„Das ist mir zu wenig“
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SALTO: Wie finden Sie persönlich den von vielen Menschen benutzten Sager „Total behindert“? Auch Ihr Buch – Sie stellen es heute am Welttag der Menschen mit Behinderungen erstmals vor –, macht mit diesem Sager auf ...
Mareike Sölch: Es war uns einfach wichtig, das Wort Behinderung zu entschärfen, weil es irgendwie die Idee gibt, dass Behinderung ein falscher oder beleidigender Begriff ist. Sowohl die Disability Studies als auch Aktivisten meinen allerdings, Behinderung ist genauso wie Beeinträchtigung ein neutraler Begriff. Es ist eigentlich eine Beschreibung. Ich spreche im ganzen Buch immer von Menschen mit Behinderung (oder Personen mit Behinderung, Frauen mit Behinderung...), weil ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir als Gesellschaft ohne Behinderung mehrheitlich diesen Begriff einfach wertfrei benutzen. Behinderung ist kein Schimpfwort.
Diesem Buch ist eine These vorangestellt: Inklusion ist in weiten Zügen eine gesellschaftliche Illusion.
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Woher rührt Ihr Interesse für das Thema?
Ich habe dieses Buch als Journalistin geschrieben, bin aber selbst Mutter eines Kindes mit Behinderung. Ich bin seit mittlerweile 13 Jahren mit dem Thema befasst, wobei ich auch schon bevor mein Sohn geboren worden ist, mit Menschen mit Behinderung gearbeitet habe. Das Thema war irgendwie immer Teil meines Lebens. Und ich habe diese Perspektive differenziert ins Buch eingebracht. Die erste Perspektive sind wirklich Menschen mit Behinderung. Angehörige sind für mich dann nochmal eine Extra-Perspektive, weil sie einfach nochmal aus einer anderen Sicht mit dem Thema in Verbindung stehen.
Wann kam die Idee zum Buch?
Eigentlich genau vor einem Jahr. Da bin ich noch in der Redaktion bei Rai Südtirol gesessen und habe das „Mittagsmagazin“ vorbereitet und die regionale wie internationale Berichterstattung zum Thema gelesen. Da habe ich festgestellt, dass quasi nie bis selten Menschen mit Behinderung gezeigt werden oder im O-Ton vorkommen. Wir hören oder sehen also fast nie die erste Perspektive. Da habe ich mir gedacht, das ist doch zu wenig. Das Thema Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft wird gern nur im Sozialbereich verankert, aber es betrifft alle Lebensbereiche, die uns als Menschen ohne Behinderung auch betreffen: Geld, Schule, Familie, Sexualität und Beziehung. Oder bei Fragestellungen: Wie lebe ich? Wie arbeite ich? Wo reise ich hin? Gründe ich eine Familie? Werde ich Mutter? Was betrifft die Väter? Das sind natürlich alles Themen, die auch Menschen mit Behinderung betreffen. Daraufhin habe ich den Verlag angeschrieben und vorgeschlagen, dass ich gerne dieses Thema anders erzählen würde.
Wie sind Sie an die vielen im Buch beschriebenen Menschen herangetreten?
Ich habe eine genaue Ideen gehabt, wie ich die Themenbereiche abdecken möchte, weil ich eben schon viel dazu gelesen habe. Teil des Buches ist beispielsweise auch ein Gespräch mit der Inklusionsberaterin Laura Gehlhaar. Ich habe auch private und neue Kontakte angeschrieben und gefragt: Hey, würdest du dich interviewen lassen? Ich wollte auch Menschen mit Trisomie 21 treffen oder Menschen mit einer Hörbehinderung. Und ich habe darauf geachtet, dass ich wirklich viele verschiedene Formen von Behinderung abdecke.
Das Nichtvorhandensein von Inklusion bedeutet folglich, dass Menschen mit Behinderung am Ende der Nahrungskette in der Gesellschaft stehen.
Wie ist das noch einmal speziell in Südtirol. Wie unterschiedlich gehen denn italienischer und deutscher Kulturraum mit diesem „gleichen“ gesellschaftlichen Thema um?Bzgl. der Sprachräume konnte ich nicht so große Unterschiede feststellen. Wir haben hier in Südtirol natürlich eine privilegierte Situation, indem wir die „inklusive Schule“ haben. Allerdings finde ich persönlich, dass die inklusive Schule manchmal auch ein bisschen als Vorwand benutzt wird. Ich habe diesem Thema ein ganzes Kapitel gewidmet und habe unter anderem recherchiert, dass plötzlich im Einvernehmen mit den Eltern Stundenpläne reduziert werden. Ich glaube, dass wir uns ein bisschen von der Illusion verabschieden müssen, dass wir super inklusiv sind. Weil, wo sind denn die ganzen Menschen mit Behinderung? Wo sind denn die Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt? Wo sind sie in unserem tagtäglichen Leben? Da gibt es schon Ausbaubedarf! Deswegen sollte man sich nicht einfach auf dem ausruhen, was es schon gibt, sondern man darf auch ansprechen, was noch möglich wäre.
Was ist eigentlich „normal“?
Es gibt so viele Formen des Menschseins, diese Frage hat sich bei mir relativ aufgelöst beim Schreiben. Ich habe auch Menschen ohne Behinderung für das Buch interviewt, also politische Verantwortliche, oder Menschen die für die Lebenshilfe arbeiten. Es geht doch eigentlich um Grundrechte, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Familie, das Recht am eigenen Körper, oder auf Unversehrtheit des Körpers, das Recht auf Privacy. Die Grundrechte müssen für jeden gelten. Ich glaube es ist wichtig, wenn wir über das Thema weiter reflektieren wollen – also inklusiv werden wollen oder uns auch so bezeichnen wollen als inklusive Gesellschaft –, dann ist es wichtig, dass man sich klar darüber ist, dass manchen Menschen die grundlegenden Rechte fehlen.
Vor einem Jahr nahm das Buchprojekt seinen Anfang. Am heutigen Welttag wird es vorgestellt. Wie wünschen Sie sich den Umgang mit dem Thema zum 3. Dezember 2025 hin?
Ich würde mir wünschen, dass wir darüber nachdenken, dass wir Menschen mit Behinderung nicht gleich behandeln, dass wir bestimmte Denkweisen erarbeiten und jeden Tag zum Thema etwas beisteuern können. Ich würde mir einfach auch mehr Offenheit wünschen und mehr Gedankenfreiheit zu diesem Thema.
ErstpräsentationAnlässlich des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen präsentiert Mareike Sölch ihr Buch „Total behindert. Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft“ (Edition Raetia) im Pastoralzentrum in Bozen. Um 19 Uhr.