Politics | Brüssel

Brüssel im März 2016

Gedanken zu den Anschlägen in Brüssel
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Seit 25 Jahren mache ich im Winter eine Woche Ferien in Brüssel. In dieser Zeit hat sich meine Wahrnehmung für diese wunderbare Stadt geändert, ich habe sie besser kennen gelernt, habe ihre so verschiedenen Viertel zu unterscheiden gelernt, habe ihre Kuriositäten gesehen und gehört, bin einfach irgendwie und ganz ein bisschen in Brüssel zuhause geworden.

Aber auch die Stadt selbst hat sich geändert. Sie ist größer geworden, geografisch, baulich, auch von ihrem internationalen Stellenwert. Es sind noch in den Neunziger-Jahren ganze Stadtviertel abgerissen worden, um das Europa Viertel zu errichten. Da standen vorher schöne, altstädtische Viertel, mit engen Gassen und schiefen Häusern, die Bagger haben sich in diese Bauten hineingefressen, haben große Löcher gegraben und es sind riesige Gebäude entstanden, um die Verwaltung des Vereinigten Europas unter zu bringen. Dabei ist die eigentliche Verwaltung der EU nur ca. 25.000 Beamte groß: viel größer sind die Heerscharen der Lobbyisten großer Firmen, die stets mit Inbrunst und viel Geld versuchen, die europäischen Gesetze so werden zu lassen, dass es ihnen gut tut. Den Firmen, versteht sich!

 

Aber Brüssel hatte sich schon in den Jahrzehnten vorher sehr geändert, war immer eine Stadt in Veränderung gewesen: Von der habsburgischen Metropole zur flämischen Provinzstadt und  zur Hauptstadt des neuen Königreiches in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Dann war es auch die Hauptstadt eines Kolonialreiches, wo König Leopold II. der persönliche Eigentümer der Kolonie Kongo war! Persönlicher Eigentümer! Nicht der Staat Belgien, nein, die Person des Königs war der Eigentümer und schreckensreiche Herrscher des Belgischen Kongo. Dort wurden die Bodenschätze ausgebeutet, um die Pracht des noch jungen Belgien zu finanzieren. Die Kongolesen wurden versklavt und in die Minen geschickt und wer aufgemuckt hat, dem wurden die Gliedmaßen abgehackt. Im großen Afrikamuseum in Tervuren waren bis ins mittlere 20. Jahrhundert ausgestopfte menschliche Körper der Unterdrückten ausgestellt bzw. in den Kellern gelagert! Nach der Befreiung des Kongos sind dessen Bewohner aber nach Belgien gekommen, ins Land der ehemaligen Beherrscher. Es haben sich in Brüssel ganze Viertel gebildet, wo ein Unbedarfter nicht hätte wissen können, ob er in Europa oder eben in Afrika sei! Und doch: es war ein friedliches Nebeneinander und man hatte den Eindruck, die Königsfamilie selbst hielte ihre schützende Hand über manche schwarzafrikanische Straße in unmittelbarer Nachbarschaft zum Königspalast! Vielleicht als eine minimale Wiedergutmachung der Missetaten der Vorgänger.

In anderen Vierteln sammelten sich eher Maghrebiner, in wieder anderen alle Völker des sich immer mehr vereinigenden Europas. Und das immer zusätzlich zu den Skurrilitäten des an sich schon so fragmentierten Brüssels, der Stadt mit zwei Grundwelten, der flämischen und der wallonischen. In Brüssel gibt es flämische Viertel, da ist Französisch verpönt und wird auch nicht von offizieller Verwaltungsseite gesprochen, nein, hier ist flandrische Erde, hier reden wir Flämisch! Auch, wenn mehr als die Hälfte des Viertels französisch spricht, der geografische Bezirk entscheidet! Umgekehrt gibt es die wallonischen Viertel, wo sich das Ganze mit umgekehrtem Vorzeichen abspielt: Alles Französisch, nichts flämisch! Nur einige Stadtbezirke gelten als zweisprachig, und dort sind dann auch alle amtlichen Verlautbarungen und Anschläge in beiden Landessprachen ausgeführt. Die Hauptstadt Europas, des Kontinents der vielen Völker und Sprachen, segmentiert sich selbst inbrünstig in ethnische Bezirke mit peinlicher Beachtung der jeweiligen Regeln und unendlicher Sturheit dem Anderssprachigen gegenüber! Heiliges Babylon!

 

Dabei ist diese Stadt doch so schön! Sie hat die größten Parks wie den Foret de Soignes und den Park von Tervuren, sie hat Flüsse und Kanäle, die baumbereiht die Stadt durchziehen, sie hat noch die prachtvolle Altstadt aus der flämischen Renaissance, den Klassizismus des jungen Königreichs des 19. Jahrhunderts, die Jugendstil Villen der vorletzten Jahrhundertwende, die spannenden Bauten der 20er und 30er Jahre, wie die Kirche Koekelberg, und schließlich die Monumentalbauten der EU, die heute ein ganzes Stadtviertel ausmachen. Dazwischen immer wieder Gegenden, wo die kleine Villa vorherrscht, nordische, kleine und unendlich gemütliche Einfamilienhäuser in dunkelgrünen, gepflegten Gärten gelegen.

 

Heute, am 22. März, hat sich Brüssel wieder verändert. Es hat einen Bauchschuss ab bekommen, nicht einen tödlichen, aber einen, der große Wunden aufreißt und so Vieles, so unendlich Vieles dieser wunderbaren Stadt verletzt hat und ins Wanken bringt. Dieser Schuss hat das Gift des Misstrauens über diese - wirklich im schönsten Sinn des Wortes - multikulturelle Stadt verspritzt! Wie kann man heute als „Weisser“ noch nach Molenbeek fahren, ohne scheel angeschaut zu werden? Und wie schauen wir Molenbeek an, dieses afrikanische und so lebensfrohe Stadtviertel mitten im Herzen der Hauptstadt Europas? Im Herzen des Kontinents der Demokratie, der Menschenrechte, der Philosophen, der Geschichte, wo aus Kriegen und Rassismus hätte genug gelernt werden können! Ich habe den Markt in Molenbeek fotografiert, habe kalkuliert, den Apparat aus der Hand geschlagen zu bekommen; es hat sich dann alles auf einen wütenden Ausruf „ca c`est interdit!“ beschränkt, aber ich war gewarnt: Hier darfst Du nicht tun, was Du willst – hier herrscht ein anderes Gesetz! Hier herrscht aber auch Angst, als mitverantwortlich für alles zu gelten, was im November in Paris und jetzt eben auch in Brüssel selbst passiert ist! Das war die Rache für die Festnahme von Salah Abdeslam! War es Molenbeeks Rache? Oder war es die Rache all jener, die zwar seit Jahren, seit Jahrzehnten, seit Generationen in Europa leben, aber nie Europäer geworden sind? Nicht geworden sind, weil sie in Ghettos mit extrem hohen Arbeitslosenraten aufgewachsen sind, mit eigenen Gesetzen, eigenen Sprachen, sich selbst abgrenzend, aber ebenso auch ausgegrenzt werdend von der elitären Einwohnerschaft der  ehemaligen Gastländer, die nun aber ihre Heimatländer geworden sind. Gleichzeitig ist die Welt aber vernetzt worden und die Verbindung zu den ehemaligen Herkunftsländern ist über das Smartphone in jedermanns Hand: Ein Klick, und ich bin in Syrien, in Tunesien, in Marokko, in Ägypten oder Palästina oder Israel. Die schrecklichen Nachrichten aus diesen Ländern, wo noch viele Verwandte, Freunde, Bekannte der jetzigen Europäer leben, kommen in Echtzeit ins Blickfeld und in den Kopf der Menschen, die von dort abstammen und herstammen und lösen in den Köpfen Schmerzen aus, große Schmerzen und Sorgen und Ängste, alle nicht artikulierbar, weil man nie gelernt hat, sich zu artikulieren! In welcher Bidonville lerne ich ein gepflegtes, rationalisierendes Europäisch sprechen? Und doch sehen diese Menschen, die Jungen vor allem mit ihren Handies, wie die Revolutionen im Maghreb und im nahen Osten schief gelaufen sind; wie schon wieder neue Diktatoren und Militärs sich nach oben geputscht haben und die zarte Pflanze der Veränderung zertreten haben! Dazu kommen jetzt seit einigen Jahren und immer stärker werdend die Bilder und oft auch eigenen Erlebnisse der Fluchten nach Europa: Erst übers gierige Mittelmeer, das so viele  Flüchtende verschlungen hat, dann über das als zivilisiert geglaubte Osteuropa, das sich dieses Rufes als unwürdig erwiesen hat und jetzt über die berüchtigte Balkanroute, durch Länder, die selbst noch nicht ihren Weg nach Europa zu Ende gefunden haben und unfähig sind, mit diesen Menschenmengen gerecht und würdig umzugehen!

Und all diese Bilder, Eindrücke, Erzählungen und Leidensgeschichten landen an der omnipräsenten Empfangsstation in den Händen der jungen Menschen in Europa, die sich plötzlich mittendrin in den Krisen der bislang weit entfernt geglaubten Konfliktherde wieder finden.

Ich weiss nicht wirklich, was dann zu den Reaktionen in den Herzen und Köpfen der jungen Menschen führt, dass sie so schreckliche Taten verüben, wie in Paris und Brüssel. Es mag sein, dass solche überfrachteten Hirne empfänglich sind für fanatische Lehren, für absurde Theorien von einer als Religion getarnten Hybris und Allmächtigkeit, von göttlicher Bestimmtheit, die die Richtigkeit des Tuns impliziert.

Ich denke mir nur immer: Kann man es als aushalten, dass es in den betroffenen Herkunftsländern seit vielen Jahrzehnten brutale Diktaturen gibt, dass es nie enden wollende Kriege, Bürgerkriege gibt, die die Länder materiell und geistig auszehren, zerstören, alle Perspektiven auf ein besseres Leben zunichte machen, eine Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit erzeugen, die von Marokko über Ägypten bis in die Türkei reichen und überall  blinde Wut und Hass erzeugen? Ist es da verwunderlich, dass Menschen sich von solchen Hasspredigern und Verrückten einfangen lassen und sich zum bewaffneten und mörderischen Terrorismus verführen lassen? Dass dieser Hass sich auf alles richtet, was „da oben“ ist? Und oben sind eben wir, die wir alles haben, nicht nur den Frieden, auch das Geld, den Wohlstand, das Kapital, das Land, die ganze Erde. Sie gehört uns wenigen, grausam Privilegierten. Aber – und das wissen diese Unglückseligen eben auch - unser überbordender Reichtum stützt sich auf die gewissenlose Ausbeutung der Welt!! Nicht mehr so offensichtlich wie das König Leopold II. getan hat, nein, heute subtiler, dafür aber umso effizienter und einschmeichelnder.

 

Die österreichische Innenministerin Mikl-Leitner hat verlautbaren lassen, dass wir unseren Lebensstil nicht ändern werden, denn dann hätten die Terroristen erreicht, was sie wollten!

Wollen wir unseren Lebensstil wirklich nicht ändern? Wollen wir, die Reichen der Welt, diese weiter so unbekümmert und unreflektiert ausbeuten? Wollen wir wirklich unseren Energieverbrauch so hoch belassen, wie er ist? Wollen wir wirklich bis in alle Ewigkeit die Ressourcen der Welt zu uns herüber absaugen, nicht sehen wollend, dass dann natürlich die Menschen in den ausgesaugten Ländern weggehen müssen? Weggehen vor Krieg und Nahrungsmittelknappheit? Wir erleben gerade eine der größten Völkerwanderungen in Europa, die es je gegeben hat. Und die hat wirklich nichts mit unserem Lebensstil zu tun? Nein, so naiv darf keine Ministerin sein, und auch wir nicht. Wenn uns dieser schreckliche Terrorismus wenigstens aus unserem Konsumrausch aufweckt, hat er zumindest etwas erreicht. Wenn auch auf abscheuliche Weise!

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Karl Trojer Sat, 03/26/2016 - 11:03

Wie wahr, dass unser Konsumrausch, unser Wegschauen vor der Beute-Gier der Hochfinanz, der immer noch gepriesene, in keinster Weise nachhaltige Neuliberalismus, Ablehnung und Neid erzeugen. Nachdem auch unser Wertesystem bei der Art wie Europa mit Flüchtlingen umgeht, Schaden leidet, erhalten religiös kaschierte Fanatiker regen Zulauf von an den Rand gedrückten jungen Menschen. Viele von uns feiern gerade Ostern, ein Hochfest der Liebe. Was wundert´s, wenn in zwischenmenschlichen Beziehungen so vieles schief läuft, wenn zu oft die Liebe darin kaum vorkommt ? Unsere Fernsehprogramme sind zu voll mit Krieg und Mord; bereits die Computerspiele für Kinder gehen locker mit "töte den Feind" um. Was wir dringend bräuchten, ist eine Rückbesinnung auf das Wesentliche, die Liebe.

Sat, 03/26/2016 - 11:03 Permalink
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Sepp.Bacher Sat, 03/26/2016 - 11:41

Danke Sigmund für diese schöne, differenzierte Stadtbeschreibung mit vielen geschichtlichen und sozialen Hintergrundinformationen. Danke auch für die abschließenden Reflexionen. Den folgenden Sätzen möchte ich noch einige hinzu fügen "Wollen wir wirklich unseren Energieverbrauch so hoch belassen, wie er ist? Wollen wir wirklich bis in alle Ewigkeit die Ressourcen der Welt zu uns herüber absaugen, nicht sehen wollend, dass dann natürlich die Menschen in den ausgesaugten Ländern weggehen müssen? Weggehen vor Krieg und Nahrungsmittelknappheit?" Der Hunger hängt auch mit der Wasserknappheit und den Ernteausfällen in Folge der Erderwärmung und des Klimawandels zusammen, die wir Industrienationen verschuldet haben und immer noch verschulden. Wir sind nicht bereit den so Klima-schädlichen Flugverkehr einzuschränken. Nein unsere Verantwortlichen wollen ihn noch forcieren, den Flugplatz ausbauen, den Menschen Lust auf fliegen machen. Den Kindern wird gelehrt, sie müssten schon als Kinder und jeder für sich im Kleinen anfangen, etwas für die Umwelt und das Klima zu tun. Die Landesverwaltung, die Handelskammer, der Unternehmerverband, die Tourismusindustrie, sie alle sind nicht bereit, den kleinen Beitrag zu leisten, den sie von der Bevölkerung und von den Kindern verlangen!

Sat, 03/26/2016 - 11:41 Permalink