Kultur | Ausstellung

Die Zukunft kann nur den Gespenstern gehören

Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeiten Rossella Biscottis sind die Trümmer, der Abfall der Geschichte.

„Es begann mit dem Wunsch, mit den Toten zu sprechen. (...) Gewiß, ich hörte stets nur meine eigene Stimme, aber meine Stimme war zugleich die Stimme der Toten, insofern es den Toten gelungen war, Textspuren von sich selbst zu hinterlassen.“ (Stephen Greenblatt)

Ihre Werke erzählen Geschichten der Unterdrückung, der Gewalt und des Widerstands. Wenn Rossella Biscotti in der Vergangenheit gräbt, fördert sie Unaufgearbeitetes zu Tage. In der von Letizia Ragaglia kuratierten Einzelausstellung im Museion zeigt die junge Künstlerin neue Arbeiten, die an bestehende Werke anknüpfen. Wie etwa die aus Acrylharz gegossenen und zerstückelten Abdrücke der fünf Bronzeköpfe von Vittorio Emanuele III und Benito Mussolini, die für die 1942 geplante und dann abgesagte Weltausstellung in Rom angefertigt wurden.

Rossella Biscotti, Le Teste in Oggetto, 2014. Installation view at Museion, 2015 courtesy of the artist and Museion. Foto Luca Meneghel

 

In der Passage des Museions hängen zwei Fotografien: eine schwarzweiß, eine farbig. Die Drucke sind Teil der Arbeit „Note su Zeret“, in der Biscotti ein Kapitel italienischer Kolonialgeschichte buchstäblich ans Licht holt. Die versprengten Notizen erzählen von einer Reise auf den Spuren äthiopischer Widerstandskämpfer, die 1939 von italienischen Kolonialtruppen massakriert wurden. Zusammen mit einigen Ortskundigen hat die Künstlerin eine dunkle Grotte in Zeret aufgesucht, um dort mit der Kamera zu dokumentieren, was heute noch von der Gräueltat zeugt. Knochen werden ausgegraben, zwischen Fingern hin und her gedreht, vor die Linse gehalten, gesäubert und sortiert, um dann bestattet zu werden. Den Toten Gerechtigkeit zukommen zu lassen - eine schöne Utopie - scheint ein Antrieb für Biscottis künstlerische Arbeit zu sein. Als Archäologin und gleichsam Engel der Geschichte „der wohl verweilen möchte, die Toten wecken, und das Zerschlagene zusammenfügen“[1], bringt sie Scherben, Kleiderfetzen und menschlichen Überreste zum Sprechen. Stets bleiben die Erzählungen jedoch fragmentarisch, um eine einheitliche Vorstellung von Geschichte zu unterlaufen.

Rossella Biscotti, Note su Zeret, Museion Passage, 2015. Courtesy of the artist. Foto Luca Meneghel

 

So auch in der Arbeit „L’ ergastolo di Santo Stefano“ 2012-2014. Im kurzen Moment ihres Verschwindens blitzt hier die Vergangenheit auf: in den drei- bis vierminütigen auf Super 8 gedrehten Filmen, die über mehrere im Ausstellungsraum verteilte Monitore flimmern. Eine Gruppe von Menschen in einem Boot. Am Horizont eine Insel. In der gleisenden Sonne wandern sie zwischen blühenden Oleandersträuchen, fotografieren und diskutieren. Auf den Gräbern eines verwahrlosten Friedhofs pflanzen sie Blumen und Kakteen. Namensschilder werden an dürftig zusammengezimmerten Holzkreuzen angebracht. Auch hier wechseln sich Farb- und Schwarzweißaufnahmen ab und evozieren Zeitsprünge, oder zumindest eine kurze Irritation über den Entstehungsmoment des Materials. Das Filmkorn trägt seinen Teil zur manchmal fast schon verklärt anmutenden Atmosphäre bei. Es folgen Bilder einer Zelle und des Innenhofs eines verlassenen Gefängnisses.

Rossella Biscotti, L’ergastolo di Santo Stefano, 2011. Installation view at Museion, 2015. Courtesy of the artist and Wilfried Lentz Rotterdam. Foto Luca Meneghel

 

1793 wurde auf der Insel Santo Stefano im Golf von Gaeta das erste italienisches Gefängnis für lebenslange Haft gebaut. Der Architekt Francesco Carpi entwirft das Zuchthaus als Panoptikum, nach der Theorie des englischen Philosophen Jeremy Bentham. Die Bauweise - eigentlich für das Beaufsichtigen von Fabrikarbeitern entworfen - ermöglicht einen Strafvollzug mit totaler und ununterbrochener visueller Kontrolle der Häftlinge. Im Mittelpunkt des Panoptikums steht ein Beobachtungsturm, von welchem aus ein Wärter alles sieht, ohne selbst gesehen zu werden. In Anlehnung an dieses Konstruktionsprinzip entwickelte der französische Philosoph Michel Foucault im ausgehenden 20. Jahrhundert den Begriff des Panoptismus: „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“ Unabhängig von einer tatsächlich stattfindenden Überwachung diszipliniert sich das unter potenzieller Beobachtung stehende Individuum selbst, indem es sein Verhalten den Erwartungen anpasst.

Es sind historische, soziale und architektonischen Fragestellungen, die Biscotti in künstlerische Arbeiten und räumliche Situationen übersetzt. Sehr dünne, fragile Abdrücke der Böden des Gefängnisses von Santo Stefano liegen im Ausstellungsraum. Im Film wird der Entstehungsprozess dieser Abdrücke gezeigt. Auf martialische Art und Weise klopft und hämmert ein Mann auf den Boden - ein Verweis auf die Zwangsarbeit zu der viele Insassen verurteilt waren. So auch der Anarchist Gaetano Bresci, der 1900 König Umberto I. ermordete. Der wahrscheinlich bekannteste Häftling in Santo Stefano war der Sozialist Sandro Pertini, der 1929 wegen seines Widerstands gegen den Faschismus zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Rossella Biscotti, exhibition view, Museion, 2015. Foto Luca Meneghel

 

Biscottis Arbeiten sind politisch engagiert, machen komplexe gesellschaftspolitische Themen auf sinnliche Weise erfahrbar und aktualisieren sie. In vielen Momenten wünscht man sich als Besucher_in der Ausstellung gerade deshalb mehr Informationen und eine stärkere Kontextualisierung.

 

 

 

[1] Walter Benjamin, Werke und Nachlaß kritische Gesamtausgabe Band 19, Über den Begriff der Geschichte, HG. Gerard Raulet, Suhrkamp, Berlin 2010, S.98