Gesellschaft | Werte

Werte in Zeiten des Umbruchs - Teil 4

Der erste Teil beschreibt politische Visionen und die Praxis der Politik. Dann beschäftigt sich Kardinal Ratzinger mit den moralischen Grundlagen eines freiheitlichen Staates und mit der Frage nach der Wahrheit. In dem nun abschließenden Kapitel geht er auf die geistigen Grundlagen Europas ein.
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Wir übersehen allzu gern, dass die kommunistischen Systeme mehr an ihrer Menschenverachtung, an ihrer Unterordnung der Moral unter die Bedürfnisse des Systems zugrunde gegangen sind, als an ihrer falschen ökonomischen Dogmatik. Die eigentliche Katastrophe, die sie hinterlassen haben, besteht in der Verwüstung der Seelen, in der Zerstörung des moralischen Bewusstseins, mehr als in den Folgen wirtschaftlicher Natur. Die Auflösung des Bewusstseins moralischer Werte ist noch immer unser Problem und kann zur Selbstzerstörung des europäischen Bewusstseins führen, die wir als eine reale Gefahr ins Auge fassen müssen.

Für die Väter der europäischen Einigung war es klar, dass es eine Identität Europas gibt und dass sie im christlichen Erbe unseres durch das Christentum gewordenen Kontinents besteht. Die Einigung Europas hat sich dann zunächst fast ausschließlich unter wirtschaftlichen Aspekten vollzogen, unter weitgehender Ausklammerung der fragen nach den geistigen Grundlagen einer solchen Gemeinschaft. Europa braucht, um zu überleben, eine neue Annahme seiner selbst. Die immer wieder geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem Absage an das Eigene, Flucht vor dem Eigenen. Aber Multikulturalität kann ohne gemeinsame Konstanten, ohne Richtpunkte des Eigenen nicht bestehen. Sie kann ganz sicher nicht ohne Ehrfurcht vor dem Heiligen bestehen. Zu ihr gehört es, dem Heiligen des anderen ehrfürchtig zu begegnen, aber dies können wir nur, wenn uns das Heilige selbst nicht fremd ist.

Es ging um eine europäische Identität, welche die nationalen Identitäten nicht leugnen, aber sie doch in einer höheren Gemeinsamkeit zu einer einzigen Völkergemeinschaft verbinden sollte. Die gemeinsame Geschichte sollte als Frieden stiftende Kraft aktiviert werden. Der Maßstab der Vernünftigkeit richtet sich nach dem Ziel der Steigerung der Lebensqualität für alle. Die Verfügung des Menschen über sich selbst schreitet voran. Der Mensch als Produkt aber lässt neue Zwänge entstehen. Es entscheiden letztlich diejenigen über das Geschick der übrigen Menschen, die über das fachliche Können verfügen und diejenigen, welche die Mittel verwalten. Der Schutz der besonderen Würde von Mann und Frau, auf der die Zukunft der Menschheit ruht, muss zu den ethischen Konstanten einer jeden humanen Gesellschaft zählen.

Der Verbrauch der Natur hat eine neue Besinnung in Gang gebracht über die Wegweisung, die von der Natur selbst ausgeht. Herrschaft über die Natur bedeutet nicht gewaltsame Ausnutzung, sondern das Verstehen der sorgsamen Form, in der der Mensch der Natur und die Natur dem Menschen dient. Die Wortmeldung des Gewissens gegen eine selbstzufriedenen Existenz ist dem Menschen so nötig, wie der körperliche Schmerz als Signal der Störung. Wer nicht mehr fähig ist, Schuld zu sehen, ist seelisch krank. Der Begriff Wahrheit ist heute generell aufgegeben und durch den des Fortschritts ersetzt worden. Der Fortschritt selbst ist die Wahrheit. Dadurch aber wird er richtungslos und hebt sich selbst auf.