Nun steht alles still
Diesmal hat es uns direkt ins Herz getroffen. Wir spüren es in der Brust und befürchten nicht mehr richtig atmen zu können. Am Morgen räuspern wir uns, um herauszufinden, ob das Halskratzen von gestern noch da ist. Die Ereignisse sind mit einem solchen Tempo über uns hereingebrochen, dass die Worte, die wir dafür haben, kaum ausreichen und wir wiederholen sie: “Plötzlich,” “mit einem Schlag”, ”über Nacht…”.
In den letzten Jahrzehnten haben wir mit Interesse über die zunehmende Beschleunigung unserer Gesellschaft gelesen. Soziologen wie Hartmut Rosa haben unseren Alltag treffend beschrieben; da wir jedoch selbst in dem beschleunigtem Fahrzeug sassen, blieb unsere Wahrnehmung der Beschleunigung begrenzt. Das ist jetzt anders geworden und wir sind mit etwas Unerhörtem konfrontiert. Das Sterben hat sich beschleunigt, der Tod selbst ist “rasend” geworden. Heute vier, morgen acht, übermorgen sechzehn, in einer Woche zweihundersechsundfünfzig Särge, alle aus demselben hellen Holz gefertigt, reihen sich in der Kathedrale von Bergamo. Für so viele Särge ist innerhalb der Kirche zu wenig Platz, also setzt sich die Reihe auch draussen auf dem Platz fort. Kein Mensch steht bei den Särgen, kein gemeinsames Gebet, keine Rede, keine Umarmungen. Nur im Hintergrund sind einige Lastwagen des Militärs geparkt, welche die Särge aufladen und wegbringen werden. Keine auch noch so provokante Installation eines Aktionskünstlers könnte befremdlicher sein.
Das zu frühe Liebäugeln mit “nachher” ist gefährlich, nach Ausnahmezuständen mussten in jeder Epoche, in jeder Kultur immer zuerst die Toten begraben werden.
In der Stadt Bergamo wurde auf den Balkonen nicht gesungen und musiziert wie zu Anfang der Pandemie in anderen italienischen Städten. Es heulten nur die Sirenen der Rettungsfahrzeuge durch Tage und Nächte.
Ein Arzt aus Bergamo schreibt:
Ein Grossteil der Ärzte und Krankenpfleger haben den Übergang vom “Heilen” zum “Sich um jemanden Kümmern” innerlich noch nicht vollzogen. Deshalb fühlen sie sich emotional und professionell unzulänglich und leiden unter ihrer eigenen Ohnmacht, wobei sie in Wirklichkeit wunderbare Gesten den sterbenden Patienten gegenüber ausführen.
Alles das wäre noch irgendwie zu ertragen. Wogegen wir jedoch keinerlei psychische Immunkräfte entwickelt haben, ist das Wissen um die Einsamkeit, die das Sterben am Coronavirus mit sich bringt. Kein Angehöriger ist da, mit auf Kleinbildschirmen geschriebenen Sätzen müssen sich Enkel von Grosseltern für immer verabschieden. Und die Hinterbliebenen wissen, dass es oft ein qualvoller Tod ist aufgrund der Atemnot. Die aufgerissenen Augen unter den Schutzhelmen aus Glas erinnern an den verzweifelten Blick des jungen Arztes aus Wuhan, der als erster auf die Epidemie aufmerksam gemacht hatte und drei Wochen später verstorben war. An alldem ist keiner schuld und trotzdem wirkt etwas wie eine immense Schuld, an der wir teilhaben. Die Krankenpfleger und die Ärzte sind die ersten, die diesem irrationalen – und deshalb fast irreparablen – Schuldgefühl schutzlos ausgesetzt sind und von ihm überwältigt werden wie von einer atypischen Welle. Gibt es Unterstützung? Therapeuten haben Initiativen gegründet ([email protected]) und bieten dem Sanitätspersonal und dessen Angehörigen unentgeltliche Sitzungen an. Es wird bisher jedoch noch wenig in Anspruch genommen: Nach Zwölf-Stunden-Turnussen im Schwitzkasten der unzulänglichen Schutzanzüge wollen ein Arzt oder eine Krankenpflegerin vielleicht nur noch die Augen schliessen und schlafen. Es wird noch etwas dauern bis diese “Engel in weiss”, wie sie von Journalisten gerne bezeichnet werden, die Kraft haben werden, Unterstützung für sich selbst anzunehmen.
Wir sind durch die Pandemie auf globaler Ebene in eine Zukunft katapultiert worden, die wir lange Zeit vor uns hergeschoben hatten.
Die Einsamkeit des Sterbens ist jedoch nicht die einzige Schuld, die wir einem an Coronavirus verstorbenen Menschen gegenüber empfinden. Es gibt kein Volk auf der Erde, das keine Bestattungs- und Totenrituale entwickelt hat, in allen Kulturen werden Tote mehrere Tage lang aufgebahrt und von betenden Menschen begleitet. Niemals wird ein Toter alleingelassen, die Übergangszeit zwischen Tod und Bestattung wurde seit jeher rituell strukturiert. Wo Tote allein zurückgelassen wurden herrschten Ausnahmezustände wie Kriege oder Epidemien. Wenn die Menschen zu schnell sterben und wenn sich unbegleitete Leichname an ungeheiligten Orten häufen, dann werden archetypische, d.h. instinktiv verwurzelte menschliche Bedürfnisse nicht respektiert und das psychische Gleichgewicht der Einzelnen und das der Gemeinschaft ist in Gefahr.
Wir sind durch die Pandemie auf globaler Ebene in eine Zukunft katapultiert worden, die wir lange Zeit vor uns hergeschoben hatten. Hatten wir es nicht vorgezogen, Textnachrichten zu schreiben, als einen Freund zu Hause zu besuchen? Hatten wir in der Partnersuche nicht ein virtuelles Kennenlernen vorgezogen, um das Konterfei des Anderen jederzeit mit einer wischenden Handbewegung vom Bildschirm entfernen zu können? Hatten wir nicht bereits Kleinkinder zu Hause, im Auto und im Restaurant vor einen Kleinbildschirm gesetzt? Nun haben wir in alledem von einem Tag auf den anderen eine ungeahnte Perfektion erreicht: Es gibt kaum mehr sozialen Kontakt ohne Bildschirm zwischen uns und dem anderen: in der Schule, bei der Arbeit, der Austausch zwischen den Generationen, zwischen Arzt und Patient. Es scheint uns bereits ein Luxus, einem Menschen unmittelbar, ohne Kopfhörer und ohne Zeitverzögerungen in der Mimik in die Augen zu sehen und seine echte Stimme zu hören. Was gestern noch selbstverständlich war, könnte heute teuer erkauft werden müssen. Wir können nicht davon ausgehen, dass, wenn alles vorbei ist, sich wie von selbst eine Erneuerung anbahnt, dem Wachstum eines Waldes nach Waldbränden ähnlich. Das zu frühe Liebäugeln mit “nachher” ist gefährlich, nach Ausnahmezuständen mussten in jeder Epoche, in jeder Kultur immer zuerst die Toten begraben werden. Da wir jedoch weiterhin in der Beschleunigung leben, laufen wir Gefahr, auch das zu versäumen. Bisher haben wir noch nicht einmal begonnen die Tausende von Toten in einem kollektiven Ritual zu begleiten – und schon klagen wir über Langeweile. Die Zeit, in der wir leben, ist durch ihre eigene Beschleunigung schwer verwundet worden. Die aktuelle Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit trägt vielleicht dazu bei, uns dessen bewusst zu werden. Zur Heilung dieser verwundeten Zeit würde es gehören, dass wir uns der unzähligen durchtrennten Verbindungen gewahr würden, die unser Leben bestimmen. Und vor allem die wesentliche verlorenen Verbindung, die alles andere impliziert: die Verbindung und der Austausch zwischen den Lebenden und den Toten.
Keine auch noch so provokante Installation eines Aktionskünstlers könnte befremdlicher sein.
Hermes, der Gott mit geflügeltem Schuh, der Beschützer der Wege und Strassen, der Herr von Kommunikation und Veränderung, der unser Leben jahrzehntelang beeinflusst hat, ist im Februar 2020 am Höhepunkt seiner Macht plötzlich abgestürzt. Die globale Vernetztheit der Erde hätte für die Ausbreitung dieses Virus nicht besser vorbereitet sein können: Er konnte sein leicht replizierbares Erbgut in unendlicher Geschwindigkeit jedem noch so entfernten Menschen auf der Erde zukommen lassen. War dieses Erbgut für jemanden nützlich? Nein, aber die Ausbreitung war hoch effizient. Nun steht alles still. Die Beschränkungen, die wir uns nun auferlegt haben, um die Ansteckung zu vermeiden, stellen das Gegenteil dieser merkurialen Allgegenwärtigkeit dar, sie könnten als Nemesis wirken und im allerbesten Falle dazu imstande sein, die kollektive Beschleunigung in bestimmten Augenblicken zu entkoppeln. Dabei würden wir dann die Entdeckung machen, dass die Beschleunigung kaum anderes war als ein misslungener Versuch, den Tod vom Leben auszugrenzen. Der Tod sollte uns in unserer beschleunigtem Flucht möglichst nicht einholen können. Die Bilder der vor der Kirche aufgereihten Särge, die dann auf Militärfahrzeuge aufgeladen und weggebracht werden, sind nicht umsonst um die Welt gegangen, sie haben starken Symbolwert. Wir sähen sie sicherlich lieber als Kunstinstallation, wenn wir nicht wüssten, dass in jedem einzelnen Sarg ein Leichnam liegt, dessen Leben in völliger Einsamkeit zu Ende gegangen ist.
ein schöner, besinnlicher
ein schöner, besinnlicher aber auch schonungsloser Text;
Entblößung dessen, was war - und Mahnmal an jene, die es nicht erwarten können, auf die gleiche Art weiter zu machen.
salto.bz macht`s möglich in
salto.bz macht`s möglich in dieser Krisenzeit: Immer mehr Menschen beteiligen sich an salto.bz mit interessanten, niveauvollen Beiträgen und Gastkommentaren. Ein Dank an die Redaktion. Und immer mehr neue User schreiben Kommentare. Die steigende Vielfalt macht Freude in einer sonst eher freudlosen Zeit.
Ja, das hat Europa in der Tat
Ja, das hat Europa in der Tat:
WER bringt nun allerorts die landwirtschaftliche Ernte ein?
Niemand da!
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(einst hatten die anderen Kontinente die Überbevölkerung Europas aufgenommen - das ist also ein wiederkehrendes geübtes Muster der Spezies Mensch seit Anbeginn an).