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„Das Leben ins Sterben holen“

Veronika Kaserer wurde für ihren Film „Überall wo wir sind“ mit einem Spezialpreis der Berlinale 2018 ausgezeichnet. Ein Gespräch über Todesnähe im Dokumentarfilm.
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Foto: Daniel Seiffert

Salto.bz: Sie fokussieren in Ihrem auf der Berlinale preisgekrönten Film „Überall wo wir sind“ das Thema Krebs, begleiten dabei einen knapp 30jährigen Tänzer und beobachten seine Umgebung. Wieviel Todesnähe verträgt ein Dokumentarfilm?
Veronika Kaserer: Je näher wir in unserem Film Überall wo wir sind dem Tod kommen, desto näher kommen wir dem Leben und das ist es, worum es mir hauptsächlich geht, nämlich das Leben ein wenig mehr ins Sterben zu holen und im Umkehrschluss den Tod mehr zu einem Teil unseres Lebens zu machen.

Es geht im Film um den Umgang mit der Krankheit Krebs. Warum haben Sie einen Film dazu gemacht?
Im Film geht es hauptsächlich um das Thema der Trauer und wie eine Berliner Familie ganz individuell mit dem Ableben des geliebten Sohnes, Bruders und besten Freundes umgeht. Über dieses Thema können nie genug Filme gemacht werden, ich finde sogar, dass ein großer Diskussionsbedarf besteht. Der Andrang nach jeder der drei Vorstellungen auf der Berlinale war riesig, es kamen die unterschiedlichsten Menschen auf mich zu, auch um mir von ihrer persönlichen Geschichte zu erzählen. Trauer und Abschied wird oft tabuisiert und die Menschen, die sich in so einer Lebensphase befinden, werden unbeholfen behandelt oder gar geschnitten. Wir wissen nicht so recht, wie wir damit umgehen sollen. Wie gehe ich damit um, wenn meine beste Freundin, oder mein Partner, trauert? Dieser allgemeinen Hilflosigkeit können Filme entgegenwirken oder zumindest eine Diskussion entfachen, die sonst nicht entstehen würde. 

Trotz aller Tragik bietet der Film auch glückliche Momente. Wie hat die Kamera dazu beigetragen?
Kein Mensch trauert 24 Stunden am Tag, das ist einfach nicht möglich, und jeder, der so eine ähnliche Situation kennt, weiß, wie wertvoll es nicht nur für den Sterbenden, sondern auch für die, die bleiben ist, ab und zu eine lockere, heitere Situation zu kreieren, miteinander zu lachen oder fröhlich zu sein. Komik entsteht oft im Moment, und dann ist es gut, sich nicht „zusammenreißen“ zu müssen, sondern sich dem Moment hinzugeben. Peinlich ist nämlich gar nichts. Dazu muss meiner Meinung nach keine Kamera anwesend sein, die Situationen passieren auch so, einfach, weil sie zum Leben und zum Sterben dazu gehören.

Je näher der Film dem Tod kommt, desto stärker erzählt er vom Leben. Warum ist das so?
Es gibt wenige sehr „intensive“ Lebensphasen und meiner Meinung nach gehört das Abschiednehmen eines geliebten Menschen absolut dazu. Selten sind wir uns selbst so nah, selten spüren wir so viele unterschiedliche Gefühle in der vollen Bandbreite, selten wechseln sich starke Gefühle oft im Minutentakt ab. Eigentlich Triviales wird plötzlich bewusst wahrgenommen, in unserem Film z.B. wird die Begrüßung per Handschütteln thematisiert. Heiko’s bester Freund Alexander reflektiert darüber, wie vielen Menschen er bei der Arbeit tagtäglich die Hand schüttelt, und das auch sofort wieder vergisst. Doch wenn er Heiko besucht und ihm am Anfang und am Ende die Hand schüttelt, dann sind „das eine Trillion Impulse, so bewusst habe ich noch nie jemandem die Hand geschüttelt“.

Das Ringen um die richtigen Worte, gegenüber dem Todkranken, auch innerhalb der Beteiligten untereinander. Wie natürlich sind die Dialoge im Film?
Überall wo wir sind ist ein Dokumentarfilm, d.h., alle Dialoge im Film sind ohne mein Zutun, und ohne geschriebene Dialoge entstanden. Natürlich können solche intimen Szenen nur im Einvernehmen mit den Protagonisten entstehen. Dadurch, dass ich meistens alleine mit der Familie war, also ich neben der Regie auch hauptsächlich die Kamera- und Tonarbeit übernommen habe, wurde ich sehr schnell in die Familie aufgenommen und als Teil des Ganzen akzeptiert. Ich habe außer in expliziten Interviewsituationen nie eine Frage gestellt, bzw. nie irgendwelche Anweisungen gegeben, wo jemand sitzen sollte, oder wie jemand reden sollte. Vielmehr ging es mir darum, ruhig zu warten, manchmal auch einige Stunden lang, bis bestimmte Szenen von alleine entstehen, um dann im richtigen Moment zu drehen.

Der Film hat auch sehr befreiende Momente. Es wird Ski gefahren, mit dem Fallschirm gesprungen, getanzt…
So ist es doch auch im Leben, oder? Zur Tragik gehört auch Schönheit, zur Liebe gehört Hass und zum Leben gehört der Tod. Das ist für mich eine wertvolle Erkenntnis, die mir jeden Tag hilft, aus den Vollen zu schöpfen.

Manchmal vermengen sie atmosphärische Musik und lebendige Archivaufnahmen zu einer zeitlosen Erinnerung. Sie halten mit der Kunst den Tod am Leben?
Für mich spielt Musik eine große Rolle in meinem Leben, genauso für meinen Protagonisten Heiko Lekutat, der als Tanzlehrer gearbeitet hat. Ohne Musik wäre unser aller Leben trist und fade, und warum das nicht als filmisches Mittel verwenden? Es geht darum ein bestimmtes Lebensgefühl zu transportieren, eine Lebensfreude, die der Philosoph Alan Watts so schön beschreibt: Wir dachten, dass das Leben eine Reise sei, eine Pilgerreise, mit einem lohnenswerten Ziel am Ende. Und es ging darum, dieses Ende zu erreichen. Erfolg, oder was auch immer...vielleicht der "Himmel" nach dem Tod. Aber wir sind die ganze Zeit danebengelegen. Es war eine musikalische Sache, und du wärst aufgefordert gewesen zu singen oder zu tanzen, während die Musik spielte.