigen gegen Bär schließlich zurückgezogen.
 

Zwei sture Brüder

 
Nur zwei Kläger weigerten sich diesen Rückzug anzutreten. Die zwei Vinschger Bauern und Brüder Stefan und Tobias Gritsch hielten an ihrer Anzeige fest.
Die Taktik der beiden Vinschger Bauern ist dabei klar. Damit läuft der Strafprozess gegen Bär weiter. Für den bayrischen Agrarfachmann und grünen Politiker ist dieses Verfahren existenzbedrohend: Im Fall einer Verurteilung könnten tausende Südtiroler Bauern in einem anschließenden Zivilverfahren Schadensersatzforderungen gegen ihn geltend machen, die Millionenhöhe erreichen könnten.
Beide Kläger hätten am Freitag vor Gericht als Zeugen aussagen müssen. Während Stefan Gritsch seine Anzeige inzwischen zurückgezogen hat, hält sein Bruder Tobias Gritsch seine Anzeige aufrecht und damit den Strafprozess gegen den deutschen grünen Politiker weiterhin am Leben.
 
 
 
Der Paukenschlag am Freitag: Kläger Tobias Gritsch, der als Zeuge im Verfahren aussagen sollte, ist kurzerhand nicht zum Prozess erschienen. Der offizielle dem Gericht mitgeteilte Grund: Er sei mit der Ernte beschäftigt. Richter Ivan Perathoner hat deshalb eine Zwangsvorführung des Zeugen für den nächsten Verhandlungstag am 28. Jänner 2022 verfügt.
Der Einzige, der diesen Prozess freiwillig weiterführt, muss von der Polizei vorgeführt werden, damit er überhaupt erscheint“, kann Karl Bär nur mehr den Kopf schütteln. Sein Resümee: „Nach über einem Jahr und vier Gerichtsverhandlungen ist nichts auf den Tisch gekommen, was mit dem angeblichen Vergehen zu tun hat. Klar, denn wo es kein Verbrechen gibt, kann man auch keines aufklären.
Noch deutlicher wird Bärs Anwalt Nicola Canestrini: “Hier haben wir den Beweis, dass Italien das perfekte Pflaster für gegenstandslose Klagen ist, die nur geführt werden, um unangenehme Kritiker mundtot zu machen.“  Der renommiere Roveretaner Strafverteidiger fordert deshalb das Gericht auf, „diesen Angriff auf die Meinungsfreiheit endlich zu beenden und Karl Bär frei zu sprechen.”
Damit aber steht jetzt nicht mehr die Frage nach dem Pestizideinsatz in Südtirol im Mittelpunkt, sondern der internationale Fokus verschiebt sich auf ein noch brisanteres Terrain: Das italienische Justizsystem und dessen Vereinbarkeit mit internationalen und in der EU geltenden Rechtsgrundsätzen.
Und alles nur wegen ein paar Südtiroler Bauern.