An der Grenze der Zugehörigkeit

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Staatsbürgerschaft ja – aber nur für Reiche und gut Integrierte? Doch in welche Gemeinschaft wird eigentlich integriert – und warum werden wir, sobald es um Staatsbürgerschaft geht, plötzlich alle zu staatstreuen Bürger:innen?
In der Essaysammlung Confini di classe. Disuguaglianze, migrazione e cittadinanza nello Stato capitalista, erschienen bei Feltrinelli, dekonstruiert die Philosophin Lea Ypi den gegenwärtigen Diskurs zu Migration und Staatsbürgerschaft auf radikale Weise. Eine Argumentation, die nicht zuletzt für Leser:innen in einer Provinz mit einer Geschichte wie jener Südtirols von besonderem Interesse sein dürfte.
Ypis zentrale These: Nicht die viel diskutierte Migration gefährdet den Wohlfahrtsstaat und die dafür notwendige Solidarität unter Bürger:innen – sondern das globale kapitalistische System. Ein System, das bestehende Ungleichheiten zwischen Bürger:innen innerhalb eines Staates ebenso wie zwischen Staaten nicht abbaut, sondern durch staatliche Institutionen zementiert und verschärft. Die angebliche Bedrohung von Wohlfahrt und Kultur durch Migration wirkt letztlich als Kitt – nicht zwischen Menschen, sondern zwischen Bürger:innen und einem Staat, der sich mehr um Kapital als um Gleichheit sorgt.
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Grenzen der Solidarität: zwischen Staats- und KlassengrenzenLea Ypi: Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics and Political Science (LSE). Foto: Wikimedia Commons
Auf knapp 70 Seiten, übersetzt von Eleonora Machiafava, analysiert die aus Albanien stammende, in Italien ausgebildete und heute in England lehrende Philosophin den zeitgenössischen Diskurs zu Migration und Staatsbürgerschaft. Dabei kommt sie zu dem Schluss: Sowohl rechte als auch progressive und linke politische Kräfte bauen auf ein Solidaritätsverständnis, das territoriale Grenzen an erste Stelle setzt.
Die Rechte beansprucht diese Logik offen – mit Slogans wie prima gli Italiani. Die Linke läuft demselben Grundsatz hinterher, wenn sie sich zwar für die Rechte aller in einem Staat lebenden Menschen ein, es aber gleichzeitig nicht wagt, die Grenzpolitik von Nationalstaaten oder supranationaler Institutionen wie der EU infrage zu stellen.
„Der Ausschluss von Migrant:innen am Arbeitsplatz wird durch den Ausschluss an der Grenze erst ermöglicht“, schreibt Ypi. Solange Solidarität zuerst den Staatsbürger:innen gilt – und erst danach jenen, deren Rechte vom kapitalistischen System beschnitten werden –, bleibt eine Zwei-Klassen-Gesellschaft bestehen: eine, die sich an Grenzen und nicht an Bedürfnissen orientiert.
„Der Ausschluss von Migrant:innen am Arbeitsplatz wird durch den Ausschluss an der Grenze erst ermöglicht“
Ypi plädiert stattdessen dafür, sich gar nicht erst entscheiden zu müssen – zwischen dem notleidenden Nachbarn oder der mittellosen Migrantin an der Grenze. Stattdessen fordert sie eine gemeinsame Front gegen die kapitalistischen Strukturen, die beide benachteiligen – und gegen die Staaten, die diese Ungleichheit sichern. Eine internationale Solidarität, die – im Sinne von Karl Marx – die soziale Klasse statt territorialer Grenzen ins Zentrum rückt.Ypi selbst räumt ein, dass eine solche Perspektive im Moment politisch schwer mehrheitsfähig ist. Doch gerade sie könnte linke und progressive Kräfte von der Reaktionslogik auf rechte Diskurse befreien – und ihnen ermöglichen, neue Formen von Zugehörigkeit und Teilhabe zu entwerfen. Formen, die sich bereits in Bewegungen wie „Make Amazon Pay“ oder „Fridays for Future“ andeuten.
Kulturelle Tests, nationale FiktionenWie Ypi aufzeigt, reicht selbst die empirische Evidenz über die positiven Effekte von Einwanderung auf Wohlfahrt und kulturelle Entwicklung kaum aus, um das verbreitete Narrativ zu entkräften. Viele Menschen halten - trotz Studien, die das Gegenteil behaupten - an der Vorstellung fest, dass jene, die außerhalb der eigenen nationalen oder supranationalen Loyalitätsgrenzen sozialisiert wurden, eine Gefahr für Wohlfahrt und Kultur darstellen – besonders, wenn sie nicht weiß, nicht reich und nicht hochqualifiziert sind.
Denn, wie Ypi fast ironisch anmerkt: Die Kriterien für Integration sind nicht für alle gleich. Wer Geld hat, kann sich in Ländern wie Italien eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung erkaufen. Wer gefragte Fähigkeiten besitzt, dem wird in Kanada, Dänemark oder Deutschland der bürokratische Hürdenlauf zur Staatsbürgerschaft erleichtert. Die Entscheidung, wer „dazugehört“, folgt dabei for allem einer Frage: der des Geldes.
Weil Migrationseffekte, die alle Migrant:innen betreffen, in öffentlichen Debatten schnell verhallen, wählt Ypi eine einen anderen Ansatz: Sie stellt die vermeintlich selbstverständliche Loyalität gegenüber dem Staat (und supranationalen Einheiten) infrage. Warum, fragt sie, gehen sowohl rechte als auch progressive und linke Kräfte davon aus, dass die Loyalität der Bürgerinnen und Bürger in erster Linie dem Staat gilt? Wo doch die den Staaten eigenen Konflikte - sowohl was die Verteilungsfrage als auch was die sprachlichen und kulturellen Grundlagen einer Nation betrifft - diese Loyalität zumindest infrage stellen?
Solidarität jenseits bestehender politischer InstitutionenGerade in einer Region wie Südtirol, in der sich die deutsche und ladinische Minderheit politische Rechte im italienischen Staat erst erkämpfen musste, lässt sich Ypis Argument besonders gut nachvollziehen: Warum wird plötzlich eine einheitliche Staatsidee als Grundlage für Solidarität zwischen Bürgerinnen und Bürgern vorausgesetzt? Warum müssen Zugewanderte für den Erwerb der Staatsbürgerschaft ihre Italienischkenntnisse zertifizieren (und in anderen Ländern kulturelle oder zivile Kompetenzen demonstrieren), wenn dieselben Kompetenzen von Menschen mit italienischer Staatsbürgerschaft – sagen wir, der deutschsprachigen Minderheit in Südtirol – zwar vielleicht erwartet, aber nie als Bedingung für politische Mitsprache eingefordert werden können?
Warum wird plötzlich eine einheitliche Staatsidee als Grundlage für Solidarität zwischen Bürgerinnen und Bürgern vorausgesetzt?
Bei den Sprachtests für Migrantinnen und Migranten wird nicht Deutsch oder Ladinisch verlangt, sondern “natürlich” Italienisch und die in anderen Ländern abgefragten kulturellen Kompetenzen stützen sich nicht auf die Regionalgeschichte vor Ort, sondern vom Staat als wichtig erachtete Kenntnisse und Praktiken. Plötzlich wird eine nationale Einheit behauptet, die es ohne die vermeintliche ‚Gefahr‘ von außen so gar nicht gäbe. Eine Einheit, durch die die sozial Schwächsten, die nativen und die immigrierten Arbeiterklassen, gegeneinander ausgespielt werden können.Ypi ruft insbesondere linke und progressive Kräfte dazu auf, sich daran zu erinnern, dass Solidarität historisch nicht unbedingt aus gemeinsamen politischen Strukturen entsteht. Viel mehr - und wer wüsste das besser als die deutsche und die ladinische Sprachgruppe in Südtirol -, entfaltet sich Solidarität dort, wo Menschen die Erfahrung von Ausgrenzung, Sprachlosigkeit oder ökonomischer Benachteiligung teilen. Aber auch dort, wo politische Aktionen und die dafür zur Verfügung gestellten Ressourcen zu einer gemeinsamen Befreiung führen.
Eine verschobene KlassenfragePraktiken wie Sprachtests, kulturelle Eignungsprüfungen oder finanzielle Zugangshürden zur Staatsbürgerschaft, so Ypi, erinnern an Zeiten, in denen Menschen, die nur Dialekt sprachen oder nicht in der Landessprache schreiben oder lesen konnten, von politischer Teilhabe ausgeschlossen waren. Damals entschied die soziale Klasse über Mitsprache – nicht die Staatsbürgerschaft. Heute entscheidet erneut die soziale Klasse über politische Mitsprache – diesmal an der Schwelle zur Staatsbürgerschaft.
Referendum am 8. und 9. Juni 2025Am 8. und 9. Juni wird im Rahmen eines italienweiten Referendums über fünf Fragen abgestimmt. Eine der Fragen betrifft den Zugang zur italienischen Staatsbürgerschaft:
Heute müssen ausländische Staatsbürger:innen mindestens zehn Jahre regulär in Italien ansässig sein (und eine Reihe von Kriterien erfüllen), um die Staatsbürgerschaft beantragen zu können. Diese Frist könnte über das Referendum verkürzt werden.
Gewählt wird am Sonntag zwischen 7:00 Uhr und 23:00 Uhr und am Montag zwischen 7:00 Uhr und 15:00 Uhr.
Lea Ypi: Wer oder was…
Lea Ypi: Wer oder was beherrscht heute tatsächlich die Welt, das ist doch die Frage.
Ist "Staat", sind einzelne Staaten in der derzeitigen Form überhaupt noch ein zeitgemäßes Modell, das in der Lage ist, Markt- und Sozialordnung demokratisch und selbstbestimmt zu organisieren?
Wie man, s.o., ein annektiertes Gebiet mit Natives durch einen fremden Staat mit der Situation von Zugewanderten gleichsetzen kann, sollte auch mal hinterfragt werden.
Da die (Super) Reichen immer…
Da die (Super) Reichen immer reicher werden, ist die Frage berechtigt, ob die Politik wirklich für den Bürger arbeitet.