„Ist es nicht irgendwann genug?“
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Laute Worte sind die Sache von Franz Tutzer nicht. Dafür fallen sie umso klarer aus. Vor fünf Jahren hat der heute 70-Jährige die Pension angetreten – nach fast vier Jahrzehnten in der Schulwelt. 34 davon hat er als Direktor der Oberschule für Landwirtschaft in Auer verbracht. Im Ruhestand ist der gebürtige Grieser aber längst nicht. Er wirkt ehrenamtlich im Michael Gamper Werk und im Grieser Kulturheim mit. Genauso wie im Katholischen Forum Südtirol, einem Zusammenschluss 15 katholischer Organisationen, dem Franz Tutzer gemeinsam mit Sonja Reinstadler als Vorsitzender vorsteht.
Sein Studium der Agrarwissenschaften an der BOKU in Wien ließe es nicht vermuten, doch mit Franz Tutzer wirkt im Katholischen Forum und darüber hinaus ein kritischer Geist, den philosophische, theologische und politische Fragen genauso beschäftigen wie die danach, was ein gutes Leben – und wann genug ist.
Seit ihrer Berufung in den Vorstand Anfang 2020 lassen Tutzer und Reinstadler immer wieder mit selten pointierten Stellungnahmen aufhorchen – so kritisieren sie etwa im Sommer 2020 mit der Tageszeitung Dolomiten ein „Medium, das auf eine lange katholische Tradition zurückblickt“ und ihren Chefredakteur dafür, dem Trend „zu sprachlichen Entgleisungen, zur Herabwürdigung von Personen und zur Bedienung niederer Instinkte in vielen Medien“ zu folgen. Zuletzt warnten Tutzer und Reinstadler vor (rechts-)extremen Auswüchsen, die in Südtirol immer deutlicher zutage treten und mahnten Wachsamkeit an.
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SALTO: Herr Tutzer, Südtirol kann sich ausgiebig über DNA-Proben von Hundehäufchen oder einen „Skandal“ um 600 Euro Corona-Hilfe empören. Bei Phänomenen und Vorfällen deutlich beängstigender Dimensionen wie Gewalt an Frauen, erstarkendem Rechtsradikalismus oder Umweltzerstörung herrscht vergleichsweise großes Schweigen. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Kleinigkeiten die Menschen mehr bewegen und aufregen als große Problematiken?
Franz Tutzer: Das hängt sicherlich auch damit zusammen, was Menschen in ihrem persönlichen Umfeld wahrnehmen. Dazu kommt heute natürlich die Verstärkung durch Soziale Medien, die wie ein Treiber in der Steigerung der allgemeinen Erregung wirken. Es genügt, sich anzuschauen, was in den Foren verschiedenster Online-Medien von sich gegeben wird. Das ist eine Form der öffentlichen Stellungnahme. Früher blieben solche Äußerungen am Wirtshaustisch im Gasthaus, jetzt gelangen sie dank der elektronischen Medien in die ganze Welt hinaus. Genauso wie Gewalt ein großes Ansteckungspotential hat, ist auch die öffentliche Erregung ansteckend und führt zu Nachahmung. Und so steigert sich das immer mehr.
Sind wir uns dessen nicht bewusst?
Diskussionen um nicht so Wichtiges zu ent- und anzufachen empfinde ich manchmal auch als nicht ganz zufällige Ablenkungsmanöver, um Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen zu lenken und andere im Hintergrund zu halten. Und da spielen natürlich auch die Medien eine besondere Rolle.
Wir sehen es heute ganz deutlich: Mit „grüner“ Technik allein ist es nicht getan.
Kommt bei komplexen Themen auch eine – vermeintliche oder tatsächliche – Ohnmacht mit ins Spiel? Bei der Bekämpfung des Klimawandels etwa kann sich der Einzelne schnell machtlos fühlen.Es ist verständlich, dass man angesichts großer Herausforderungen eine Ohnmacht verspürt – weil man es persönlich nicht direkt in der Hand hat, etwas zu bewirken. Hier schwingt heute die große Frage der Verantwortung mit. Verantwortung wird ja immer sehr groß geschrieben und verantwortliches Handeln gerne eingefordert. Aber Verantwortung kann man im Endeffekt fast nur für das übernehmen, was in der Reichweite der eigenen Hände liegt. Natürlich haben die eigene Haltung und das eigene Handeln, die in unserer Lebensweise zum Ausdruck kommen, mit Verantwortung insgesamt zu tun. Deshalb bleibt ja angesichts der großen Krisen in unserer Gesellschaft die Forderung nach einer grundlegenden Änderung des Lebensstils so wichtig. Aber die Möglichkeit der individuellen Einflussnahme sieht man bei kleineren Themen. Dinge, die einem im Alltag begegnen, sind naheliegender als große Themen wie Klima oder Krieg.
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Vor einigen Monaten haben Sie und Sonja Reinstadler als Vorsitzende des Katholischen Forum Südtirol an die Landesregierung appelliert, in Sachen Klimapolitik „vom Reden ins Handeln zu kommen“. Sehen Sie die politischen Vertreter in der Verantwortung, auch bei großen Themen Verbindlichkeit herzustellen, sie anzugehen und dafür zu sorgen, dass die Menschen abgeholt und mitgenommen werden?
Ja, das ist aktuell die große Frage der Politik. Aber Politik ist bei uns noch immer ganz, ganz stark an Parteien gebunden und nicht an die Lösung großer Fragen. Man denke nur an den Fraktionszwang bei den Abstimmungen im Landtag. Kürzlich hat es einen Aufruf der Initiative für mehr Demokratie an die Mitglieder des Südtiroler Landtags gegeben, die Zusammenarbeit der politischen Kräfte untereinander und mit den Bürgern ernst zu nehmen und auch mal über den Fraktionszwang hinaus zu denken – gerade, wenn es um ganz wichtige politische Fragen geht. Dieser Ansatz wäre demokratiepolitisch auf jeden Fall ein wichtiger Schritt. Solche Überlegungen sind auch nicht neu. Die französische Philosophin Simone Weil hat schon in den 1930er Jahren einen kleinen Essay mit dem Titel „Notizen zur Abschaffung der politischen Parteien“ geschrieben.
Dem können Sie etwas abgewinnen?
Die Forderung, Parteien abzuschaffen, ist natürlich eine Provokation, aber hat etwas für sich und zwingt zum Nachdenken. Denn Parteien, so Weil, üben kollektiven Druck auf das Denken der Menschen aus, die ihnen angehören und sind vordergründig nur darauf bedacht, ihr eigenes Wachstum und ihre eigene Position zu stärken und nicht so sehr, ans Gemeinwohl zu denken.
Abgrenzung statt Zusammenarbeit?
Natürlich herrscht zwischen Parteien eine Konkurrenzsituation – wenn die eine wächst, werden andere geschwächt. Es ist zwar eine Illusion, heute zu denken, dass Parteien abgeschafft werden. Aber es könnte zu denken geben: Wie gehen wir mit der derzeitigen Situation im Land in der politischen Debatte um? Können wir zumindest in bestimmten Fragen über den Parteienzaun hinausschauen, um gemeinsam an der Lösung zu arbeiten? Auch wenn vielleicht einmal ein Vorschlag von der Opposition kommt? Solche Überlegungen wären höchst an der Zeit.
Angenommen, dass breit geteilte bessere Entscheidungen sind, könnte man es für gut befinden, dass nun fünf Parteien an der Regierung des Landes beteiligt sind?
Ich bin mir da in der Beurteilung nicht so sicher. Ich kann noch nicht absehen, wie sich die Dynamik in dieser Koalition entwickelt. Aber auch, dass es so viele Fraktionen im Landtag gibt – 13 an der Zahl – ist ein Novum. Etwas ist in Fluss geraten. Man hat ja auch gesehen, dass es nicht mehr ganz so selbstverständlich ist, wie Abstimmungen ausgehen.
Ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass Schule für alles zuständig sein soll.
Im Zuge der Bildung der neuen Regierungskoalition wurde gewarnt, protestiert – vor und gegen einen bislang beispiellosen Rechtsruck. Der hat aber genauso in der Opposition stattgefunden, mit Jürgen Wirth Anderlan, der keine Berührungsängste mit extremen Kräften wie der Identitären Bewegung und ihrer propagierten „Remigration“ hat. Trägt die SVP mit eine Verantwortung für die grassierende Radikalisierung – weil sie mit ihrer Partnerwahl zur Salonfähigkeit extremer Diskurse und Ideen beiträgt?Ich glaube nicht, dass auch nur eine der Koalitionsparteien solch radikale Ansinnen teilt oder anstrebt. Aber natürlich, salonfähig werden gewisse Dinge sehr wohl. Das ist meines Erachtens die größte Gefahr. Auf der anderen Seite hätte das Wahlergebnis vom Oktober auch andere Koalitionen möglich gemacht – aber es wurde dann eben die Entscheidung so getroffen, wie sie getroffen wurde. Das gilt es zu respektieren. Ich glaube, die SVP ist sehr wohl vorgewarnt, auch aufgrund der vielen Proteste und Stellungnahmen. Nichtsdestotrotz denke ich, dass es möglich sein wird, in dieser Konstellation zu arbeiten. Man wird die Landesregierung dann an den konkreten Taten messen müssen.
An den Worten genauso?
Natürlich, ganz bestimmt auch an den Worten! Worte sind nicht ungefährlich, sie schaffen ja auch Wirklichkeit.
Anfang März hat sich das Katholische Forum Südtirol – als erste und eine von wenigen Organisationen – klar gegen die drei Unterschriftensammlungen von „Liberi In Veritate“ und einen möglichen Besuch des Identitären-Chefideologen Martin Sellner in Südtirol positioniert. Es sei „notwendig, genauer hinzuschauen“, heißt es in der Stellungnahme. Passiert das zu wenig?
Nein, es passiert sehr wohl. Die Frage ist nur: Auf was schaut man hin? Und da komme ich auf die Eingangsfrage zurück: Mir scheint manchmal, dass auf bestimmte Dinge zu wenig hingeschaut wird. Oft ist der öffentliche Diskurs eingeschränkt, es fehlt eine Auseinandersetzung mit den größeren Themen, die uns auch im kleinen Land Südtirol bewegen. Das betrifft viele Bereiche, nicht nur das Klima, sondern genauso den Tourismus, den Verkehr oder die Landwirtschaft – alles Dinge, die im Grunde miteinander zu tun haben. Und es ist immer wieder dasselbe: Trotz aller Bemühungen um Nachhaltigkeit – ich würde dem Landeshauptmann durchaus abnehmen, dass er es mit der Nachhaltigkeit ehrlich meint –, dreht sich der öffentliche Diskurs weiterhin um mehr Wachstum. Wir können uns drehen und wenden wie wir wollen – auch wenn diese Nachhaltigkeitsziele immer wieder mit schönen Bildern präsentiert werden, sind sie im Grunde immer noch dem westlichen Wachstumsmodell unterworfen.
Trotz wieder neuer Rekordzahlen im Tourismus sehen Touristiker in Südtirol „noch Potential“.
Natürlich, es ist immer scheinbar noch mehr möglich und immer noch mehr erwünscht. Aber die Frage ist – und das ist für mich persönlich eine der großen Fragen, zu der eine politische Diskussion höchst notwendig wäre: Ist es möglich, dass eine Gesellschaft zu einem Konsens kommt, dass es irgendwann genug ist? Letztlich geht es um die Frage, was ein gutes Leben eigentlich ausmacht.
Die öffentliche Erregung ist ansteckend und führt zu Nachahmung.
Einer, der die Wachstumskritik geprägt hat, war der Wiener Philosoph und Theologe Ivan Illich, mit dem Sie sich eingehend beschäftigt haben.Ja, Illich „verfolgt“ mich sozusagen seit 50 Jahren. Ich habe ihn schon in den 1970ern in Wien, wo ich studiert habe, bei Vorträgen erlebt und bin ihm auch später öfter begegnet, das letzte Mal habe ich ihn in Città di Castello im Umbrien getroffen und auch kurz mit ihm gesprochen, bei der Fiera delle Utopie Concrete, die Alexander Langer 1987 initiiert hat. Illich war eine sehr charismatische Person, seine Bücher sind nach wie vor eine wichtige Inspiration und Orientierung.
Illich stand dem Fortschritt äußerst skeptisch gegenüber.
Meines Erachtens ist Illich der radikalste Kritiker der Moderne – ein katholischer Priester, das sollte man nicht vergessen. In den 1960ern geriet er in Konflikt mit dem Vatikan und hat in der Folge entschieden, seine priesterlichen Funktionen ruhen zu lassen. Laisiert, von seinem Priesteramt entbunden, wurde er aber nie. Noch am Ende seines Lebens hat er sich als „treuer, aber trauriger Sohn der Kirche“ bezeichnet.
Ivan Illich lebte von 1926 bis 2002. Nach seinem Zerwürfnis mit dem Vatikan – zu dem war es gekommen, weil Illich dessen Lateinamerika-Politik kritisierte – wurde er ab den 1970er Jahren als Kulturphilosoph und Kritiker der Moderne weltweit bekannt – mit Büchern wie „Entschulung der Gesellschaft“, „Selbstbegrenzung“, „Nemesis der Medizin“ und „Energie und Gerechtigkeit“. In einem Beitrag für das österreichische Magazin DIE FURCHE bezeichnet Franz Tutzer 2022 die Titel von Illichs Werken als „intellektuelle Provokationen“ – ihm sei es, so schreibt Tutzer, „vor allem um eine zentrale Einsicht [gegangen]: „die Notwendigkeit der politischen Begrenzung der ‚Werkzeuge‘. Illich fasst den Begriff ‚Werkzeug‘ sehr weit: Werkzeuge sind für ihn alle vom Menschen geplanten und projektierten Mittel, die zu einem bestimmten Zweck eingesetzt werden, also technische Gerätschaften und Anlagen ebenso wie Organisationen oder Dienstleistungsinstitutionen. Das unverhältnismäßige industrielle Wachstum der ‚Werkzeuge‘ und die darum organisierte Gesellschaft zerstören letztendlich die Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns und Lebens“.
Illich prägte den Begriff „Konvivialität“. Darunter verstand er einen lebensgerechten Einsatz des technischen Fortschritts, „das Gegenteil der industriellen Produktivität (…) Von der Produktivität zur Konvivialität übergehen heißt, einen ethischen Wert an die Stelle eines technischen Wertes, einen realisierten Wert an die Stelle eines materialisierten Wertes setzen“. Insofern lehnte Illich auch eine „grüne“ Wirtschaft ab, wie Tutzer im FURCHE-Beitrag aufzeigt: „Im Rahmen der UNO-Konferenz über Technik und Entwicklung in Wien im August 1979 warnte Illich hellsichtig davor, in der Entwicklung ‚sanfter‘ Technologien oder im Übergang zu erneuerbaren Energien das Heil zu sehen. Mit ‚grüner‘ Technik oder ‚ökologischem Management‘ allein ist es nicht getan. Damit kann weiterhin unbeschränktes Wachstum gefördert werden, wenn im Hintergrund das Menschenbild des homo oeconomicus entscheidend bleibt.“Wirken Illichs Thesen weiter?
Ja, durchaus. Seine Kritik an der Verschulung des Lernens, die Überlegungen zu einer konvivialen Gesellschaft, das Aufzeigen zunehmender Kontraproduktivität einer maßlos gewordenen Technik und mächtiger Institutionen oder seine Kritik an der Ökonomisierung aller Lebensbereiche sind nach wie vor aktuell. Es gibt viele interessante Denker, die sich auf ihn beziehen. Marianne Gronemeyer, Giorgio Agamben oder auch Ernst Ulrich von Weizsäcker – Sohn von Carl Friedrich von Weizsäcker –, der sehr stark im Nachhaltigkeitsdiskurs tätig ist. Er hat Illich 1979 als Gastprofessor an die Universität Kassel geholt. Inspiriert hat Illich auch Wolfgang Sachs und Alexander Langer, der mit ihm recht gut in Kontakt war. Bei Langer findet man viele Überlegungen, die direkt auf den Einfluss von Illich zurückzuführen sind.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel in seinen Thesen zur politischen Durchsetzbarkeit der notwendigen ökologischen Konversion: Alexander Langer warnte bereits in den 1980er Jahren vor einer verkürzten administrativen und technokratischen Umsetzung der ökologischen Einsichten. Und wir sehen es heute ganz deutlich: Mit „grüner“ Technik oder „ökologischem Management“ allein ist es nicht getan. Die frühe Skepsis Alexander Langers gegenüber dem Konzept des „sustainable development“, wie es im Brundtland-Bericht 1987 formuliert wurde, kann durchaus als ein Nachklang zu Illichs Mahnung zu verstehen sein, dass eine lebensfreundliche oder konviviale Gesellschaft nicht ohne Anerkennung von Grenzen und freudiger Genügsamkeit zu haben sein wird.
Sie kannten auch Alexander Langer.
Ja. Er war sicher einer der weitblickendsten politischen Persönlichkeiten unseres Landes. Und wer sich in die Enzyklika Laudato si´ von Papst Franziskus vertieft, wird vieles von dem wiederfinden, was Alexander Langer bereits Jahrzehnte vorher wahrgenommen und in den politischen Diskurs eingebracht hat, bis hin zur Notwendigkeit einer ökologischen Konversion.
Die Forderung, Parteien abzuschaffen, ist natürlich eine Provokation, aber hat etwas für sich.
Als Co-Vorsitzender im Katholischen Forum Südtirol finden Sie immer wieder kritische Worte für Vorgänge im Vatikan, etwa beim Nein zur Segnung homosexueller Paare oder zur Bestellung von Martin M. Lintner zum Dekan der PTH Brixen. Hadern Sie mit der Katholischen Kirche?
Die Kirche ist eine geschichtlich gewachsene Präsenz, eine Institution einerseits, die wir in ihrer Sündigkeit und Fehlbarkeit betrachten müssen. Trotzdem steht sie andererseits für eine reale Präsenz von etwas, was nicht zu unserer Welt gehört und von einer transzendenten Seite zeugt, gleichsam ein weltliches Zeichen einer jenseitigen Wirklichkeit. Für mich persönlich wird dieses Thema immer wichtiger: Wir leben zunehmend in einer rein diesseitigen Welt.
Wie meinen Sie das?
Wir Menschen glauben, mit unserer technischen und ökonomischen Verfügungsgewalt alles lösen zu können. Das hat auch Ivan Illich schon einmal so formuliert: Früher herrschte der Gedanke der Kontingenz vor – dass die Welt aus dem Nichts geschaffen wurde, in Gottes Hand liegt und von dieser gehalten wird. Inzwischen haben wir die Welt aus Gottes Hand entrissen und in unsere Hände gelegt. Und wir machen mit der Welt, mit unserem Planeten, was wir mit unserer Technik, unserer Ökonomie, unserer ganzen rationalen Macht imstande sind, zu tun. Die Folgen sehen wir.
Dabei besagt die Bibel doch: Macht euch die Erde untertan?
Auch. Aber es steht dort im Buch Genesis ein paar Abschnitte weiter auch, dass Gott den Menschen in den Garten Eden setzte, damit er ihn bebaue und behüte. Es gibt beide Seiten.
Worte sind nicht ungefährlich, sie schaffen ja auch Wirklichkeit.
Sie waren Zeit Ihres Arbeitslebens in der Schule tätig. Sehen Sie die Schule in der Pflicht, zur Bildung verantwortungsbewusster, kritisch denkender Menschen beizutragen und über fachliche Inhalte hinaus demokratische Werte zu vermitteln?Das ist ein großes Thema. Nun, es ist so: Bei allen gesellschaftlichen Problemen, ob es um Umweltschutz, Frieden oder sonst etwas geht, heißt es immer gleich: „Die Schule soll, die Schule muss …“. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass Schule für alles zuständig sein soll.
Warum?
Man kann nicht das, wofür wir Erwachsenen zuständig sind, an die Kinder und Jugendlichen delegieren. Das ist nicht richtig. Trotzdem bleibt es Aufgabe der Schule, die Dinge zur Sprache zu bringen und auch das Nachdenken darüber einzuüben. Vom deutschen Pädagogen Hartmut von Hentig stammt ein Satz, der mir während meiner Zeit an der Schule immer wieder durch den Kopf gegangen ist: „Die Aufgabe der Schule ist es, Kinder und Jugendliche in die Welt einzuführen, wie sie ist, ohne sie der Welt zu unterwerfen, wie sie ist.“ Heranwachsende offen zu machen für die Welt, wie sie ist, sie diese selbst deuten lassen, sie frei machen – so sehe auch ich die Aufgabe der Schule.
Eine große Aufgabe?
Eine riesengroße Aufgabe! In erster Linie für die Lehrpersonen. Nicht so sehr, dass Jugendliche überzeugt werden, bestimmte Meinungen und Handlungsweisen zu übernehmen, sondern dass sie das Nachdenken einüben – das ist etwas vom Schwierigsten. Und es gelingt zwar oft, aber nicht immer. Dennoch bleibt das für mich die zentrale Aufgabe der Bildungseinrichtungen, aller Stufen.
Seit 2019 sind Sie in Pension. Vermissen Sie die Schule?
Nein, eigentlich nicht. ich blicke jetzt mit großer Distanz, aber auch großer Dankbarkeit darauf zurück. Ich hatte eine lange und gute Zeit an der Schule
Haben wir irgendwann ausgelernt?
Das denke ich nicht. Und ich würde auch sagen, dass wir Menschen nicht nur lebenslang lernen sollen, sondern müssen. Die Frage ist nur: Was? Wobei ich den Begriff „lebenslang“ nicht gerne mag. „Lebenslanges Lernen“ – da schwingt das negativ besetzte „lebenslänglich“ mit. Aber ja, ich glaube, das Lernen sollte nicht aufhören. Selbst ein Abschluss an der Universität ist im Grunde nur ein Startpunkt.
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https://acrobat.adobe.com/id/urn:aaid:sc:EU:86e05db2-1f93-4960-892b-443…
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