Society | Brixen

Exklusiver Ekel

Ein 19-jähriger Nigerianer soll in Brixen eine Flüchtlingshelferin vergewaltigt haben. Die Meldung lanciert Minister Salvini. Doch der Vorfall hat so nicht stattgefunden.
Ex-Schenoni-Kaserne
Foto: Screenshot/RAI Alto Adige

Drei Sätze. 38 Wörter. 257 Zeichen. Mehr braucht Matteo Salvini nicht, um mit seinen Anhängern in den Sozialen Netzwerken zu kommunizieren.
Es ist Sonntag, 11.53 Uhr, als der Innenminister und Lega-Parteichef auf seiner offiziellen Facebook-Seite folgende Zeilen veröffentlicht: “Un ‘richiedente asilo’ nigeriano di 19 anni, pregiudicato, è stato arrestato per aver violentato venerdí sera a Bressanone (Bolzano) la responsabile del centro che lo ospitava. SCHIFOSO! Ora grazie al #DecretoSalvini per un caso come questo c’è l’ESPULSIONE!”

Die Nachricht, dass ein 19-jähriger Asylwerber in Brixen die Verantwortliche des Aufnahmezentrums vergewaltig hat – was Salvini mit “EKELHAFT!” kommentiert –, wird sich später als Falschmeldung, als Fake News herausstellen. Doch das wird die tausenden Facebook- und Twitter-User, die die “Enthüllung” Salvinis kommentiert, geteilt und mit einem “Gefällt mir”, einem Herzchen oder einem zornigen Smiley versehen haben, in Zeiten, in der laute Slogans und harte Sprüche mehr zählen als Fakten, wenig scheren.

 

Auf der Salvini-Welle

Es entlädt sich die Entrüstung über die “BESTIA”, über den “SCHIFOSO nigeriano”. In den Kommentaren wird zu Lynchjustiz aufgerufen, dazu, den mutmaßlichen Täter zu kastrieren, zu erhängen, zu erschießen.
“Io sono anche per la fucilazione!! Almeno siamo sicuri che qui non torna!”
“...prima di impiccarlo andrebbe torturato con un bel bastone dove dico io…”
“Prima di espellerlo provvedete a spaccargli le gambe irreversibilmente e castrarlo”

Auch das vermeintliche Opfer wird wüst beschimpft.
“Per la signora non mi dispiace chi li ospita sono i buonisti che li vogliono qua..comunque prima dovreste castrarlo poi il rimpatrio!!!!”
“L’ imbecille italiana poteva evitare di ospitarlo!!! Cazzi suoi!!! A causa di questa benefattrice imbecille rischiano anche le nostre figlie che prendono la metro per andare a scuola!! Andasse a fanculo! Peggio per lei!!!”

Ungehindert verbreitet sich der Hass im Netz. Auch Journalisten werden attackiert – dafür, dass sie von der angeblichen Vergewaltigung in Brixen nicht berichtet, sie absichtlich verschwiegen hätten. Doch erst durch den Post von Matteo Salvini erfahren die Journalisten am Sonntag, dass am Freitag Abend in Brixen etwas vorgefallen ist. Die zuständigen Behörden haben die lokalen Redaktionen nicht informiert. So ist Matteo Salvini der erste, der als Innenminister – und damit als eigentlich glaubwürdige und zuverlässige Institution – die “ekelhafte” Exklusivnachricht verbreitet.

In Berufung auf “Quellen aus dem Innenministerium” greift die nationale Presse den Post von Innenminister Salvini kurze Zeit später auf. “Orrore nel centro d'accoglienza. Nigeriano stupra responsabile”, schreibt Il Giornale in seiner Onlineausgabe um 13.09 Uhr. Am Nachmittag berichten auch lokale Medien im Internet darüber.

Die Nachricht, die sich in Windeseile in ganz Italien verbreitet: Ein 19 Jahre alter Nigerianer hat in Brixen die Angestellte eines Aufnahmezentrums vergewaltigt, wurde deswegen festgenommen und steht aufgrund des soeben vom Senat verabschiedeten “Decreto Sicurezza” vor seiner Abschiebung.
Abgesehen davon, dass das Dekret vor seinem effektiven Inkrafttreten noch von der Kammer abgesegnet werden muss, entpuppt sich die Nachricht im Laufe des Tages als Falschmeldung.
Sowohl Carabinieri als auch die Leiter der Aufnahmestruktur in Brixen korrigieren Salvinis Version.

 

Keine Vergewaltigung

Tatsache ist, dass am Freitag (9. November) ein 19-jähriger Nigerianer in der Brixner Asylunterkunft in der Ex-Schenoni-Kaserne von den Carabinieri verhaftet wurde. Dort sind derzeit 60 männliche Flüchtlinge aus 17 verschiedenen Nationen untergebracht. Fünf von ihnen sind psychisch krank. Auch der 19-jährige verhaftete Nigerianer stand wegen psychiatrischer Probleme unter Beobachtung, bestätigt Andrea Tremolada vom Roten Kreuz. Seit 1. November hat das Rote Kreuz die Führung der Ex-Schenoni-Kaserne samt Mitarbeiter von der Sozialgenossenschaft EOS übernommen.

Am Freitag sei es in der Unterkunft zu einer Rauferei zwischen einigen Bewohnern gekommen, eine Mitarbeiterin sei interveniert und habe versucht, den 19-Jährigen von dem Gerangel zu entfernen – auch weil sie aus Erfahrung gewusst habe, dass er in aufgeregtem Zustand zur Gefahr für sich und andere werden kann. Im Handgemenge habe der junge Mann der Mitarbeiterin an die Brust gefasst und sie leicht verletzt, berichtet Andrea Tremolada RAI Alto Adige. Daraufhin habe man die Carabinieri verständigt, die Mitarbeiterin sei in die Erste Hilfe gebracht worden. Dort seien bis auf zwei blaue Flecken, die keiner weiteren Behandlung bedürfen, keine Verletzungen festgestellt worden. “Den Rest muss die Staatsanwaltschaft klären”, so Tremolada.

Der 19-Jährige sitzt derzeit im Gefängnis von Bozen. Auch die Carabinieri bestätigen, dass keine Vergewaltigung zu Protokoll gegeben worden sei. Der Mann sei wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verhaftet worden. Ob die Tätlichkeit gegen die Rote-Kreuz-Mitarbeiterin ein versuchter sexueller Übergriff war, wird der Haftrichter am Montag Vormittag prüfen.

Ebenso ungeklärt ist noch die Frage, ob der Nigerianer ausgewiesen werden wird. Denn auch wenn sich der Tatbestand als erfüllt herausstellen sollte, dem Mann also ein Delikt nachgewiesen werden kann – der 19-Jährige gilt aufgrund seiner psychiatrischen Probleme als “soggetto fragile”.

Während die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft anlaufen, hat sie der Lega-Triumphwagen, der Carroccio, schon überholt. Um 13.30 Uhr teilt am Sonntag auch der frisch gewählte Landtagsabgeordnete der Lega, der Brixner Massimo Bessone – er wird als künftiger Landesrat gehandelt – die Zeilen seines Parteichefs. Mit dem Kommentar: “Die allermeisten flüchten vor keinem Krieg! Wir nehmen sie auf, wir erhalten sie und sie danken es uns so!”