Gesellschaft | Nachruf

Die fromme Helene

Zum Jahresende ist Helene Oberrauch gestorben. Sie war die Sekretärin.
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Foto: Pixabay

Auch Institutionen sterben. Zum Jahresende ist Helene Oberrauch gestorben. 86 Jahre alt ist sie geworden. Und sie war die Sekretärin. Der bestimmte Artikel ist notwendig, denn Helene Oberrauch war der Inbegriff von Sekretärin, fleischgewordenes Sekretariat in jener höchsten Ausformung von Bedeutung, den das Wort nur noch im Italienischen behalten hat: segretario generale, segretario di partito. Das mit Generalsekretär zu übersetzen oder Parteisekretär, ist Herabwürdigung. Der höchste Staatsbeamte ist der Ragioniere generale. Und Helene Oberrauch war beides: „Rag. Helene Oberrauch, Sekretärin“ stand auf ihrem Türschild, und gerufen wurde sie „Fräuln Oberrauch!“. Längst ist das unstatthaft, weil frauenfeindlich, aber sie hieß so, und sie sich selber auch so. Werde ich sie also doch nicht entnamen! Das „Fräuln“, es war ein Titel.

Helene Oberrauch war die Sekretärin von Landesrat Alfons Benedikter. Wie lang genau, das müsste im Archiv des Personalamtes nachgeprüft werden. Überlebende Benedikter-Mitarbeiter und Angehörige der Familie Benedikter sagen auf Nachfrage nur: seit immer. Das ist schwer möglich, aber sie war es lang, sehr lang und jedenfalls bis zuletzt. Das war, als Alfons Benedikter, der ehemals Allmächtige, im Spätherbst 1988 in einem mittleren, vom damals neuen Landeshauptmann Luis Durnwalder angezettelten Putsch aus der Landesregierung geworfen wurde. Mit dem Herrn ging auch seine Sekretärin. Und so wie aus der Landesverwaltung gingen sie bald auch aus der Partei. Beide, selbstverständlich. Dafür bedurfte es keiner Absprache. Denn wo er war, war sie, und wo er hinging, ging auch sie hin. Unverbrüchlich. 

War der Landesrat gefürchtet für seinen grimmen Nicht-Charme, trug die Sekretärin stets jenes Lächeln im Gesicht, für das sie berühmt wurde

Der Assessor und seine Sekretärin, das war einmal eine Großmacht. Inzwischen ist es Legende. Der Assessor heißt heute Landesrat, und die Sekretärin entspräche der persönlichen Referentin, im konkreten Fall von Helene Oberrauch vielleicht gar der Ressortdirektorin. Es gab den einen nicht ohne die andere, und das Verhältnis der Sekretärin zum Assessor nur loyal zu heißen, wäre verfälschend untertrieben. Fräulein Oberrauch hielt auf sich viel und auf den Assessor alles. „Der wirkliche Landeshauptmann ist ja der Assessor, der Magnago tut mehr nur repräsentieren.“ Für die Authentizität der Aussage verbürge ich mich persönlich. 

In der Tat lag Südtirols praktisches Regierungsgeschäft dreißig Jahre lang weitgehend in Händen des gestrengen Alfons Benedikter. Wer was brauchte, musste zum Alfons, und allenfalls im Rekursweg ging er zu Landeshauptmann Magnago. Und wer zu Alfons wollte, musste unweigerlich durch die Tür von Fräulein Oberrauch. Legendär ihre Strenge bei der Gewährung von Terminen: „Na, für dieses Jahr sieht’s schlecht aus. Wenn’s nächstes Jahr geht?“

Fräulein Oberrauch hatte die gleich gestrenge Dienstauffassung wie Alfons Benedikter, die gleiche unmenschliche Belastbarkeit, die gleich hohe Auffassung von sich selbst. Doch war der Landesrat gefürchtet für seinen grimmen Nicht-Charme, trug die Sekretärin stets jenes Lächeln im Gesicht, für das sie berühmt wurde. Mitarbeiter, Techniker, Bürgermeister, selbst Politikerkollegen, die Wilhelm Busch gelesen haben, spöttelten deshalb gern über „die fromme Helene“. In der Familie Benedikter hieß sie „das Landhaus-Lächeln“. War die Nachricht noch so schlimm, die „fromme Helene“ überbrachte sie mit ihrem ewig gleichen „Landhauslächeln“. Als einer der Benedikter-Buben einmal am Gardasee vom Surfbrett fiel und nach ihm gesucht wurde, stürzte Fräuln Oberrauch zum Chef ins Büro: „Herr Assessor, Ihr Sohn ist verschollen!“ Lächelnd. Es darf angenommen, Helene Oberrauch war nicht weniger im Haus Benedikter in Frangart als Hausherr Alfons selber. Wenn er da war, arbeitete er, und wenn er arbeitete, brauchte er „Fräuln Oberrauch!“ – zum Diktat. War er im Dienst, war sie es auch. Eigentlich immer. Oft, aber nicht immer, leitende Angestellte auch. An Heiligabend nur bis 5 Uhr. 

In ihrem Haus gegenüber der verachteten SVP-Zentrale führte Helene Oberrauch bis zuletzt ein bescheidenes Bed&Breakfast

Trennung von amtlich und privat – ach was, gab es nicht. Das Bisschen an Vaterpflichten, dessen das Arbeitstier Benedikter sich schuldig fühlte, erledigte Fräuln Oberrauch. Wenn es im Verhältnis Alfons-Helene Verrat gab, dann eindeutig von Seiten des Alfons. Als 1988 mit Luis Durnwalder die neue Zeit ins Land zog und der alte Zerberus der Autonomie in die Wüste geschickt wurde, da nahm dieser seine Getreue nicht mehr mit. Die SVP verließ sie, natürlich, aber in der Opposition war kein Platz mehr für „eine Sekretärin“. Einen Teil ihrer Benedikter-Loyalität übertrug Fräuln Oberrauch später auf Alfons jüngsten Sohn Armin. Dessen religiös-moralisches Engagement unterstützte sie offen, und jahrelang fuhr sie mit Armin nach Spinges, wo Pfarrer Josef Zieglauer die einzige für sie gültige Sonntagsmesse hielt, nämlich die nach dem tridentinischen Ritus. 

Auch dieses „Dienst“-Verhältnis ergab sich mit der Zeit. Pfarrer Zieglauer starb vor drei Jahren. In ihrem Haus an der Brennerstraße, gegenüber der verachteten SVP-Zentrale, führte Helene Oberrauch bis zu ihrer Erkrankung und dem Tod an Covid-19 ein bescheidenes Bed&Breakfast. Bis zuletzt politisierte sie gern. Über die Nachfolger ihres Herrn Assessors äußerte sie sich – mit einem Lächeln. 

Ich war selber einmal junger Angestellter unter Landesrat Benedikter, und somit unter Fräuln Oberrauch. Als ich bald einmal kündigte, brummte der Landesrat ein bisschen und meinte, das eine und andere hätte ich doch noch erledigen können. Es ergab sich ein längeres Gespräch, an dessen Ende ich sagte: „Herr Assessor, eigentlich brauchen Sie ja nur das Fräuln Oberrauch und den Herrn Gasser.“ Hermann Gasser war der Ausgeher. Alfons Benedikter schaute mich erschrocken an. Helene Oberrauch, wär sie anwesend gewesen, hätte: gelächelt. Viele Jahre später habe ich ihr die Episode erzählt. Sie erschrak nicht.