„Vernehmlich sprich von Liebe“
Zu den Japangedichten von Niklaus Mazohl
Von Christine Riccabona
Die posthume Publikation An Izumi. Gedichte aus dem Nachlass, enthält eine Auswahl von 125 Gedichten aus der gleichnamigen unveröffentlichten Sammlung im Nachlass Niklaus Mazohls, dem letzten abgeschlossenen Werk des Autors. Dieser umfangreiche Gedichtzyklus beinhaltet in drei Teilen „507 Gedichte im elegischen Ton“, so der Untertitel der Sammlung, die in den 80er Jahren entstanden sein dürfte.
Handschriftliche Einträge, Entwürfe von Gedichten in Mazohls Notizbüchern und erste Abschriften lassen sich auf 1987 datieren. Im Nachlass gibt es drei maschinengeschriebene Fassungen der Sammlung: eine erste Version, die Mazohl später offensichtlich stark verändert, vor allem was die Anordnung der Gedichte betrifft, und stilistisch bearbeitet hat, sowie zwei weitere, die weitgehend identisch und mit eigenhändigen Korrekturen versehen sind. Die endgültige Überarbeitung war dem Autor in den folgenden Jahren nicht mehr möglich, zu sehr hatte sich sein Gesundheitszustand, er litt an Diabetes, verschlechtert. Der letzten Fassung des Typoskripts ist ein Blatt mit zusätzlichen, zumeist kleineren orthografischen Korrekturen von dritter Hand beigelegt, außerdem ein Manuskript, das die Komposition und den Hintergrund der Gedichte mit wenigen Sätzen erläutert. Mazohl erwähnt darin jedoch nicht und auch nirgends sonst, was ihn zu dieser lyrischen Arbeit bewegt hat, was den Impuls zu diesen Gedichten gab. Denn eine Besonderheit sind sie nicht nur im Kontext seiner Prosa und seiner Theatertexte, außergewöhnlich sind diese Gedichte auch in der Intensität ihrer Aussage sowie in ihrer Formstrenge, ihrer spröden Schönheit, die sich in erster Linie wohl dem tiefen Eindruck der meditativen, bildhaften Atmosphäre jener japanischen Texte verdankt, die Mazohl als einzige Quelle für seinen Gedichtzyklus nennt: das Tagebuch der Izumi Shikibu, das „Izumi shikibunikki“, das zahlreiche Tankas enthält. Max Ober, sein langjähriger Freund, Wegbegleiter und unermüdlicher Gesprächspartner in philosophischen und naturwissenschaftlichen Fragen, der darüber hinaus auch sein Hausarzt war, erwähnt in seinen Erinnerungen Mazohls Begeisterung für „ein Büchlein mit Gedichten dieser zarten Izumi“ .
Max Ober erinnert sich in Zusammenhang mit der Entstehung dieser Texte: „Viele Jahre schrieb er an seiner Gedichtsammlung, mir war das Glück geschenkt, diese Gedichte oft schon während ihres Entstehens lesen zu dürfen. Er zeigte sie mir, besprach sie mit mir, feilte und schliff daran, überarbeitete sie auch wieder, gestaltete sie um: tiefgründige, vorwiegend pessimistisch ausgerichtete Gedankengänge, klar treffend, realistisch, krud – und immer zutiefst betroffen machend.“
Einmal, so erzählt Max Ober , führte ein gemeinsamer Spaziergang hinauf auf den Ritten bei Bozen ins Atelier des Südtiroler Künstlers Ivo Rossi Sief. Mehr als hundert kleinformatige Blätter Aquarell seien dort ausgebreitet gewesen, die ein wiederkehrendes Thema in vielen Variationen durchspielten. Hier fand Mazohl, meint Max Ober, die formale Inspiration zu seinen „lose aufgereihten Gedichten“, (…) „die alle das gleiche sagen: daß wir alt sind und bald sterben werden, aber, in vielen Variationen, es alle anders sagen.“
Niklaus Mazohl war nie in Japan. Sein Wissen über Japan ist notwendigerweise eines aus zweiter Hand, stammt aus Büchern , ist vermittelt von Übersetzern und Japankennern. Einzelne Wörter wie etwa Shimenawa, Torii, Yoshino, Hinomaru, Yamauba notierte Mazohl kalligraphisch auf einen Briefumschlag, was vermuten lässt, dass er sich mit der Begriffs- und damit der Bedeutungswelt des Japanischen beschäftigte. Oder schulte er am fremden Klang der Sprache das für diese nach japanischem Vorbild komponierten Gedichte unablässige Silbengehör? Seine handschriftlichen Gedichte - spontan auf Notizblöcke, auf Briefumschläge und in Kalender notiert - zeigen seine Versuche, sich in jener formal disziplinierten Gedichtstruktur zu bewegen, die er für den Zyklus entwickelt hatte:
„Alle Gedichte in zwölf locker gehaltenen Versen mit Zeilensprüngen und hier und dort nicht ausgefeilten metrischen Unregelmäßigkeiten sind zweistrophig geordnet: eine Strophe ‚jambisch’, die andere ‚trochäisch’ oder umgekehrt. Die erste Strophe hat, als äußere Anlehnung, einunddreißig Silben wie das japanische Kurzgedicht Tanka (oder Waka), Izumis einzige Gedichtform.“
Die Gedichte entfalten ein Zwiegespräch eines lyrischen Ichs mit Izumi, ein Oszillieren der beiden Stimmen dieses Dialogs, in dem allerdings jedes Sprechen in ein stilisiertes Ritual verwandelt ist. Dieser fremde Ton des Sprechens in den Gedichten, ihr Klangkörper erinnert an das japanische No-Theater, jene fernöstliche Tradition des Maskenspiels, das auf klare, im Ausdruck konzentrierte Gesten, Gebärden und Tanzbewegungen reduziert ist. Das Dialogische bewirkt, dass die Gedichte trotz ihrer starken Bildhaftigkeit und theatralischen Kunstsprache eine Geschichte von Liebe und Tod erzählen und auch auf der Bühne gesprochen denkbar wären. Darin zeigt sich die Handschrift des Bühnenautors Klaus Mazohl.
Nicht nur die Form dieser Gedichte ist von der höfischen Dichtung des alten Japan inspiriert, Mazohl schöpft auch aus der japanischen Mythologie und ließ sich offenkundig inspirieren von Motiven und Symbolen japanischer Dichtkunst: der Mond, die Kirschblüten, der Baum, der Stein, die Chrysanthemen - die ins Bild gesetzten Erscheinungen der Natur dienen als Jahreszeitenwörter (‚kigo’). Im Japanischen werden sie nach Regeln der Tradition verwendet. Wie in der Natur der Wechsel der Jahreszeiten das unaufhörliche Vergehen der Zeit anzeigt, geben die Jahreszeitenwörter der langen Kette der Gedichte einen inneren Zusammenhang und assoziieren den Zyklus vom Werden und Sterben der Natur, des Menschen, alles Seienden.
Die Gedichte Mazohls lassen sich als eigenwillige Adaption der fernen Zeit und der fremden Welt des japanischen Altertums lesen, die sich ihm durch das Tagebuch Izumis und die darin erzählte Liebesgeschichte eröffnet hatte. Insbesondere der zweite Teil des Zyklus ‚Flucht des Eros und Umkehr’ erzählt, so Mazohl, „die Liebesbeziehung der Izumi Shikibu zum kaiserlichen Prinzen Atsumichi, welche drei Jahre, bis zu seinem Tod, gedauert hat und die beste Zeit im Leben der Dichterin gewesen ist. Trauer und Abstieg zum eigenen Ende erschließen sich aus ihrer Dichtung.“
Ich bin weitab
von deinem fernen Lied.
Doch laß mich silbenzählend ein
Gefühl versuchen jenes Tags,
den du gelebt hast.
Glänzend weiß war
das Papier, wohin der Pinsel
stieß im Augenblick, da früh gefallne
Kirschenblütenblätter
hell darüber flogen.
Trauer, die ich kenne,
stieg wie Nebelschatten in dir auf.
Über Izumi Shikibus Leben lässt sich kaum etwas historisch Haltbares berichten. Was über sie da und dort in Überlieferungen aufleuchtet, deutet jedoch ein bewegtes Leben an: Izumi Shikibu war die Tochter eines Hofbeamten der Kaiserin Shoshi, der sie jung vermählte. Nach dem Ort Izumi, wo sie mit diesem Mann wohnte, trägt sie ihren Namen. Izumi gebar eine Tochter, die sie früh verlor, und kehrte bald wieder zurück in die kaiserliche Hauptstadt Heian, das heutige Kyoto, wo sie am Hof der Kaiserin Akiko als verheiratete Frau skandalöse Liebesaffären mit den Prinzen hatte. Prinz Tametaka soll ihr bis zu seinem frühen Tod gänzlich erlegen sein. Nach einigen Monaten der Trauer warb Atsumichi, der jüngeren Halbbruder des Prinzen, um sie. Auch diese Liebe endete in Trauer, als sie ihn nach drei Jahren verlor. Als Nonne soll sie sich im Alter in die Einsamkeit zurückgezogen haben. Die Zeit, in der Izumi lebte, war die nach dem Sitz des Kaiserhauses genannte Heian-Periode (784-1192), eine relativ stabile Friedenszeit, die die Herausbildung einer verfeinerten höfischen Salonkultur begünstigte. Izumi zählte zu den bekanntesten Hofdichterinnen ihrer Zeit.
Sie war eine leidenschaftliche Dichterin, die mit rückhaltloser Offenheit ihre Liebe niederschrieb. Neben dem Tagebuch sind von ihr mehr als tausend Tankas bekannt. Das ästhetische Ideal, das die höfische Dichtkunst beherrschte, war das ‚mono no aware‘, das ‚Herzzerreißende der Dinge’, das Berührtsein durch das Schöne im Bewusstsein der Vergänglichkeit der Welt, das eng mit der fernöstlichen Religion des Shintoismus verbunden ist.
In Mazohls Gedichten ist dieses Bewusstsein allgegenwärtig, ist geradezu die thematische Unterströmung in jedem einzelnen der Texte.
Auch Heideggers „Sein und Zeit“ mag im Hintergrund zu denken sein in Versen wie diesen: „Und Blüten sahen wir / gegeben, Tiere uns zur Freude. / Bedachten nicht, daß sie / so fern wie hohe Sterne waren, / uns anverwandt im Sein zum Tode“. (S. 12) Bilder eines, wie Mazohl notiert, „immer notwendigen Untergangs“ allen Lebens, Motive aus dem Sinnbezirk des Sterbens halten den Strom der Gedichte im Innersten zusammen. Eines ist beispielsweise das wiederkehrende Motiv des ‚Staubs’. Zu Staub wird alles, im Staub ist alles enthalten, in ihm lagern die Spuren der Zeiten, Myriaden von gelebten Augenblicken: „Das Staubige verbindet uns. / Ein aufgewirbelt altes Sein / tief in den Mund geatmet / ist Erdgeschmack / mir von dem Leben, / das gestern zärtlich hier gewesen, / wie meines jetzt dich ruft.“ (S. 16) Mazohl verwendet das Motiv des Staubs auch in Anlehnung an den persischen Mathematiker und Dichter des 11. Jahrhunderts Omar Chaijam, der in seinen Liedern immer wieder das Gewahrsein des Augenblicks als Tor zur Gelassenheit mit dem Bild des Tonkrugs besingt, der aus dem Staub von Jahrtausenden besteht und doch den Wein des Augenblicks enthält: „Schon Staub warst du, / als Omar Chaijam hundert Krüge brach / zu der Metapher: Nichts! / Den Himmel sah ich leer. / Drum lebe heiter.“ (S. 6)
Zeit und Raum sind relativ in Mazohls Gedichten, das scheinbar Auseinanderstrebende berührt sich im ‚Unendlichen’, es öffnet sich der poetische Raum einer Begegnung, in dem sich ein Zwiegespräch mit Izumi über die Jahrtausende hinweg zu entfalten beginnt. Die Gedichte legen Maßstäbe durch das Erdreich der Zeiten, durch Schichtungen von tausend Jahren, in denen sich Spuren des Vergangenen auf die Gräber der Zeiten gelegt haben. Sie weisen zwar assoziierend in die Ferne, vertiefen aber in einer steten Gegenbewegung das Thema.
Setz ein Zeichen
in den Bambus.
Shimenawa trennend häng an
Zeitengrenzen auf. Der Weg ist
furchtbar weit. Und führt zu nichts.
Du auch beeile dich.
Ein roter Wind
schiebt giftig grünes Wolkenzeug
am Himmel hin.
Es gibt bald Sturm.
Nimm Schirm, nimm Hut.
Beachte Feuer.
„Die Silben festgefügt / ergeben frei das Sein“ (S. 9) - diese Begrenzung auf eine festgeschriebene Silbenzahl und die Anordnung der Zeilen fordert nichts weniger als die Präzision der Gedanken und die Kraft der Konzentration der im Sprachbild vermittelten Wahrnehmung. Was dabei entsteht, ist ein Echoraum der Stille, der Leere, des ‚Nichts’ hinter allem. Mazohl beschäftigte sich u. a. intensiv mit der Philosophie Arthur Schopenhauers. Dessen ‚Natur-Metaphysik’ findet Resonanz in seiner poetischen Fassung des Vergänglichen: Eine stete Abwärtsbewegung durchzieht die Gedichte, die veränderliche Natur wird dafür Sinnbild: "Sah im Bach das Wasser / abwärts fließen. Wußte / wohl, warum ich traurig wurde / unter Anemonen. Sah ein Sinnbild Lebens." (S. 24) Dass aller Lebensraum auf Todesgrund baut und in ihm wieder untergeht, die pessimistische Philosophie in der Färbung Schopenhauers, verlässt immer wieder und insbesondere im letzten Teil des Zyklus’ den metaphorischen Bildraum der Natur und holt schonungslos, vielleicht auch mahnend, den Kriegstod, das Töten, den aggressiven Macht- und Todestrieb ins Bild: "Gerüstet standen alle mit den Todmaschinen. Man wollte wehren, hieß es. Und wehrend ward zu Haufen dann getötet."
Die Vergänglichkeit allen Seins und die Gewalt, mit der sich der Tod in alles Leben drängt, bleibt das Unveränderliche. Das Immer-Wiederkehrende aber sind auch die ‚Liebenden’, die die „Dichterin des Erosleuchtens“ (S. 56) auch in unerfüllter, verlorener Sehnsucht zu beschwören vermag. Es ist diese Polarität von Eros und Thanatos, die in den Texten wie unabsichtlich in buddhistische Weltsichten mündet, diese da und dort aufleuchten lässt. „Ein Denker sprach / und sagte laut: Nichts weiter“ (S. 63) heißt es in einem der Gedichte und in einem anderen: „Denkbar, daß aus der Leere alles kommt?“ (S. 19) Schopenhauer, dessen Philosophie nicht unwesentlich durch den Buddhismus inspiriert war, schreibt in „Die Welt als Wille und Vorstellung“: „Erscheinung heißt Vorstellung, und weiter nichts: alle Vorstellung, welcher Art sie auch sei, alles Objekt, ist Erscheinung.“
Es scheint, dass Mazohl die immergleiche mäandernde Form der Gedichte geeignet schien, in ihrer wiederkehrenden Zentrierung die unauflösbare Verflochtenheit aller Existenz imKreis des ‚Werdens und Sterbens’ frei zu legen. In ihrer klaren Reduziertheit deuten sie eine Gegenlinie zur abendländischen Sicht des Todes an, ein anderes Sehen überhaupt: Dieses ‚Andere’ ist in der alten japanischen Naturreligion verwurzelt, im Shintō, jener vorbuddhistischen Weltsicht, in der das ‚Göttliche’ in der Natur und in allen Dingen ‚Erscheinung’ ist, die nur im Diesseits der gelebten Gegenwart, in jedem einzelnen Augenblick des Daseins, berührt werden kann.