Film | Alpine Stillen

Auf allen Gipfeln

Das Projekt „Silenzi in Quota“ wurde im vergangen Oktober mit einem der John Connell Soundscape Awards ausgezeichnet. Auf der Suche nach Stillen im alpinen Raum.
Silenzi in Quota, Drei Zinnen Lavaredo
Foto: Silenzi in Quota/Mario Pedron
  • Ein Team unter der Leitung von Simone Torresin, Forscher am Institut für „Ingegneria Civile, Ambientale e Meccanica“ der Universität Trient, mit Giacomo Gozzi, Musiker und Student ebendort, sowie mit Tin Oberman, Forscher am University College London und Fotograph Mario Pedron treiben ein thematisch breit aufgestelltes Multimedia- und Forschungsprojekt voran, dass mit einem der oft als „Noise Oscars“ bezeichneten Preise ausgezeichnet wurde. Es geht darum, Stillen im hochalpinen Raum zu suchen, finden und diese einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Was aber sind diese „Stillen“? Wir haben Torresin und Gozzi gesprochen.

  • John Connell Soundscape Award: Giacomo Gozzi (2. von links) und Simone Torresin (4. von links) nahmen den Preis am 25. Oktober im Londoner Palace of Westminster entgegen. Foto: John Connell Soundscape Award 2023

     

    SALTO: Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zur Verleihung des Preises. Herr Torresin, von John Cages Erfahrung im schalltoten Raum wissen wir, dass es für den Menschen keine absolute Stille gibt. Sie haben nach Stillen - Plural - in der Höhe gesucht. Was sind denn diese Stillen, wenn sie keine absolute Stille sind? 

     

  • Simone Torresin: Ich weiß es nicht wirklich, gute Frage. Ich werde versuchen, sie zu beantworten, auch auf die Gefahr hin, dass James mich korrigiert. Ich denke, es ist interessant, über Stille zu sprechen, weil wir über Soundlandschaften und nicht über Klänge sprechen. Eine Soundlandschaft ist etwas, das durch die Wahrnehmung eines Einzelnen entsteht, sodass derselbe akustische Kontext auf unterschiedliche Weise interpretiert wird. Je nachdem, wer wir sind, je nach unseren Erwartungen ist die Soundlandschaft eine andere. Was wir eigentlich suchen, ist der Kontrast zur Stille, also eine Geräuschkulisse, die wir in großer Höhe vorfinden.

     

    Um welche Art von Geräuschen handelt es sich dabei auf der Ebene einzelner Elemente? Sind das Geräusche, die natürlich vorkommen, oder sind es störende menschliche Elemente?

     

    Torresin: Nun, wir sprechen über beides. Bei unseren Soundwalks versuchen wir, Abstufungen, eine Vielfalt von Klängen und Geräuschen zu haben. An allen Orten suchen wir aber nach einer Komponente, die, sagen wir mal, anthropologischer Natur ist. Wir sind in der Region Trentino-Südtirol aktiv, diese Initiative geht aber auch von der Beobachtung aus, wie diese Landschaften, die visuell schön sind, sehr oft akustisch durch den Tourismus beeinträchtigt werden. Bei all diesen Soundwalks gibt es also eine menschliche Komponente, die mit dem Tourismus zusammenhängt, sei es durch den Verkehr, die Skilifte oder das Gedränge der Touristen an den Ufern des Pragser Wildsees etwa, um nur einige Beispiele zu nennen. Es gibt aber auch Bereiche, die vom Tourismus eher abgeschirmt sind, wo man noch das Rauschen des Windes, das Wasser des Baches, die Laute der Tiere hören oder die, sagen wir mal absolute Stille genießen kann, wenn es sie denn gibt. 

  • Silenzi in Quota: Über sogenannte Soundwalks, also Klangspaziergänge möchte man ein möglichst breites Publikum für den Themenkomplex Lärm und Lärmbelastung im alpinen Raum sensibilisieren. Hier mit Blick auf die Drei Zinnen. Foto: Silenzi in Quota/Mario Pedron
  • Bis zu einem gewissen Punkt, sind diese Lärmbelästigungen unvermeidlich, wenn wir an die Berggipfel denken, die wir entlang der Autobahn sehen… resignieren und in Kauf nehmen, dass dieser Lärm immer weiter zunimmt, sollte man aber auch nicht, oder?

     

    Torresin: Ja. Die Initiative fing eigentlich ohne die Soundwalks in der Höhe an und ging vor allem von Giacomo (Gozzi), Mario (Pedron) und anderen Jungs aus dem Trentino aus. Aber von Bedeutung ist, wie Sie sagen, dass es natürlich ein Problem gibt, das nicht unbedingt gelöst werden kann. Es ist wichtig, den Lärm zu messen, denn nur wenn wir ihn messen, können wir etwas verbessern und diese Verbesserung wiederum messen. Wir wissen, dass der Schallpegel uns Informationen liefert, aber die Wahrnehmung durch Menschen ist sehr viel komplexer. Wir haben auch Aufnahmen mit mehr oder weniger gleichem Dezibelpegel in Schottland gemacht, wie etwa auf den Drei Zinnen, um die 70 dB. War es in einem Fall ein schöner Wasserfall, so war es im anderen Fall der Trubel auf der Drei Zinnen. Die subjektive Wahrnehmung fällt bei gleichem Dezibelpegel völlig unterschiedlich aus.

    Wir versuchen also, diese Norm, die zur Messung der physischen und wahrgenommenen akustischen Umgebung in Städten entwickelt wurde, diese Methode für die Messung in alpinen Gebieten, insbesondere in unserer Nähe, anzupassen. Mit binauralen und monobinauralen Messungen, wie auch mit Tests wie Kopfhörern, die mit Mikrofonen auf beiden Ohren ausgestattet sind, um die Art und Weise zu simulieren, wie wir über diese beiden Kanäle hören. Wir lassen unsere Teilnehmer:innen Fragebögen ausfüllen, nachdem wir sie eingeladen haben, innezuhalten und zuzuhören, was wir viel zu selten tun.

    Darüber hinaus versuchen wir - und das ist die Forschungskomponente, die wir an der Universität Trient und am University College London verfolgen - die Daten zu verknüpfen und ein Modell zu erstellen, das die Wahrnehmung mit den physikalischen Daten korreliert. Und dann gibt es noch die Komponente des öffentlichen Engagements, der Sensibilisierung der Öffentlichkeit.

  • Silenzi in Quota: Das Projekt befasst sich mit dem Störfaktor Lärm bislang vor allem aus menschlicher Warte, soll zukünftig aber auch stärker als Umweltfaktor berücksichtigt werden. Foto: Silenzi in Quota/Mario Pedron

    Gestalten diese Komponente hauptsächlich Sie, Herr Gozzi?

     

    Giacomo Gozzi: Simone kümmert sich also mehr um die Forschungsseite, da er unter anderem Akustik-Ingenieur, ein Bergenthusiast und vieles mehr ist, während Mario und ich uns mehr um Videos und Multimedia-Inhalte kümmern. Simone ist auch über unseren Instagram-Account auf das Projekt aufmerksam geworden. Gerade aber durch die sozialen Medien ist es uns gelungen, unser Projekt bekannter zu machen, es einem breiteren, vorwiegend jungenPublikum zugänglich zu machen.

    Das Projekt begann also mit der Idee, einen Dokumentarfilm über Expeditionen in den hochalpinen Raum zu realisieren, die aus sportlicher Sicht natürlich nicht schwierig sind. Die Idee war, einen Dokumentarfilm über unsere Expedition zu acht Gipfeln in der Region zu drehen, wo wir nach schönen Landschaften suchen, aber eben auch nach Lärm. Angefangen hat alles also als Multimedia-Projekt und nicht als Forschungsprojekt.

  • Wie kam es zur Ausweitung des Projekts in die Forschung?

     

    Gozzi: Simone hat das Projekt dann mit seinem Wissen erweitert, so dass das Projekt definitiv einen wissenschaftlicheren Anstrich erhalten hat. Wir haben vor, 2024 als Teilnehmer am Filmfestival von Trient teilzunehmen. Zusammen mit unserem technischen Sponsor Montura werden wir auch eine eigene Vorführung im Rahmen des Festivals haben. Sollten wir das Trento Film Festival nicht gewinnen oder nicht für das offizielle Festival ausgewählt werden, wären wir trotzdem durch unseren technischen Sponsor vertreten.

    Und dann soll das Projekt natürlich auch an anderen Festivals teilnehmen können, wie das bei allen Dokumentar- oder Kurzfilmen der Fall ist, in dem Sinne, dass wir versuchen, den Film nach seiner Entstehung so weit wie möglich zu verbreiten. Das Hauptaugenmerk des Films liegt natürlich auf der Geschichte dessen, was wir tun, vor allem in den letzten zwei Jahren, soll heißen, die Geschichte der Soundwalks und wie wir uns der Öffentlichkeit genähert haben. Es geht auch darum, was wir mit den gesammelten Daten tun, um Kritik am Umgang mit diesem landschaftlichen Erbe und nicht nur. Es wird auch eine Reflexion darüber, was getan werden könnte, um einige Orte zu erhalten und andere zu verbessern, die bereits von einigen Politiken betroffen sind, die zu offen für den Tourismus sind und für einen Tourismus, der vielleicht nicht gesund für ein Gebiet ist.

  • Silenzi in Quota: Eine Dezibel-Messung alleine verrät nicht, wie laut oder störend ein bestimmter Klang wahrgenommen wird. Deshalb setzt man auch auf Fragebögen, die den Teilnehmer:innen der Soundwalks ausgehändigt werden. Foto: Silenzi in Quota/Mario Pedron

    Eine weitere Frage an Sie, Herr Gozzi: Sie sind sowohl als Student als auch als Musiker bei dem Projekt gelistet. Ist es für Sie eine logische Konsequenz, sich als Musiker mit Stillen zu beschäftigen, oder ist es eine ungewöhnliche Entscheidung? Wie leben Sie das?

     

    Gozzi: Für mich war es eine besondere Entscheidung, weil ich mich der Stille, den Umweltaufnahmen, genähert habe, während ich meine akademische Karriere am Konservatorium von Trient verfolgte. Ich habe meinen Abschluss in elektronischer Musik mit einer dreijährigen Arbeit namens „Silenzi in quota“ gemacht, einem Dokumentarfilm, und Multimediaprodukt, bei dem ich die Aufnahmen auf acht Bergen im Trentino leitete und einen Soundtrack zu diesen realisierte. Ich war also leidenschaftlich und fasziniert von einer Welt, die immer mehr Zulauf findet, nämlich die der Liebhaber von Fieldrecordings. Die Technologie ermöglicht es immer mehr Menschen, Zugang zu Instrumenten zu haben, die es erlauben, an jedem Ort, bei jeder Temperatur, vor allem aber auch in jeder Höhe Aufnahmen zu machen, was früher als man noch Tonbandgeräte oder andere Ausrüstungen besaß, sehr umständlich und auch logistisch schwierig zu handhaben war.

  • Ich schätze mich sehr glücklich, weil ich als Student sowohl an der Universität von Trient als auch am Konservatorium die Möglichkeit hatte, diese Ausrüstung zu bekommen, die ich mir als Privatperson natürlich nicht hätte leisten können. Also ja, es war eine ungewöhnliche Entscheidung, denn ich kannte unter meinen Kommilitonen und den Leuten in meinem Umfeld niemanden, zumindest bis ich Simone traf, der auf diesem Gebiet aktiv war. Durch Simone habe ich auch Gelehrte auf diesem Gebiet getroffen, ich kannte niemanden persönlich, der diese Art von Studium oder diese Art von Forschung betrieb, Natürlich hatte ich einen Professor am Konservatorium, der mich in dieses Gebiet einführte, aber es war nicht sein Fachgebiet.

     

    „Ich war also leidenschaftlich und fasziniert von einer Welt, die immer mehr Zulauf findet, nämlich die der Liebhaber von Fieldrecordings. Die Technologie ermöglicht es immer mehr Menschen, Zugang zu Instrumenten zu haben, die es erlauben, an jedem Ort, bei jeder Temperatur, vor allem aber auch in jeder Höhe Aufnahmen zu machen...“ (Gozzi)

     

    Wenn man von den Begriffen ‚paesaggio‘, ‚landscape‘ oder ‚Landschaft‘ spricht, kommt mir persönlich, wie wohl vielen anderen auch, als erstes ein visueller Eindruck in den Sinn. Ist Ihnen das auch aufgefallen, oder denken Sie schon akustisch an Landschaften?

     

    Torresin: Im Forschungsfeld für Soundscapes gehen wir von einem Standard aus, der seit den späten 1960er Jahren, alsRaymond Murray Schafer diesen Begriff einführte, sich in verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen Definitionen von Soundscapes entwickelt hat. Im Jahr 2014 kam der erste Standard heraus, der versucht, eine einheitliche Definition zu liefern, auch wenn es natürlich nie einen 100-prozentigen Konsens gibt. 

    Diese Definition geht genau vom Konzept der visuellen Landschaft aus und definiert die Soundscapes als die akustische Umgebung, das heißt die physische Umgebung, die durch die Linse der Wahrnehmung gefiltert wird. Dasist offensichtlich der relevante Kontext. So, wie die visuelle Landschaft die Wahrnehmung dessen ist, was wir sehen, ist die Klanglandschaft die Wahrnehmung dessen, was wir in einem gewissen Kontext hören. 

     

    „Es gibt aber auch eine Klangkomponente, die nicht oft auf Instagram gezeigt wird, die existiert und die die Art und Weise, wie wir diese Orte besuchen, stark beeinflussen kann.“ (Torresin)

     

    Welcher Kontext ist das in den Alpen, beziehungsweise in den Dolomiten?

     

    Torresin: Wenn wir über die Dolomiten sprechen, über Umgebungen, die vielfach fotografiert und auf Instagram gepostet werden, wollen wir nur unsere Hand heben und sagen: Ja, diese Umgebungen sind objektiv schön, sie gehören zum Teil auch zum Unesco-Erbe. Es gibt aber auch eine Klangkomponente, die nicht oft auf Instagram gezeigt wird, die existiert und die die Art und Weise, wie wir diese Orte besuchen, stark beeinflussen kann. Das gleiche gilt für die Leben derer, die dort leben, etwa die Tiere, sodass es auch eine Frage der Biodiversität gibt, die wir auch verstärkt inzukünftige Projekte auf europäischer Ebene einbeziehen möchten.

    Diese Initiative begann als Wochenendaktivität ohne Finanzierung, abgesehen von einer schottischen Initiative, die geringfügig finanziert wurde. Die Idee ist es, ein echtes Forschungsprojekt zu schreiben und auf europäischer Ebene durchzuführen. 

     

    Wenn unsere Leser diese „Stillen in der Höhe“ finden wollen, was wäre dann die nächste Möglichkeit, online oder persönlich? 

     

    Also, über unseren Instagram-Kanal und auf der Seite ‚Silenzi in quota‘, werden alle Soundwalks angekündigt. Sicherlich wird es bald neue geben. Mitte Dezember haben wir einen Walk auf der Seiser Alm gemacht, also mitten in der Skisaison. Die Idee des Dokumentarfilms, der auf dem Trento Film Festival gezeigt werden wird, ist es, einem noch breiteren Publikum diese Erfahrung des Zuhörens zu vermitteln. Es ist die Erfahrung, kontrastreiche Klanglandschaften im Zusammenhang zu dem zu haben, was wir in diesen sehr schönen Gegenden sehen. Auf der Ebene der wissenschaftlichen Forschung wird es auch Veröffentlichungen zu diesem Thema geben, die spezieller sind.