Gesellschaft | Kommentar

"Die Gesellschaft" - ein Artefakt?

Die Gesellschaft ist tot. Spätestens im Jahr 2025 gibt es DIE Gesellschaft oder Gemeinschaft de facto nicht mehr. Der historische Dreischritt Modernisierung, Globalisierung und Individualiserung hat zur Implosion des Kollektivs geführt.
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"Die Gesellschaft" - ein Haufen Individuen oder mehr?
Foto: https://www.flickr.com/photos/mikekotsch/5698988197/
  • Gesellschaftlicher Klebstoff gesucht!

    Das Individuum konzentriert sich heutzutage vornehmlich darauf, sich selbst zu erforschen. Auf dem langen Weg hin zur scheinbaren Selbstfindung jagt es unermüdlich Antworten auf die Frage „Wer und warum bin ich?“ hinterher. Dieser „geozentrische“ Egoismus sabotiert die große historische Aufgabe, der unsere Vorfahren sich noch zur Gänze gewidmet haben: die Frage nach dem WIR.

    Wer die Geschichte durchleuchtet, findet mannigfaltige Konzepte kollektiver Identitäten, die im Lauf der Zeit entweder an Attraktivität verloren (Christentum), pervertiert wurden (Nationalismus/Patriotismus) oder von der Geschichte falsifiziert wurden (Kommunismus). Nachdem diese identitätsstiftenden Bezugspunkte pulverisiert worden waren, folgte der Siegeszug des Individuums. Der globale Kapitalismus trug nicht unwesentlich dazu bei. Tradierte Werte, Kulturtechniken und große gemeinsame Erzählungen wichen der Emanzipation des Einzelnen, der sich – blickt man auf die heutige Welt – als selbstsüchtiger, destruktiver Vandale entpuppt hat. Verstehen Sie mich nicht falsch: Individualität ist essenziell und ein hohes Gut. Jedoch darf sie die nötigen Verbindungen zwischen den Menschen nicht kappen. Weder der Kollektivismus noch der Individualismus dürfen das jeweils andere überlagern oder gar verdrängen. Sie müssen vielmehr ineinander eingebettet werden. Der logische nächste Schritt der genannten kollektiven Bezugspunkte wäre wohl eine Art Europäismus gewesen, der allerdings nach wie vor in den Kinderschuhen steckt. Eine europäische Identität wäre die nächste evolutionäre Stufe – eine gemeinsame Erzählung, die erlauben würde, Trennendes und Gemeinsames zu versöhnen, zu akzeptieren, ja gar zu feiern. Stand heute ist diese Perspektive erloschen.

    Doch es mangelt uns gänzlich an einer solchen „Klammer“, die uns dauerhaft als Gesellschaft zusammenhält, uns füreinander einstehen lässt. Diese Aufgabe, erfüllten früher eben – wenn auch in letzter Konsequenz oft mehr schlecht als recht – Nationalismus oder der Glaube. Ein großer Teil der aktuellen gesellschaftlichen Polarisierung hängt auch damit zusammen, dass schlussendlich keine Erzählung, kein Konzept mehr existiert, das die Einzelnen im Fall der Fälle ultima ratio eint. Das Trennende überschattet zuverlässig das Gemeinsame.

    Ein solcher höherer Zweck ist unabdingbar, will man eine intakte, solidarische Gesellschaft schaffen, die überdauert. Eine Gruppe von Menschen, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass alle für sich genommen hedonistisch ihren eigenen Zielen folgen, wird keinen Gemeinsinn entwickeln und auch kein funktionierendes Gemeinwesen halten können. Sie wird sich letztendlich in ihre Einzelteile zerlegen. In einer multikulturellen Welt, in der die genannten klassischen, historischen Bezüge keine Option mehr sind, ist es also an uns, einen neuen Minimalkonsens, ein neues Narrativ zu finden, unter dem wir uns geeint sammeln können – im Fall der Fälle. Denn blickt man auf die aktuelle Weltlage, könnte letzterer früher oder später eintreffen.

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