Bischof Ivo Muser
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Gesellschaft | Fritto Misto

Hirte ohne Kompass

Mit seiner Fehlentscheidung im Fall Don Carli zeigt Bischof Muser: Grundlegende Eigenschaften eines Oberhirten gehen ihm ab.
  • Dass Bischof Muser im Fall Don Giorgio Carli einige grundlegende Sachverhalte von Anfang an nicht kapiert hatte, das war im Wochenmagazin FF bereits im vergangenen Jänner nachzulesen, nachdem das von ihm in Auftrag gegebene Missbrauchsgutachten in Bozen vorgestellt worden war. „Was besonders irritiert“, so Andrej Werth damals in der FF: „Erst durch ein Gespräch mit den Gutachtern wurde Muser klar, dass das Urteil über die Verjährung nicht bedeute, dass der Priester unschuldig sei.“ 

    Wer sich an dieser Stelle bereits ungläubig an die Stirn fasste – das Oberhaupt der Kirche in Südtirol hatte bis dahin also offenbar geglaubt, der Ablauf einer Frist käme einem Freispruch gleich, ja Don Carli sei als unschuldig anzusehen, weil er für seine durch das Gericht zweifelsfrei festgestellten (!) Taten nicht mehr strafrechtlich belangt werden kann – der hatte noch keine Ahnung davon, welche Auswüchse an Ignoranz und Empathielosigkeit der Bischof ein halbes Jahr später an den Tag legen würde. 

     

    Bischof Muser schaute betroffen und gelobte Besserung.

     

    Dabei hatte alles so vielversprechend ausgesehen: Satte 860.000 Euro hatte sich die Diözese das von einer renommierten Münchner Kanzlei in akribischer Kleinarbeit erstellte Gutachten kosten lassen. Es brachte tragische Fälle auf den Tisch, von der Kirche jahrzehntelang vertuscht, Bischof Muser schaute betroffen und gelobte Besserung: Täter seien versetzt worden, „nach dem Motto: aus dem Blick, aus dem Sinn“. Die Diözese müsse „alles tun, um das Leid der Betroffenen zu lindern, das geschehene Unrecht anzuerkennen und neues Leid zu verhindern.“ Und: „Als Bischof will ich den eingeschlagenen Weg fortsetzen und mit noch größerer Entschiedenheit vom Leid und Unrecht der Betroffenen ausgehen, ihr Umfeld, die Täter und das System in den Blick nehmen und Veränderungen anstoßen.“

    Hätte Bischof Muser das Gutachten in die Hand genommen und darin gelesen, anstatt es mutmaßlich auf seinem Nachtkastl verstauben zu lassen (zu dick? zu heavy das Thema?), der Wandel wäre vielleicht sogar gelungen, denn: Unzählige Male wird darin vor der unseligen Praxis des bloßen Versetzens des Täters oder Verdächtigen gewarnt, immer und immer wieder sei Versetzung die einzige Konsequenz gewesen: mit der Folge, dass es zu weiteren Fällen gekommen war. Unmissverständlich schreiben die Gutachter: „Vielmehr ist seitens der Diözese dafür zu sorgen, dass dieser [der Täter, Anm. d. Ver.] weiterhin in der Lage ist, einer anderweitigen sinnvollen Beschäftigung außerhalb der Seelsorge nachzugehen. Sollte sich eine solche im diözesanen Bereich nicht finden lassen, ist auch über zusätzliche Qualifizierungsmaßnahmen nachzudenken.“ 

     

    Don Carli war einzig aus Gründen der Verjährung nicht zu einer Haftstrafe verurteilt worden.

     

    Noch klarer kann man nicht formulieren, dass es Aufgabe des Bischofs war, einen Mann wie Don Carli, der einzig aus Gründen der Verjährung nicht zu einer Haftstrafe verurteilt worden war, für immer aus der Seelsorge zu entfernen. Aus Respekt vor den Opfern, zum Schutz der Gemeinde, und ja, auch zu seinem eigenen Schutz. Dass dies bis dato nicht so geschehen war (Carli war in der Zwischenzeit in Sterzing tätig), wird im Gutachten kritisiert; dass dies auch nach Vorlage des Gutachtens nicht nur nicht behoben, sondern sogar aktiv weiter betrieben wurde, indem Muser Don Carli mit 1. September als Seelsorger des Oberpustertals einsetzen wollte, brachte die Gutachter dazu, mit einer gängigen Praxis zu brechen: Normalerweise äußere man sich nach Abschluss eines Gutachtens ein Jahr lang nicht mehr dazu; die Diözese solle wohl Zeit finden, Fälle aufzuarbeiten und neue Leitlinien umzusetzen. 

    Im Falle der erneuten Versetzung von Don Carli aber sah sich Anwalt Ulrich Wastl im Interview mit Südtirol Heute genötigt, Stellung zu nehmen, so eklatant „falsch“ sei die Entscheidung des Bischofs: „Sie widerspricht allem, was wir empfohlen haben.“

     

  • Wozu diente das Gutachten, wenn man sich nicht daran hält? Um einen Sinneswandel vorzugaukeln, der Sympathiepunkte bringen sollte?

  • Wozu diente das Gutachten, wenn man sich nicht daran hält? Um einen Sinneswandel vorzugaukeln, der Sympathiepunkte bringen sollte? Um sich bei Menschen anzubiedern, die sich bereits desillusioniert von der Kirche abgewandt hatten? Um das Image vom verstaubten Macht- und Missbrauchsapparat abzulegen und sich als reumütige, sich ihrer dunklen Vergangenheit entschlossen stellenden Institution modern zu inszenieren? Was immer es war, es ging gehörig in die Hose. Die 860.000 Euro wären besser in karitative Projekte investiert gewesen, wenn man ohnehin nie vorhatte, sich an die Empfehlungen der Gutachter zu halten.

    Denn auch das Zurückrudern des Bischofs in der Causa geschah weniger aus Einsicht, denn aufgrund des dank Presseberichten und einem offenen Brief (der übrigens vor allem von Frauen unterschrieben wurde) aufgebauten öffentlichen Drucks. Deutlich macht dies die Art und Weise, wie Muser für seine Fehlentscheidung um Entschuldigung bittet – oder eben gerade dies nicht tut: „Wenn man sagt, das sei ein Fehler gewesen, dann gestehe ich diesen Fehler ein“, so zitiert ihn Rai Südtirol. „Wenn man sagt…“ und nicht etwa: Ich habe erkannt, dass ich falsch gehandelt habe. Kein Wort davon, dass er die Expertise der Gutachter missachtet hat, dass er vor kurzer Zeit noch selbst die Praxis des Versetzens kritisiert hat. Kein Wort davon, dass er mit der Entscheidung gehadert, sich nicht leicht getan hätte damit. Im Gegenteil: „Ich kann jetzt nicht so tun, als ob ich die Entscheidung mit schlechtem Gewissen getroffen hätte, als ob ich mir gedacht hätte: ,Wird schon hoffentlich gut gehen.‘ Überhaupt nicht.“ Wie viele Gedanken er dabei an das Opfer und mögliche zukünftige Opfer verschwendet hat, darüber gibt es nach so einer Antwort keinen Zweifel mehr. 

    Den Oberknaller aber liefert der Bischof mit der Ausflucht: „Es war auch niemand, der mir davon einfach abgeraten hat.“ Es drängt sich die Frage auf: Wen hat er denn gefragt? Denn davon ist doch auszugehen, dass man eine solch heikle Personalie nicht allein im stillen Kämmerlein beschließt, auch wenn man der Chef ist. 

     

    Ein Pragmatismus von geradezu bemerkenswerter Abgefucktheit.

     

    Beim Missbrauchsbeauftragten der Diözese, eigentlich ein naheliegender Gesprächspartner, wurde er offenbar nicht vorstellig, auch nicht bei der Katholischen Frauenbewegung, der Katholischen Männerbewegung, SKJ oder Jungschar: Sie alle hätten entsetzt abgewinkt. Der Pfarrgemeinderat Innichen, nun gut, der war okay mit der Entscheidung, aber die haben auch keine Priester, weshalb man den mehrjährigen, regelmäßigen  schweren sexuellen Missbrauch eines minderjährigen Mädchens schon mal zum Kavaliersdelikt herabstufen kann: Wer soll denn sonst die Messe lesen? Ein Pragmatismus von geradezu bemerkenswerter Abgefucktheit. Und falls Muser wirklich einfach keinen Bock darauf hatte, sich dazu zu beraten, hätte, wie gesagt, ein Blick ins Gutachten genügt, um die einzig praktikable Lösung aufzuzeigen und ihm jede Menge Ärger zu ersparen, den er nun zu Recht am Hals hat: Enttäuschung und Wut der Bevölkerung (auch kirchlicher Mitarbeiter) über sein unverständliches Vorgehen, berechtigte Rücktrittsforderungen, den vermittelten Eindruck, dass sich in der Kirche nichts, aber auch gar nichts geändert habe. 

    „Der weitere Einsatz des Priesters in der Seelsorge zeigt nach Auffassung der Berichterstatter, dass der Bischof den kirchlichen und priesterlichen Interessen deutlich den Vorrang gegenüber den Belangen der Betroffenen eingeräumt hat“, so schreiben die Gutachter über einen Fall unter Bischof Willhelm Egger. Dieser Satz ist nun eins zu eins auch auf Bischof Muser anwendbar, wobei: Nicht ganz. Denn Muser hat nicht im Interesse der Kirche gehandelt, im Gegenteil: Er hat ihr durch seine Fehlentscheidung großen Schaden zugefügt.