Culture | Salto Afternoon

Welt in Schieflage

Anna Gschnitzer und Franui lassen die Murmeltiere aus Fanes wieder aus den Erdlöchern kriechen. Ihr Stück schwebt auf dem Teppich der Erinnerung in eine unsichere Zukunft
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Foto: Cordula Treml

„Die Geschichten von Fanis sind in einem Zusammenhang entstanden, dessen Zeit uns nicht mehr bekannt ist, dessen Ort unwichtig ist. Es sind Geschichten von der Zeit vor der Zeit und von einem Ort vor dem Ort, den sie benennen. Sie erzählen das Immergleiche, was alle Geschichten erzählen: Sie erzählen vom Werden und Vergehen, von Erde, Wasser, Wind und Feuer“, schrieb die 1997 verstorbene Schriftstellerin Anita Pichler. Ihr Buch Die Frauen aus Fanis erschien 1992, ein Jahr später gründete sich (ein paar Täler weiter), im Osttiroler Villgratental, die Musicbanda Franui. Sie war in den vergangenen Jahren mehrmals im Stadttheater Bozen zu Gast und feiert an drei Tagen im August 2023 auf der Unterstalleralm (Innervillgraten, Osttirol) auf über 1600 m Meereshöhe ihr 30-jähriges Jubiläum. In Bozen spielen sie noch bis 19. Februar eineinhalb Meter unter dem Bühnenboden und begleiten für das Publikum des Auftragswerks Fanes mit einem (ob der Tragik) gewohnt ansprechenden Soundkostüm durch die trübe, aber absolut souverän erzählte Geschichte, der im Wipptal aufgewachsenen Autorin Anna Gschnitzer
 

sie saßen schwer  
auf der erde und  
schickten die wasser los und 
die steine


Anna Gschnitzer hat sich von Anita Pichlers Die Frauen aus Fanis inspirieren lassen und gemeinsam mit Franui ein zeitloses und zeitnahes Bühnenschauspiel entworfen, das – am äußersten Rand begleitet von Murmeltieren – aus der mythischen, archaischen, geheimnisumwitterten Vergangenheit, über eine angsterfüllte und selbstquälerisch neigende Gegenwart, in die ausweglose Zukunft führt. Immer wieder fallen (und entfallen) Erinnerungen. Die Schauspieler*innen sind zusammen auf der zunächst engen Bühne, kleben aneinander und quasseln synchron, oder gehen sich auf den schmalen Wegen wie Wahnsinnige aus dem Weg – direkt hinein, in die herbeinahende Katastrophe. Gschnitzer und der Regie (Cilli Drexel) gelingt es mit faszinierender Schwere, den alten Fanes-Stoff in das aktuelle Kleid der Klimadebatte zu hüllen. Es werden ferne und nahe Szenarien zu einer schaurig-schönen Blase verwebt, die sie gnadenlos auf die Zuschauer*innen einprasseln lassen. 
 


Sie (Marie-Therese Futterknecht), die Frau, die einst als Kind, ihr „gesicht ins moos drückte“, ihre „ohren an die steine“ und ihre „füße  in den eiskalten see“ tauchte, kommt nach Jahren in der Großstadt, als junge Mutter wieder an den Ort ihrer Kindheit. Was sie vorfindet ist eine sich immer düster entwickelnde und von alten Erinnerungen getränkte Bilderflut, die mittels stark gesetzter Monologe, Dialoge und Lieder einem erschreckend apokalyptischen Ende entgegeneilt – einengend, ja erdrückend, nehmen die kunstvoll und anspruchsvoll vertonten Klangbilder die Darsteller und das Publikum an den Händen, ziehen sie mit, Richtung Weltenuntergang. Immer wieder versucht Er (Lukas Spisser), Sie auf den Boden der Realität zurückzuholen. Doch dieser Boden ist schon längst ein schleimiger Sumpf. Alles was verspielt werden konnte, ist schon längst verspielt. 
 


Mit dem Besuch in einer Pension, nimmt das heile Unheil für Sie gleich zu Beginn seinen Lauf. Im Austausch mit der alten blinden Chefin (Gerti Drassl), den kindsköpfig gezeichneten Zwillingsmädchen (Viktoria Obermarzoner und Jasmin Mairhofer) und dem notorisch-motorischen Angestellten (Markus Weitschacher) finden sich im fabelhaft auskostümierten (Janine Werthmann) Handlungsstrang immer wieder poetisch formulierte spitze Zurufe in eine (volks-)dümmlich verkommene Tourismusbranche, welche sich mit allen Mitteln über Wasser halten will – dabei ist einerseits kein Trinkwasser mehr zu haben, anderseits dringt das edle Gut unaufhaltsam von der Bühnendecke ins Bühnengeschehen ein, in eine zerstörte Welt, die allmählich in sich zusammenfällt. 
 

das mädchen ging zu den murmeltieren 
die ihre verwandten waren  
und gab ihnen ein versprechen  


Wie kongenial sich zunächst weit voneinander entfernte Welten – ob künstlerisch, geographisch, historisch – an einem Punkt treffen können und den Weltuntergang für einige Minuten vergessen lassen, gelingt in einer traumhaft schönen Song-Szene (Isa Wiss), die einen glauben macht, man würde mit der Sängerin Björk, mit Feen und Wichteln über isländische Moose in unterirdische Fanes-Höhlen eilen, um sich dort – ein uraltes ladinisches Lied singend – vor den grausigen Vorgängen der von Menschen kaputtmachenden Welt zu verstecken. Alles in allem ein wunderbar, melancholischer Theaterabend.