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Ein Spaziergang mit Luciano De Crescenzo

Ein imaginärer Spaziergang mit Luciano De Crescenzo durch Rom: Wir sprechen über Kirchen, Philosophen und Vergänglichkeit, über die Globalisierung und darüber, warum die Menschlichkeit vielleicht nicht modernisiert, sondern bewahrt werden muss.
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Türklingel De Crescenzo in Rom
Foto: © Pasqualino Imbemba, 2025 – CC BY 4.0
  • Ein imaginärer Spaziergang mit Luciano De Crescenzo

    Ein spätnachmittägliches Licht fällt über Rom, als ich vor Via Tor dei Conti 35 stehe. Dort, wo er wirklich gewohnt hat, öffnet mir Luciano die Tür – hellblaue Augen, in denen sich wacher Humor spiegelt, weißes Haar, ein gepflegter Bart. Er trägt einen dunklen Anzug und eine bunt gemusterte Krawatte, die wie ein ironischer Farbtupfer wirkt. Sein Lächeln hat etwas Verschwörerisches, als wolle er sagen: „Andiamo, Pasqualino, ich zeige dir etwas.“

     

    Wir machen uns auf den Weg zum Pantheon. Der Weg ist kurz – kaum zwanzig Minuten –, doch mit Luciano wird jeder Schritt zu einer Geschichte.

     

    Schon nach wenigen Metern bleiben wir vor der Chiesa dei Santi Quirico e Giulitta stehen. Eine kleine Kirche, beinahe unscheinbar, aber voller Schichten von Geschichte. Luciano legt den Kopf schief, betrachtet die Fassade und sagt:

    Sai, Pasqualino… diese Kirche hat viele Leben. Gegründet im VI secolo, dann zerstört, wieder aufgebaut, sogar einmal umgedreht – dort, wo früher die Apsis war, ist heute die Fassade. Im 17. Jahrhundert hat man den Boden vier Meter angehoben, um sie vor den Überschwemmungen des Tevere zu retten. Nichts an ihr ist mehr wie ursprünglich – und doch steht sie noch.“

    Er fährt sich über den Bart. „Das ist Vergänglichkeit: nichts bleibt, wie es war – und gerade deshalb bleibt es. Weil es sich verwandelt.“

    Wir gehen weiter, vorbei an Touristengruppen. „Rom war schon immer lebendig“, sagt Luciano, „aber heute… heute ist es wie ein Topf, der zu lange kocht.“ Er deutet auf Menschen, die mit hochgereckten Smartphones posieren. „Sie glauben, Rom gesehen zu haben, nur weil sie es auf ihrem Bildschirm tragen. Sag mir: Wem gilt ein Selfie vor dem Pantheon?“

    „Sich selbst“, antworte ich.

     Luciano lächelt breit, seine Augen blitzen. „Ecco. Der Hintergrund ist nur Vorwand. So wie in der modernen Philosophie: große Systeme im Hintergrund – Strukturen, Theorien – aber vorne? Da steht der Mensch immer seltener.“ 

    Wir biegen in eine ruhigere Gasse ein. Luciano spricht nun leiser:

    „Bei den Griechen war das anders. In der pólis kannte jeder jeden. Philosophie war Gespräch auf der Agorà, auf der Piazza, nicht Abhandlung in der Bibliothek. Heute leben wir in Staaten, so groß, dass wir nur noch Nummern sind. Virtuell sind wir näher denn je – und real weiter voneinander entfernt. Wir sind nicht mehr da, wo wir sind.“

    Wir gehen an zwei jungen Leuten vorbei, die nebeneinander gehen, jeder ins eigene Telefon versunken. Luciano hebt die Hand: „Sie teilen den Bürgersteig, aber nicht den Moment.“

     

    Ein Stück weiter erzähle ich ihm, dass ich kürzlich sein Buch Storia della filosofia greca, medievale e moderna gelesen habe. „In dem Kapitel über die Sieben Weisen“, sage ich, „steht die Geschichte von Bias von Priene. Man bat ihn, auf einer Tonscherbe einen Spruch zu hinterlassen. Zunächst weigerte er sich, wollte nicht schreiben – am Ende tat er es doch und setzte nieder: ‚οἱ πλεῖστοι κακοί‘ – die meisten Menschen sind schlecht. Das war vor rund 3.000 Jahren, Luciano. Welchen Fortschritt haben wir als Menschen seither gemacht?“

    Luciano bleibt stehen, seine hellblauen Augen verengen sich, als prüfe er mich. Dann lächelt er verschmitzt.

    „Pasqualino… Sokrates hätte dich gefragt: ‚Τί ἐστι κακόν;‘ – Was heißt „schlecht“? – und dich so lange reden lassen, bis du merkst, dass das Wort nicht nur eine Eigenschaft beschreibt, sondern auch deine Erwartung an den Menschen. Vielleicht hat sich die Mehrheit nicht verändert – weder zum Guten noch zum Schlechten. Aber auch die Mehrheit der Guten gibt es noch. Und der Fortschritt? Der liegt nicht in der Statistik, sondern darin, was du selbst tust, damit deine Seite größer wird.“

    Er tippt mir leicht auf die Schulter. „Die Griechen haben uns keine perfekte Menschheit hinterlassen – nur Werkzeuge, um über die Menschheit nachzudenken. Den Rest müssen wir selbst erledigen.“

    Da öffnet sich der Blick, und das Pantheon steht zwischen den Häusern. Wir treten auf die Piazza della Rotonda, hinein in den Strom der Menschen.

    Im Inneren drängen sich Touristen, ihre Telefone hochgereckt, um das Schauspiel des Lichts einzufangen. Durch den runden oculus in der Kuppel fällt ein einzelner Strahl Sonnenlicht herab, wandert langsam über die gewaltigen Mauern und legt sich wie ein Fingerzeig auf den Stein. Jahrhunderte sind vergangen, doch dieses Spiel von Licht und Dunkel wiederholt sich Tag für Tag, als wollte es zeigen, dass auch das Ewige nur im Augenblick lebt.

    Luciano betrachtet die Szene, seine hellblauen Augen ernst. „Alles vergeht, Pasqualino. Rom. Die Erde. Selbst die Sonne. In fünf Milliarden Jahren wird sie sterben – und alles, was wir für ewig halten, wird Staub.“

    Ich runzle die Stirn. „Aber Luciano… vorhin bei der Kirche hast du gesagt: ‚Nichts bleibt, wie es war – und gerade deshalb bleibt es.‘ Jetzt sagst du, dass alles für immer vergeht. Ist das kein Widerspruch?“

    Seine Augen verengen sich, dann hellt sich sein Gesicht auf, als hätte er auf diese Frage gewartet. „Nein, Pasqualino. Es gibt zwei Ebenen von Vergänglichkeit. Die eine verwandelt – wie diese Kirche, die bleibt, weil sie sich verändert hat. Die andere löscht – wie die Sonne, die eines Tages nichts mehr wärmen wird. Gegen die kosmische Vergänglichkeit können wir nichts tun. Aber gegen die menschliche schon: Wir können das Gespräch führen, den Blick teilen, die Nähe bewahren. Das ist das Einzige, was uns wirklich bleibt – hier und jetzt.“

    Ich schweige einen Moment. Seine Worte hallen in mir nach, mischen sich mit meinen eigenen Gedanken. Ich wühle in mir selbst, frage mich, wo ich stehe, wo ich zuhause bin – und was mir fehlt. „Ich lebe in Südtirol, in Bruneck – ein angenehmer Rückzug. Aber Neapel… das fehlt mir manchmal. Trotz Globalisierung hat es noch etwas von sich bewahrt.“

    Luciano nickt, seine Augen bekommen einen weichen Glanz. „Ich habe Rom gewählt, weil mir Mailand zu kalt und Neapel zu warm war – im Sinne der Menschlichkeit. Aber Neapel…“ Er lächelt verschmitzt. „A volte penso addirittura che Napoli possa essere ancora l’ultima speranza che resta alla razza umana - Manchmal denke ich sogar, dass Neapel vielleicht die letzte Hoffnung ist, die der Menschheit noch bleibt.“ Er lässt die Worte wirken und fügt hinzu: „Weil Neapel – mit all seinen Fehlern – noch weiß, was es heißt, Mensch zu sein.“

     

    Draußen vor dem Pantheon strömen die Menschen über die Piazza. Luciano bleibt stehen, schaut mich an, und seine hellblauen Augen scheinen einen Moment lang selbst etwas von dem Sonnenlicht zu tragen, das durch den oculus gefallen ist.

    „Sai, Pasqualino… wir beide kennen die Informatik. Ich war Informatiker, bevor ich zum Schriftsteller und divulgatore wurde. Du bist es noch, mit 55 Jahren, mitten im Leben. Wir wissen beide, wie schnell sich Mittel, Werkzeuge, Technologien verändern. Modern sind wir in den Mitteln – aber nicht unbedingt in der Menschlichkeit. Die hat es heute schwerer, durchzudringen. Vielleicht sollte sie nicht modernisiert, sondern bewahrt werden – nicht als starre Tradition, sondern als etwas Lebendiges, das sich verändert, ohne sich zu verlieren.“

    Ich schaue ihn an und frage leise: „So wie diese Kirche?“

    Luciano nickt, seine hellblauen Augen lächeln. „Genau, Pasqualino. Nicht das starre Stehen rettet uns, sondern die Wandlung, die das Wesen bewahrt.“

     

    Er lächelt sanft, fast wehmütig: „La globalizzazione… man kann ihr nichts entgegensetzen, indem man die Zeit anhalten will. Aber man kann ihr etwas geben, das sie nicht zerstören kann: Menschlichkeit. Und die, Pasqualino, müssen wir verteidigen – nicht im Museum, sondern im Leben.“