Mehr Stimmen außerhalb des Chors
Die Loungemusik dudelt in gepflegter Lautstärke aus den kleinen Lautsprechern an der verzierten Holzdecke der Laurin Bar. Groß und schlank, kommt er mit langen Schritten herein und entschuldigt sich aufrichtig für die paar Minuten Verspätung: er ist zu Fuß einmal quer durch die Bozner Altstadt gelaufen, um sich in seiner neuen Stadt umzusehen und hat dabei das Zeitgefühl verloren.
Bart van der Heide, Jahrgang 1974, gebürtiger Holländer, ehemals Chef-Kurator des Stedelijk Museum in Amsterdam und Direktor des Kunstvereins München, wird ab Juni 2020 Letizia Ragaglia als Direktor des Museion ablösen. Er spricht zugleich begeistert und besonnen, mit Überzeugung aber ohne eine Spur von Arroganz oder Überheblichkeit.
Wenn er von Museen und Kunst spricht, kommt ein spontanes Lächeln über sein jungenhaftes Gesicht, dann werden seine Augen größer unter den graumelierten Haaren, die im Seitenscheitel über die Stirn fallen. Der schwarze Kordanzug und das schlichte weiße Hemd passen zu seiner ausgewogenen Art: stilvoll aber nicht schnöselig. Unser Gespräch steht ein bisschen unter Zeitdruck, weil er weiter zu einer Abendveranstaltung muss, aber er ist komplett bei der Sache, man spürt keinerlei Hektik.
Wenn mich also jemand fragen würde „Was ist der neue Direktor von Museion eigentlich für ein Typ, wie hat er gewirkt?“ wäre meine Antwort: „Ausgeglichen“.
salto.bz: Herr van der Heide, was ist ihre erste Erinnerung an einen Museumsbesuch?
Bart van der Heide: Den allerersten Museumsbesuch weiß ich leider nicht mehr, aber meine Eltern hatten ein großes Buch „101 Museen in Holland“ und jeden Sonntagmorgen suchte ich ein Museum raus, zeigte es meinen Eltern und wir besuchten es gemeinsam. Zum Glück ist Holland ein sehr kleines Land und die meisten Museen waren nicht allzu weit weg. Es gab mehrere Schlüsselerlebnisse in meinem Leben, in denen ein Museum eine große Rolle gespielt hat. Das ist einer der Gründe warum ich ein großer Museumsfan bin und überzeugt bin von der Wichtigkeit der Museen als Kulturstätten der Zukunft. Museen besitzen die Fähigkeit aus der Vergangenheit nach vorne zu zeigen und haben eine wichtige soziale Rolle.
Welches war ein solches Schlüsselerlebnis in einem Museum?
Ein wichtiges Schlüsselerlebnis hatte ich, als ich in Amsterdam Kunstgeschichte studierte. Ich habe einen sehr klassischen schulischen Hintergrund und wollte eigentlich Kunstrestaurator werden; während des Studiums ging ich aber durch Zufall in das Stedelijk Museum, das gerade eine Ausstellung mit dem Namen „Wild Walls“ zeigte. Zu sehen waren unter anderem Künstler wie Pippilotti Rist und Gary Hume. Das war eine wirkliche Offenbarung für mich, denn diese Ausstellung zeigte mir verschiedene gegenwärtige Zustände der Menschheit in einer Sprache, die ich als junger Student verstehen konnte. Mir wurde bewusst: genau hier, in der zeitgenössischen Kunst, findet die Diskussion, der Austausch der Gegenwart statt. Daraufhin habe ich meine Studienrichtung geändert, weg von der materiellen Restaurierung und Konservierung von Kunstobjekten und hin zur Kommunikation und Vermittlung von Kunst. Ein Museumsbesuch hat also mein Leben verändert und es war eine besondere Ehre und Freude, Jahre später in genau diesem Museum, dem Stedelijk, Chefkurator zu werden.
Es gab mehrere Schlüsselerlebnisse in meinem Leben, in denen ein Museum eine große Rolle gespielt hat. Das ist einer der Gründe warum ich ein großer Museumsfan bin und überzeugt bin von der Wichtigkeit der Museen als Kulturstätten der Zukunft.
Sie haben in Rotterdam, London, München und Amsterdam gelebt und gearbeitet. Sind sie bereit für das Leben in einer Kleinstadt, in der Sie eine stadtbekannte öffentliche Figur sein werden?
Natürlich ist es von der Einwohnerzahl eine Kleinstadt, aber Bozen ist eine Landeshauptstadt, repräsentiert offiziell eine breite Gemeinschaft und hat ein hervorragendes Theater- und Eventprogramm. Außerdem glaube ich, dass eine Kleinstadt auch förderlich für die künstlerische Debatte sein kann. In London oder Berlin mit ihren mehreren Millionen Einwohnern, gibt es eine große Kunstszene, dessen Protagonisten aber am Ende häufig unter sich bleiben. Künstler und Sammler tauschen sich vor allem untereinander aus und die Kunstszene wird durch einen gemeinsamen Diskurs geprägt, in dem viele Dinge schon selbstverständlich sind und nicht mehr in Frage gestellt werden. In der Kunstszene einer Kleinstadt wie Bozen hingegen gibt es keine Selbstverständlichkeiten und damit entsteht mehr Raum für eine Diskussion zwischen verschiedenen Perspektiven; es gibt mehr Stimmen außerhalb des Chors.
Sie sprachen von der sozialen Aufgabe eines Museums. Was ist der Auftrag eines Museums für zeitgenössische Kunst in einer Kleinstadt wie Bozen?
Das Gute an Museion ist, dass es eine Sammlung hat, also ein geschlossenes Element wo die Vergangenheit „gespeichert“ ist, aber gleichzeitig auch sehr an der Gegenwart orientiert ist und eng mit jungen zeitgenössischen Künstlern arbeitet, die neue Werke hervorbringen. Ich glaube die gegenwärtige Identität einer Gesellschaft entsteht durch den Versuch eine Brücke zu bauen zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Ein Museum kann dabei gut als Labor für den Prototyp fungieren, in dem wir experimentieren und uns fragen: „wie können wir unsere gegenwärtige Identität bilden, was nehmen wir aus der Vergangenheit mit in die Zukunft?“. Und in einem mittelgroßen Museum wie Museion kann diese Debatte aktiv und direkt mit jungen Künstlern und Denkern stattfinden.
Das Gute an Museion ist, dass es eine Sammlung hat, also ein geschlossenes Element wo die Vergangenheit „gespeichert“ ist, aber gleichzeitig auch sehr an der Gegenwart orientiert ist und eng mit jungen zeitgenössischen Künstlern arbeitet, die neue Werke hervorbringen.
„Identität“ und „Vergangenheit“ sind in Südtirol ein sehr sensibles Thema mit teils extremen Verfechtern auf beiden Seiten, die höchstwahrscheinlich nicht zur Stammkundschaft von Museion gehören. Wie kann Museion diese Leute erreichen und sich in den Diskurs einbringen, um wirklich Brücken zu bauen?
Das ist eine sehr wichtige Frage, aber auch eine Frage, die Zeit braucht. Wie in jeder anderen Stadt auch, muss ich zuerst die lokale Kultur und den Kontext kennenlernen. Denn: wenn man gute internationale Kontakte hat, ist es relativ einfach irgendein zeitgenössisches Ausstellungsprogramm zu machen; aber die eigentliche Herausforderung ist, ein zeitgenössisches Programm zu machen, das auch im lokalen Kontext eingebettet und relevant ist. In einem Museum darf es nie nur eine Version einer Geschichte geben, es müssen immer mehrere Perspektiven erzählt werden. Das ist das spannende an der Arbeit mit jungen Künstlern: sie bieten uns mehrere Versionen einer möglichen Zukunft, sie hinterfragen die gegenwärtige soziale Ordnung, sie experimentieren und stellen unbequeme Fragen. Deshalb werde ich in meinem Programm nicht nur Künstler und Denker bringen, die alle die gleiche Erzählperspektive haben, sondern es soll ein Podium sein, in dem viele verschiedene Sichtweisen zu Wort kommen, in der jeder angehört wird, aber auch den anderen zuhört. Das ist der wirkliche Austausch, der nötig ist und das ist die soziale Verantwortung eines Museums für zeitgenössische Kunst.
Sie haben fünf Jahre in München gelebt?
Ja, und mir ist bewusst, dass es da einige Ähnlichkeiten und Kontaktpunkte mit Südtirol gibt. Meine Jahre in München waren bisher die intensivsten und inspirierendsten meiner Karriere. In München habe ich erlebt, dass Kunst noch eine Säule der Gesellschaft sein kann, dass die Leute neugierig auf Kunst sind und stolz darauf sind, wenn Kunst als eine Form der sozialen Entwicklung gefördert wird.
Ein Museum für zeitgenössische Kunst muss ein Ort sein wo die Menschen spüren, dass es in der Kunst aber auch generell im Leben, keine Fragen gibt, die man nicht stellen darf.
Einer der Schwerpunkte von Museion lag in den vergangenen Jahren auf der weiblichen Kunst. Was wird der Fokus von Museion unter Ihrer Leitung sein?
Ich habe schon viele Ideen, aber mein Programm werde ich erst im Juni nächsten Jahres vorstellen. Die kommenden Monate werde ich dafür recherchieren, damit es nicht nur irgendein zeitgenössisches Programm ist, sondern eben auch für die lokale Bevölkerung eine Relevanz hat. Ich will ein Programm machen, auf das die Leute stolz sind, bei dem sie sich angesprochen und willkommen fühlen und das sie inspiriert. Dafür muss ich erst den Kontext erforschen. Nur so kann ich dann ein Programm formulieren, das die lokale Diskussion fördert und bei dem die Leute sich angesprochen fühlen.Ich bin offen und lasse es auf mich zukommen, bis zu meinem Antritt im Juni werde ich jetzt erst einmal den Umzug nach Bozen machen und anfangen hier zu leben, Italienisch lernen, die Leute und die lokale Kunstszene kennenlernen.
Ich habe gelesen, dass Sie Museion incognito besucht haben bevor Sie sich beworben haben. Was war ihr erster Eindruck?
Ja, ich war überrascht, wie viel persönliches Engagement jeder Angestellte im Museion gezeigt hat. Das ist keine Selbstverständlichkeit in einem Museum. Ich wurde als Besucher gut empfangen und willkommen geheißen, schon beim Verkauf der Eintrittskarte wurden mir ein paar Informationen zur Ausstellung gesagt, in der Ausstellung selbst waren dann die Aufsichtspersonen, die gefragt haben, ob ich Fragen habe usw. Besonders wenn man abstrakte, hermetische Werke ausstellt, ist es wichtig, die Besucher einzuladen und anzusprechen. Es ist sehr wichtig auch solche Kunst zu zeigen, die die Leute nicht auf Anhieb verstehen. Aber es ist umso wichtiger ihnen zu sagen, dass es in Ordnung ist sie nicht zu verstehen, dass das vielleicht sogar der eigentliche Sinn der Sache ist. Ein Museum für zeitgenössische Kunst muss ein Ort sein wo die Menschen spüren, dass es in der Kunst aber auch generell im Leben, keine Fragen gibt, die man nicht stellen darf.
Ahoi und Holladio, Herr Bart
Ahoi und Holladio, Herr Bart van der Heide! Willkommen im Museion!
... "Deshalb werde ich in
... "Deshalb werde ich in meinem Programm nicht nur Künstler und Denker bringen, die alle die gleiche Erzählperspektive haben, sondern es soll ein Podium sein, in dem viele verschiedene Sichtweisen zu Wort kommen, in der jeder angehört wird, aber auch den anderen zuhört. Das ist der wirkliche Austausch, der nötig ist und das ist die soziale Verantwortung eines Museums für zeitgenössische Kunst."
Möge das Vorhaben gelingen!