Salto.bz: Herr Ahmad, wie ist aktuell die Lage in Ihrer Heimat, der Autonomen Region Kurdistan?
Salah Ahmad: Die Wirtschaftskrise hat uns vor zwei-drei Jahren überrascht. Sie begann mit dem Zerfall des Ölpreises, der uns besonders hart trifft. Denn als Nordirak von der Zentralregierung die Autonomie erhielt, bekam unsere Region auch die Hoheit über die Ölfelder. Unsere Regierung hat mit den daraus gewonnenen Einnahmen die öffentliche Infrastruktur, Häuser und Straßen aufgebaut, es war ja alles zerstört, nach dem Kuweitkrieg, nach Sadam Hussein.
Ihre Region hat sich modernisiert...
Man war dabei. Doch die Regierung hatte nicht daran gedacht, das Geld aus dem Öl zu investieren, um sich breiter aufzustellen, um andere Einnahmen zu sichern. Nun aber hat der Staat kein Geld mehr. Auch mit der Zentralregierung wurde damals nichts weiteres vereinbart: Bagdad zahlt kein Geld, Erbil hat kein Geld. Sogar die Gehälter der Beamten werden nicht oder nur zu kleinen Teilen bezahlt.
Es herrscht Armut?
Die Leute haben kein oder einfach zu wenig Geld. Arm sind sie vielleicht nicht. Es ist Stillstand. Wir haben sechs Parteien im Parlament, es herrscht Demokratie, aber es gibt auch zu viel Korruption. Unsere Hoffnung sind die nächsten Wahlen und dass der Aufbau weiter geht. Bei uns sind viele Menschen traumatisiert, als NGO wissen wir oft nicht, wie wir der Nachfrage nachkommen. Obwohl unsere Jiyan Foundation vom Amt für NGOs der Regierung Geld bekommen hat, sind auch bei uns diese Mittel ausgeblieben. Zum Glück bekommen wir Unterstützung aus dem Ausland, aus Deutschland, von der UNO, dem UNHCR, von privaten Spendern. Und, lassen Sie mich das sagen: Das Geld aus Südtirol kam genau zum richtigen Zeitpunkt, als wir nicht mehr wussten, wie weitertun.
Wie wurde dieses Geld investiert?
Wir waren dabei, Mitarbeiter zu Kunsttherapeuten auszubilden. Wir brauchten mehr kompetente Fachkräfte, weil die vorhandenen Mitarbeiter völlig ausgelastet waren. Die Mittel des Staates blieben aus – und genau dann kam der Kontakt mit Südtirol zustande. Mit der Unterstützung Ihres Landes konnten wir 28 Therapeuten ausbilden.
Wie arbeitet die Jiyan Foundation?
Wir führen zwölf Strukturen in den Städten Duhok, Erbil, Kirkuk, Sulaymaniyah, Chamchamal und Halabja, außerdem arbeiten wir in einigen Flüchtlingscamps und wir haben 24 mobile Teams, die in die Peripherie hinausgehen. Unser Angebot ist breit gefächert: Wir bieten Familien-, Kinder-, Jugendlichentherapie, Verhaltes- und Gesprächstherapie und natürlich Traumatherapie. In den Camps kommen frisch verletzte Flüchtlinge. Ihnen bieten wir andere Ansätze als Menschen, die bei sich zu Hause leben können und unsere Hilfe suchen. Die sind gefestigter.
Wer von dem IS gefangen gehalten und gefoltert worden ist, wurde körperlich schwer verletzt, aber seelisch vernichtet, gedemütigt, zum Dreck gemacht.
Was brauchen Menschen in den Flüchtlingslagern?
In den Camps leben schwersttraumatisierte Menschen. Wer von dem IS gefangen gehalten und gefoltert worden ist, wurde körperlich schwer verletzt, aber seelisch vernichtet, gedemütigt, zum Dreck gemacht. IS-Opfer sind meistens suizidgefährdet. Ich könnte viele Szenen unserer Patienten berichten, etwa wie es sich für einen Gefangenen anfühlt, wenn einer der IS ihm die Zigarette an die Backe drückt, bis diese durchbricht. Oder die brutalen Vergewaltigungen der Frauen. Oder das Zuschauenmüssen bei Hinrichtungen, Enthauptungen. Unsere am schwersten frisch traumatisierten Patienten leben im Camp von Mossul, das ist westlich nahe der syrischen Grenze.
Was ist das Schlimmste daran Gefangener der IS gewesen zu sein?
Die Gesetzlosigkeit, mit welcher der IS mit Menschen umgeht. Diese totale Willkür, nie zu wissen, was und wann kommt, liefert einen Gefangenen völlig aus. Es kommt meistens noch schlimmer als gedacht. Ohne therapeutische Hilfe gibt es mit einem solchen Trauma häufig kein normales Leben mehr. Wer trotzdem überlebt, aber sich seinen seelischen Verletzungen nicht stellt, weil es zu sehr schmerzt, den holen diese Schmerzen später ein.
Wie?
Viele, denen es mit aller Anstrengung oder dank ihrer Familie gelungen ist, danach wieder ein normales Leben aufzubauen, verhalten sich nicht mehr wie früher: Sie werden schlecht gelaunt, unberechenbar, jähzornig. Bis sie gemieden werden und niemand mehr mit ihnen zu tun haben will. Dadurch vereinsamen sie und werden erneut suizidgefährdet: Einsamkeit und Ausgeschlossensein lässt Wunden wieder bluten.
Auch die Kurden selbst haben viel Krieg hinter sich?
Fast jeder unserer Klienten hat zwei oder drei Traumata. Früher nannte man das Kriegsneurose, heute gibt es viel differenzierte Methoden, um sich den zu verschiedenen Zeitpunkten zugefügten Verletzungen zu nähern, um sie zu heilen. Bei manchen kommt man mit dem Gespräch in der Therapie nicht vom Fleck, manchmal nutzt dann die Physiotherapie oder eben die Kunsttherapie.
Wie finden Patienten und Patientinnen bei Ihnen Hilfe: In Europa zumindest ist es weitgehend tabuisiert zu sagen: Ich mache eine Psychotherapie?
Frauen suchen häufig von sich aus bei uns Hilfe. Sie sagen dann zu Hause: Ich gehe zum Arzt. Damit ist keine weitere Rechtfertigung nötig. Männer tun sich in der Tat aber schwer. Jene, die krank sind, suchen Hilfe und kommt zu uns. Wer einmal eine Therapie angefangen hat, kommt gerne wieder. Als ich kürzlich einem Patienten den Termin für diese Woche absagen musste, weil ich hier in Bozen bin, blickte er mich entsetzt an und fragte: "Es fällt schon nur ein einziges Mal aus?" Wer die Erleichterung kennt, seelische Wunden zum Heilen zu bringen, hört nicht auf, bevor sie geheilt sind.
Wie lange dauern die Therapien?
Die Patienten kommen ungefähr ein Jahr lang und die meisten sind dann auch tatsächlich geheilt. Bei manchen kommen später, mit etwas zeitlichem Abstand zur ersten Therapie, erneut Ängste auf und dann kommen sie wieder. Meist ist es dann mit wenigen Sitzungen getan. Mir fällt da ein Mann ein, der Jahre zuvor bei uns Patient war, seine anfängliche Suizidgefahr war überwunden. Jahre danach aber starb seine Frau. Er kam zu mir und sagte: "Ich würde ihr so gern folgen." Sein Schmerz löste sich wieder in Suizidfantasien auf. Nach einigen Sitzungen fand er seinen Mut weiterzuleben wieder.
Wer sind die Mitarbeiter der Jiyan Foundation?
Es sind an die 160, alles gut ausgebildete Iraker, Leute, die wissen, wovon die Rede ist, wenn die Patienten erzählen. Kaum einer unserer Mitarbeiter hat weniger als 200 Stunden Therapieerfahrung, wenn er bei uns anfängt. Wir achten auf absolute Kompetenz. Unsere Mitarbeiter teilen mit mir und der Stiftung die Mission, dass wir dazu da sind, Brücken zu bauen. Diesem Leid aus den vergangenen Kriegen gilt es ein Ende zu bereiten, damit es eine Zukunft gibt.
Diesem Leid aus den vergangenen Kriegen gilt es ein Ende zu bereiten, damit es eine Zukunft gibt.
Im Irak, auch im Norden, werden mehrere Sprachen gesprochen – wie gelingt die Kommunikation mit den Patienten?
Wir Kurden haben zwei Dialekte, Sorani und Kurmandschi, aber es gibt auch arabisch sprechende Patienten und je nach Gebiet noch weitere Dialekte und Sprachen. Jeder Mitarbeiter muss alle Dialekte und Sprachen beherrschen, die in der Struktur gesprochen werden, in der er arbeitet. Jeder spricht mit den Patienten immer in deren Muttersprache. Das ist unsere Voraussetzung: Über seine innersten Verletzungen kann man nur in seiner Muttersprache reden.
Wie halten Sie und Ihre Mitarbeiter diese doch großteils brutalen Erlebnisse und Schilderungen der Patienten aus?
Das wäre ohne professionellen Umgang nicht möglich auszuhalten. Wir haben alle modernen Mittel in unseren Strukturen eingerichtet: Jeder Therapeut nimmt regelmäßig an Gruppen- und Einzelsupervisionen teil. Wir haben eigene Supervisoren – eine Voraussetzung dafür, dass man unsere Arbeit über so lange Zeiträume machen kann. Ohne dafür zu sorgen, dass es unseren Fachleuten gut geht, könnten wir diese Arbeit nicht machen, weil uns die Mitarbeiter aufgrund von Burnout wegbrechen würden. Und es gibt für uns ja sogar immer mehr zu tun.
Traumatherapie ist in Europa erst seit wenigen Jahren möglich. Wie kommt es dazu, dass Sie im Irak auf so hohem Ansatz psychotherapeutisch arbeiten?
Das hat mit meiner persönlichen Geschichte zu tun: Ich bin nach Deutschland geflohen. Als Flüchtling habe ich mit meinem verbliebenen Geld Deutschkurse besucht. Ich dachte, ich würde nur kurz bleiben und wieder in den Irak zurückkehren. Dann begann ich aber eine Ausbildung und wurde Familien- und Kinderpsychotherapeut, dabei lernte ich die Traumatherapie kennen. Parallel wurde ich als Berater in Fragen zum Irak, zu Kurden und zu Flüchtlinge engagiert, auch als unabhängiger Beobachter bei Gerichtsprozessen. Anfangs von Amnesty International, von der Ärztekammer Berlin, inzwischen gibt es auch Anfragen der UNO des UNHCR und anderen internationalen Organisationen.
Sie sind zurück in den Irak, nach dem Sturz von Sadam Hussein?
Genau. Seine Politik war der Grund, warum ich flüchten musste. Mit der Gründung der Jiyan Foundation hatte ich das Ziel, das zu tun, was wir heute machen: Den Kurden zu helfen zusammenzuleben. Nicht nebeneinander. Unsere Therapien bauen Brücken für alle Kurden zueinander, egal welche Sprache sie sprechen oder welcher Ethnie sie angehören. Gekannt haben sie sich auch früher, aber sie haben miteinander nichts zu tun haben wollen. Da war es ein Einfaches, seine Vorurteile zu pflegen, aus denen dann auch bewaffnete Konflikte entstanden sind, die alle verletzt haben, eben auch seelisch.
Die Jiyan Foundation hat ein Standbein in Berlin?
Ja. Wir erhalten heute damit unser Netzwerk aufrecht, das inzwischen bis zur Bundesregierung und dem Bundestag reicht: Die Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth hilft uns Unterstützungen zu finden.
Der IS ist nicht fertig, wenn der Krieg fertig ist.
Sie haben 2015 sogar das Bundesverdienstkreuz erhalten…
Ja, das ist schön und hilft, weitere Unterstützungen für unsere Arbeit zu bekommen, auch einzelne Bundesländer helfen uns. Leider sind wir mehr denn je auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Wir brauchen viel Geld, sehr viel Geld. Unsere Therapien erhalten die Patienten kostenlos. Da wir das Vertrauen der Bevölkerung genießen, kommen wir der Nachfrage nur schwer nach. Aber auch die Behörden sind froh um unsere Arbeit: Wir erhielten als eine von fünf NGO's im Land einen offiziellen Dank – 7.000 NGO arbeiten im Nordikrak.
Welches Ziel verfolgen Sie mit der Stiftung?
Wir möchten ein Forschungsinstitut einrichten, das Kriegstraumata erforscht, weitere Therapien entwickelt und das Ausbildungen anbietet – ein Zentrum für den Nahen Osten, in dem es in Zukunft für alle zusammen viel zu tun gibt. Denn wir wissen: Der IS ist nicht fertig, wenn der Krieg fertig ist. Dann ist das ganze Programm immer noch in den Köpfen. Um nur ein Beispiel zu sagen: 1.400 kurdische Kinder sind vom IS entführt und zu Kindersoldaten ausgebildet worden. Die leben heute in IS-geführten Kinderheimen. Was kommt da auf uns zu, wenn der Krieg vorbei ist und diese Kinder morgen zurück in die Gesellschaft kommen? Man mag es sich nicht vorstellen.
Wer Leid zu mindern und
Wer Leid zu mindern und Frieden zu fördern hilft, verdient Dank und Anerkennung und Unterstützung.
Kommentare wie der von Johann Milchstraßenbürger sind mehr als überflüssig.